Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 II 89



92 II 89

15. Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. Juni 1966 i.S. Frey gegen Haas.
Regeste

    Art. 736 ZGB: Löschung einer (altrechtlichen) Grunddienstbarkeit wegen
Dahinfallens des Zweckes ihrer seinerzeitigen Begründung. Unzulässigkeit
ihrer Inanspruchnahme für einen andern als den ursprünglichen Zweck;
keine daherige Entschädigung für die Ablösung.

Sachverhalt

    A.- Frl. Lily Frey kaufte im Jahre 1962 das Grundstück N r. 25a im
Oberdorf der Gemeinde Urnäsch, bestehend in einem Stück Wiesland, das
nördlich der Teufenbergstrasse bis zu dem ca. 10 m höher liegenden Grat
ansteigt, der auf der andern Seite steil in eine Schlucht abfällt. Unter
einem Teil des Grundstücks befindet sich, zugänglich von der Strasse her,
ein in den Nagelfluhfelsen eingehauener Naturkeller von ca. 10 m Länge,
5 m Breite und 3 m Höhe. An der Hinterwand gegen die Schlucht befindet
sich ein Ventilationsloch. Bis zur Jahrhundertwende wurde dieser Keller
(von den Einheimischen auch "Eiskeller" genannt) zum Lagern von Jungbier
gebraucht, das in der Liegenschaft Nr. 21/22, Gasthaus zum Ochsen in
Urnäsch, gebraut wurde. Diese Nutzung des Felsenkellers haben folgende
Einträge im Servitutenprotokoll der Gemeinde Urnäsch zum Gegenstand:

    Bd I/324 zur Liegenschaft Nr. 25 (Lily Frey): "Im obern Teil hat
Karl Meyer zum Ochsen hart an der Grenze gegen den Rosenhügel, und an der
Teufenbergstrasse einen Felsenkeller mit unbedingtem Recht zur Aufbewahrung
des Lagerbiers."

    Bd I/330 zur Liegenschaft Nr. 21/22 (Ochsen): "Der bestehende
Bierkeller ist von seinem Besitzer jederzeit so zu unterhalten, dass das
ob demselben liegende Stück Wiesland ungehindert bearbeitet und betrieben
werden kann und zu jeder Zeit Mist oder Jauche ausgeführt werden kann. Der
bestehende Bierkeller darf ohne Bewilligung des Besitzers von Nr. 25 in
keiner Weise vergrössert werden."

    Gemäss Art. 205 des appenzell-ausserrhodischen EG/ZGB kommt
diesen Eintragungen bis zur Einführung des Grundbuches die beschränkte
Grundbuchwirkung nach Art. 48 SchlT/ZGB zu.

    Über Zeitpunkt, Form und Bedingungen der Begründung des Nutzungsrechts
ist nichts festgestellt.

    Als im "Ochsen" die Bierbrauerei eingestellt wurde, blieb der
Keller während Jahrzehnten unbenutzt. Der offene Zugang wurde erst auf
Beanstandungen der Vorsteherin des benachbarten Kinderheimes "Rosenhügel"
der Stadt Zürich mit einem Bretterverschlag verschlossen und dieser
im Jahre 1960 durch eine Eisentüre ersetzt. In der Folge begannen die
Wirtsleute zum "Ochsen", im Keller Mineralwasser, Apfelsaft, Flaschenbier
und Benzin in Fässern zu lagern.

    B.- Am 30. Januar 1964 reichte die Eigentümerin des belasteten
Grundstücks Nr. 25a, Frl. Frey, beim Bezirksgericht Hinterland gegen die
Eigentümerin der Liegenschaft zum "Ochsen", Frau Haas, Klage ein mit dem
Begehren, die Dienstbarkeit auf Benützung des Felsenkellers sei aufzuheben
und im Grundbuch zu löschen. Sie machte im wesentlichen geltend, dem
jeweiligen Eigentümer der Ochsenliegenschaften habe das dingliche Recht
zugestanden, im Keller Lagerbier aus der im "Ochsen" betriebenen Brauerei
aufzubewahren. Da die Brauerei im Jahre 1897 aufgegeben worden sei,
habe die Dienstbarkeit für das berechtigte Grundstück alles Interesse
verloren, sodass die Belastete gemäss Art. 736 Abs. 1 ZGB die Löschung
verlangen könne.

    Die Beklagte bestritt nicht, dass die Bierbrauerei seit Jahrzehnten
eingestellt worden sei, behauptete jedoch unter Hinweis auf den Wortlaut
der Einträge im Servitutenprotokoll, es handle sich um ein Bauwerk, an dem
ihr ein dingliches Baurecht im Sinne von Art. 779 ZGB zustehe, so dass
eine entschädigungslose Enteignung ohnehin nicht in Frage komme. Selbst
wenn man aber ein blosses dingliches Nutzungsrecht annehmen sollte,
wären die Voraussetzungen für eine Löschung nach Art. 736 ZGB nicht
gegeben. Es handle sich nämlich nur um eine Änderung der Bedürfnisse des
herrschenden Grundstücks im Rahmen der Dienstbarkeit: statt dass Jungbier
gelagert werde, diene der Keller nun zur Aufbewahrung von Mineralwasser,
Apfelsäften und Flaschenbier, ferner zur Lagerung von flüssigem Treibstoff,
weil die Beklagte Depothalterin der Brauerei Schützengarten und der
Mosterei Egnach sei und die Getränke mit Motorfahrzeugen vertreibe.

    C.- Im Verlaufe des Prozesses trat anstelle der verstorbenen Beklagten
deren Sohn Leonhard Haas als Rechtsnachfolger in den Prozess ein.

    D.- Das Bezirksgericht Hinterland schützte die Klage und ordnete die
Löschung der Dienstbarkeit an.

    In teilweiser Gutheissung der Appellation des Beklagten hat das
Obergericht des Kantons Appenzell A.Rh., II. Abteilung, mit Urteil
vom 26. Oktober 1965 die Löschung der Dienstbarkeit nur gegen eine
Entschädigung von Fr. 4800.-- gestattet. Die Erwägungen des Obergerichts
gehen zusammengefasst dahin:

    Obwohl die Dienstbarkeit vor Inkrafttreten des ZGB begründet worden
sei, müsse nach Art. 17 Abs. 2 SchlT/ZGB ihr Inhalt nach den Grundsätzen
des neuen Rechts (Art. 738 ZGB) ermittelt werden, also in erster Linie
nach dem Eintrag; nur soweit dieser undeutlich oder unvollständig sei,
kämen die dem früheren Recht unterstehenden Belege über den Erwerbsgrund
in Betracht (BGE 88 II 271). Das frühere kantonale Recht gebe nun
aber über die Frage, ob seinerzeit ein Baurecht oder ein blosses
dingliches Nutzungsrecht begründet worden sei, keine Auskunft. Diese
Frage könne indessen überhaupt offen gelassen werden, da sie nicht
prozessentscheidend sei; denn Art. 736 Abs. 1 ZGB über die Ablösung von
Dienstbarkeiten gelte auch für Baurechte. Man könne nun nicht sagen,
der Beklagte habe gar kein Interesse mehr an der Dienstbarkeit. Im Laufe
der Zeit seien anstelle von Jungbier andere Getränke wie Flaschenbier,
Mineralwasser und Apfelsaft im Felsenkeller eingelagert worden. Das
bedeute eine durch die modernen Konsumgewohnheiten bedingte Änderung der
Nutzungsbedürfnisse des herrschenden Grundstücks, die sich noch im Rahmen
des Dienstbarkeitsinhaltes halte, während dies für die Lagerung etwa von
Wein, Obst und Brennstoffen nicht zutreffe. Freilich sei das Interesse
des Beklagten an der Lagerung von Getränken gegenüber dem Interesse
der Klägerin auf Benutzung des Landes zum Bau eines Ferienhauses von
unverhältnismässig geringer Bedeutung, so dass die Dienstbarkeit gemäss
Art. 736 Abs. 2 ZGB gegen Bezahlung einer Entschädigung abgelöst werden
könne. Der Minderwert, den das berechtigte Grundstück durch den Hinfall der
Dienstbarkeit erleide, entspreche dem Lagerwert solcher Räume von Fr. 20.-
im Monat = Fr. 240.-- im Jahr, was zu 5% kapitalisiert Fr. 4800.-- ergebe.

    E.- Gegen dieses Urteil richtet sich die vorliegende Berufung
der Klägerin mit dem Antrag auf gänzliche Gutheissung der Klage, also
entschädigungslose Löschung der Dienstbarkeit.

    F.- Der Beklagte beantragt, auf die Berufung sei mangels Streitwertes
nicht einzutreten, eventuell sie sei abzuweisen. und verlangt mit
Anschlussberufung gänzliche Abweisung der Klage.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Streitwert gegeben).

Erwägung 2

    2.- Der Inhalt der vorliegenden Dienstbarkeit ist weder durch das alte
Recht - wie die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt
hat - noch durch das ZGB bestimmt. Da es sich somit nicht um eine sog.
gesetzliche Dienstbarkeit handelt, ist ihr Inhalt nach den Regeln des Art.
738 ZGB zu ermitteln (vgl. dazu LIVER, N. 56 ff. zu Art. 738 ZGB). In
erster Linie ist demgemäss auf die Einträge im Servitutenprotokoll
abzustellen. Danach steht fest, dass dem jeweiligen Eigentümer der
Ochsenliegenschaften das dingliche Recht zusteht, im Felsenkeller
des Grundstücks Nr. 25a Lagerbier aufzubewahren. Die Vorinstanz hat
in für das Bundesgericht verbindlicher Weise festgestellt, dass diese
Dienstbarkeit im Zusammenhang mit dem Umstand begründet wurde, dass in der
Ochsenliegenschaft bis um die Jahrhundertwende Bier gebraut wurde. Daraus
ergibt sich, dass der Felsenkeller als Teil der Einrichtungen, die dem
Eigentümer der Brauerei zur Herstellung des Biers dienten, betrachtet
werden muss. Bekanntlich muss bei der Bierbrauerei, nachdem die Hauptgärung
des Bieres nach 8 - 10 Tagen beendet ist, das Jungbier in Lagerfässern bei
einer Temperatur von 0 - 2o während 6 - 8 Wochen gelagert werden, wo es
reifen und sich klären kann. Nach Ablauf dieser sog. Nachgärung wird es
trinkbar. Damit erklärt sich auch die von der Vorinstanz festgestellte
Tatsache, dass der Keller während Jahrzehnten nicht benützt wurde,
nachdem die Bierbrauerei vom damaligen Eigentümer der Ochsenliegenschaft
aufgegeben worden war. Weiter folgt daraus, dass dem Berechtigten das
Recht zur Benützung des Felsenkellers nur zu einem ganz bestimmten Zweck
eingeräumt worden war, nämlich zur Lagerung zwecks Nachgärung des in
seinem Betrieb gebrauten Jungbiers, und nicht etwa allgemein zum Lagern
von Waren seines Betriebes.

    Nach Art. 738 Abs. 2 ZGB kann sich "im Rahmen des Eintrags" eine
Präzisierung des Inhalts einer Dienstbarkeit aus dem Erwerbsgrund,
dem Errichtungsvertrag, ergeben. Ein schriftlicher Erwerbstitel
liegt hier nicht vor. Es braucht daher nicht geprüft zu werden, nach
welchen Grundsätzen ein solcher, unter dem alten Recht errichteter Titel
ausgelegt werden müsste und ob daraus allenfalls abgeleitet werden dürfte,
das Benützungsrecht erstrecke sich über den Wortlaut des Eintrags im
Servitutenprotokoll hinaus auch auf das Lagern anderer Waren als Jungbier
zur Nachgärung.

Erwägung 3

    3.- Gemäss Art. 736 Abs. 1 ZGB kann der Belastete die Löschung der
Dienstbarkeit verlangen, wenn sie für das berechtigte Grundstück alles
Interesse verloren hat. Diese Bestimmung ist auch auf sog. altrechtliche
Dienstbarkeiten anzuwenden (BGE 91 II 194 mit Hinweisen). Nachdem das
Bundesgericht in dieser Ablösungsmöglichkeit lange einen Anwendungsfall
des Art. 2 ZGB - Verhütung eines Rechtsmissbrauchs (BGE 66 II 246/47) -
oder der clausula rebus sic stantibus (BGE 89 II 376 unten) erblickt und
an die in Art. 736 geforderten Voraussetzungen einen strengen Masstab
angelegt hatte (66 II 246 unten), ist es in dem - bereits zitierten -
neuesten Urteil unter Bezugnahme auf die namentlich von LIVER (Komm. zu
Art. 736 N. 48 - 52; ZbJV 1964 [100] S. 467) an der früheren Auffassung
geübte Kritik davon abgerückt und hat die Gesichtspunkte für die Anwendung
des Art. 736 dahin zusammengefasst, der Richter habe den Nutzen der
Dienstbarkeit für den Eigentümer des berechtigten Grundstückes zu würdigen,
indem er den Zweck ihrer Errichtung, ihren Inhalt und ihren Umfang in
Betracht ziehe (BGE 91 II 190 ff., bes. 194). An dieser zutreffenden
Auffassung ist festzuhalten.

    Für den vorliegenden Fall ergibt sich demzufolge auf Grund des in
Erw. 2 hievor Ausgeführten, dass der Zweck, zu dessen Erreichung die
Dienstbarkeit seinerzeit begründet worden ist - die Lagerung von auf der
Ochsenliegenschaft frisch gebrautem Jungbier zur Nachgärung -, mit der
endgültigen Einstellung der Brauerei auf dieser Liegenschaft dahingefallen
ist. Unter diesem Gesichtspunkt hat die Dienstbarkeit für das berechtigte
Grundstück alles Interesse verloren.

Erwägung 4

    4.- Die Vorinstanz hat die Auffassung vertreten, infolge der
veränderten Verhältnisse in den Konsumgewohnheiten sei anstelle des
ursprünglichen Zweckes ein anderer getreten, nämlich das Bedürfnis, andere
Getränke wie Flaschenbier, Mineralwasser und Apfelsaft zu lagern, weil der
Eigentümer der berechtigten Grundstücke Depothalter einer Bierbrauerei und
einer Mosterei sei. Nach allgemein anerkannten Grundsätzen richte sich
die Ausübung einer (ungemessenen) Dienstbarkeit nach den Bedürfnissen
des herrschenden Grundstücks. So werde z.B. das Befahren eines mit einem
Fahrwegrecht belasteten Grundstückes mit Motorfahrzeugen zugelassen,
obgleich bei der Begründung der Dienstbarkeit nur die Benützung mit
Pferdefuhrwerken in Frage gekommen sei.

    Das ist an sich richtig, nur wird dabei übersehen, dass es sich
im vorliegenden Fall nicht um eine gesteigerte Ausübung im Rahmen
des bisherigen Zweckes handelt, sondern um die Inanspruchnahme des
Dienstbarkeitsrechtes für einen neuen Zweck. Nun braucht aber der
Eigentümer des belasteten Grundstücks die Ausübung der Dienstbarkeit
zu einem andern Zweck als dem, für den sie begründet worden war, nicht
zuzulassen (LIVER, N. 27 zu Art. 737 ZGB; BGE 64 II 414 Erw. 2; 70 II
46 f.; 87 II 85 ff.; nicht veröffentl. Urteile des Bundesgerichts vom
13. November 1958 i.S. Gross c. Rindlisbacher; vom 18. Mai 1961 i.S. SBB
c. Zürrer). Diese Beschränkung hinsichtlich des Zweckes gilt auch unter
dem Gesichtspunkt der Aufhebung einer Dienstbarkeit nach Art. 736 Abs. 1
ZGB. Ein anderes Interesse des Dienstbarkeitsberechtigten als das des
Begründungszweckes der Dienstbarkeit schützt ihn nicht vor der Aufhebung
(vgl. LIVER, N. 58 - 63 zu Art. 736 ZGB).

    An dieser Betrachtungsweise vermag der Umstand nichts zu ändern, dass
der Beklagte bzw. sein Rechtsvorgänger seit etwa 1960 begonnen hat, den
während Jahrzehnten nicht verwendeten Keller zur Lagerung von Flaschenbier,
Mineralwasser und sogar Benzin in Fässern zu benutzen. Weder ist darin
im Sinne von Art. 738 Abs. 2 ZGB eine Benutzungsart zu erblicken, wie sie
"während längerer Zeit" ausgeübt worden ist, noch könnte die Benützung des
Kellers überhaupt "in den Rahmen des Eintrags" fallen, der ausdrücklich
auf die Bierbrauerei Bezug nimmt (Aufbewahrung von Lagerbier, d.h. Jungbier
aus der eigenen Brauerei).

    Daraus folgt, dass der Beklagte für den Verlust der Möglichkeit,
im Felsenkeller andere Waren aufzubewahren, keinen Anspruch auf eine
Entschädigung im Sinne von Art. 736 Abs. 2 ZGB hat.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, die Anschlussberufung abgewiesen
und Disp. 1 des Urteils des Obergerichts des Kantons Appenzell AR,
2. Abteilung, vom 26. Oktober 1965 insoweit aufgehoben, als es die Klägerin
verpflichtet, dem Beklagten eine Entschädigung zu bezahlen.