Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 II 250



92 II 250

38. Urteil der I. Zivilabteilung vom 15. November 1966 i.S. Zimmermann
gegen Helvetia-Unfall. Regeste

    Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung: Rückgriffsrecht des
Versicherers gegen den versicherten Fahrzeuglenker, der den Unfall
grobfahrlässigherbeigeführt hat (Art. 65 Abs. 3 SVG, Art. 14 Abs. 2
VVG). Begriff der groben Fahrlässigkeit. Fall des Fahrens mit einer in
Anbetracht der örtlichen Verhältnisse und der Sichtverhältnisse offenkundig
übersetzten Geschwindigkeit. Umfang des Rückgriffs.

Sachverhalt

    A.- Am Abend des 31. Oktober 1961 fuhr Zimmermann mit zwei
Mitarbeiterinnen in einem gemieteten Volkswagen von Olten durch die
Gösgerstrasse gegen Winznau; Ziel war Aarau. Bei der Überführung der
alten Hauenstein-Bahnlinie biegt die Strasse um einen massigen Pfeiler
der Bahnbrücke nach rechts. Infolge übersetzter Geschwindigkeit wurde
der Volkswagen vor dem Ende der Kurve mit den linken Rädern über die
Strassenmitte (Sicherheitslinie) hinausgetrieben. Da aus der Gegenrichtung
ein anderer Wagen (Simca, gelenkt von Peyer) nahte, schwenkte Zimmermann
schroff nach rechts. Der Volkswagen geriet deshalb vollends ins Schleudern.
Er drehte sich nach links, rutschte auf der linken Hälfte der Fahrbahn dem
Wagen Peyers entgegen, prallte mit seinem rechten hintern Kotflügel auf
dessen Stirnseite und blieb, auf seine rechte Seite gestürzt, am linken
Strassenrand liegen. Die beiden Mitfahrerinnen Zimmermanns wurden verletzt,
die eine von ihnen schwer. Beide Wagen wurden stark beschädigt.

    Das Amtsgericht Olten-Gösgen verurteilte Zimmermann am 12. Februar 1962
wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und fahrlässiger Störung des
öffentlichen Verkehrs zu einem Monat Gefängnis sowie zu einer Busse von Fr.
200.-- und gewährte ihm für die Freiheitsstrafe den bedingten Vollzug.

    Die Helvetia-Unfall, bei welcher der Halter des Volkswagens eine
Haftpflichtversicherung im Sinne von Art. 63 SVG abgeschlossen hatte,
zahlte auf Grund dieser Versicherung für Personen- und Sachschäden aus dem
Unfalle vom 31. Oktober 1961 bis zum 15. Juli 1964 insgesamt Fr. 54 986.10.

    B.- Am 9. Oktober 1964 klagte die Helvetia-Unfall gegen Zimmermann
beim Amtsgericht Olten-Gösgen unter Berufung auf das ihr nach Art.
65 Abs. 3 SVG in Verbindung mit Art. 14 VVG zustehende Rückgriffsrecht
auf Zahlung von Fr. 16 495.80 (30% der Versicherungsleistungen) nebst 5%
Zins seit 16. Oktober 1963 und Fr. 16.20 Kosten des am 16. Oktober 1963
zugestellten Zahlungsbefehls.

    Das Amtsgericht wies die Klage ab, weil nicht bewiesen sei, dass der
Beklagte das Schadenereignis im Sinne des Art. 14 Abs. 2 VVG grobfahrlässig
herbeigeführt habe.

    Das Obergericht des Kantons Solothurn dagegen verpflichtete den
Beklagten mit Urteil vom 25. November 1965, der Klägerin Fr. 8247.90
(15% der Versicherungsleistungen) nebst Zins und Betreibungskosten zu
bezahlen. Es nahm an, das Verhalten des Beklagten sei grobfahrlässig,
liege aber "eher gegen die untere Grenze der groben Fahrlässigkeit hin".

    C.- Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die Berufung an das
Bundesgericht erklärt mit dem Antrag auf Abweisung der Klage. Die Klägerin
hat sich der Berufung angeschlossen. Sie beantragt die Gutheissung ihres
Klagebegehrens.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 65 Abs. 3 SVG hat der Versicherer ein Rückgriffsrecht
gegen den Versicherungsnehmer oder den Versicherten, soweit er nach dem
Versicherungsvertrag oder nach dem VVG zur Ablehnung oder Kürzung seiner
Leistung befugt wäre. Nach Art. 14 Abs. 2 VVG hat der Versicherer, wenn der
Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das befürchtete Ereignis
grobfahrlässig herbeigeführt hat, das Recht, seine Leistung in einem
dem Grade des Verschuldens entsprechenden Verhältnisse zu kürzen. Hat
der Versicherungsnehmer oder der Anspruchsberechtigte das Ereignis
leichtfahrlässig herbeigeführt, so haftet der Versicherer nach Art. 14
Abs. 4 VVG in vollem Umfange. Art. 98 VVG bestimmt, diese Vorschrift
dürfe durch Vertragsabrede nicht zuungunsten des Versicherungsnehmers
oder des Anspruchsberechtigten abgeändert werden. Auch Art. 14 Abs. 2 VVG
darf daher vertraglich nicht in dem Sinne abgeändert werden, dass der
Versicherer berechtigt erklärt würde, seine Leistung auch bei leichter
Fahrlässigkeit zu kürzen. Dagegen ist es im Rahmen der Vertragsfreiheit
(Art. 19 OR, Art. 100 VVG) zulässig, Art. 14 Abs. 2 VVG zugunsten des
Versicherungsnehmers oder Anspruchsberechtigten abzuändern (Gegenschluss
aus Art. 98 VVG).

    Die Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung deckt gemäss Art. 63
Abs. 2 SVG neben der Haftpflicht des Halters auch jene der Personen,
für die der Halter nach dem SVG verantwortlich ist. Zu diesen Personen
gehört im vorliegenden Falle der Beklagte als Lenker des versicherten
Fahrzeugs. Der Beklagte ist also Versicherter im Sinne des Art. 65 Abs. 3
SVG und Anspruchsberechtigter im Sinne des Art. 14 VVG (vgl. BGE 91 II 232
lit. b). Der Versicherungsvertrag enthält keine Bestimmung, die den Art. 14
Abs. 2 VVG zugunsten des Versicherungsnehmers oder Anspruchsberechtigten
abändern, d.h. die hier vorgesehene Kürzungsmöglichkeit einschränken
würde. Vielmehr erwähnt Art. 18 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen,
der den Rückgriff der Gesellschaft in Übereinstimmung mit Art. 65 Abs. 3
SVG regelt, die grobfahrlässige Herbeiführung des Schadensereignisses als
einen Fall, in welchem die Gesellschaft ihre Leistung kürzen darf. Die
Klägerin ist demnach gegenüber dem Beklagten rückgriffsberechtigt, wenn er
das Schadensereignis im Sinne des Art. 14 VVG grobfahrlässig herbeigeführt
hat. Bei nur leichter Fahrlässigkeit kann die Klägerin dagegen nicht auf
ihn zurückgreifen.

Erwägung 2

    2.- Grob fahrlässig verhält sich nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtes, wer eine elementare Vorsichtspflicht verletzt, deren
Beachtung sich jedem verständigen Menschen in der gleichen Lage aufdrängt
(BGE 64 II 241 mit Hinweisen, 88 II 435).

    Der Beklagte ist der Meinung, im Versicherungsrecht dürfe nur ein "an
dolus streifendes Verhalten" als grob fahrlässig bezeichnet werden. Der
Begriff der groben Fahrlässigkeit sei hier enger zu fassen als im übrigen
Zivilrecht, weil der Versicherungsnehmer (der Prämien zahlt) auch gegen
die Folgen gelegentlicher Unaufmerksamkeit versichert sein solle. Als grob
fahrlässig könne im Versicherungsrecht nur eine andauernde und bewusste
Unvorsichtigkeit gelten, nicht auch "ein momentanes unbeabsichtigtes
Unterlassen einer Handlung".

    Art. 14 Abs. 2 VVG macht jedoch die Befugnis des Versicherers, seine
Leistung zu kürzen, nicht von einer besonders groben, an Vorsatz grenzenden
Fahrlässigkeit abhängig, sondern verwendet den allgemeinen Begriff
der groben Fahrlässigkeit. Indem er vorschreibt, bei grobfahrlässiger
Herbeiführung des befürchteten Ereignisses dürfe der Versicherer seine
Leistung "in einem dem Grade des Verschuldens entsprechenden Verhältnisse"
kürzen, setzt er voraus, dass eine Kürzung bei jedem Grade von grober
Fahrlässigkeit zulässig ist. Nur unter dieser Voraussetzung ist Raum für
eine Abstufung der Kürzung nach dem Verschuldensgrade.

    Die einschränkende Auslegung des Art. 14 Abs. 2 VVG, die der Beklagte
befürwortet, ist auch sachlich nicht gerechtfertigt. Richtig ist freilich,
dass die Versicherung, insbesondere die Haftpflichtversicherung, den
Versicherungsnehmer und den Anspruchsberechtigten in einem gewissen Masse
auch gegen die Folgen der eigenen Unvorsichtigkeit schützen soll. Es
ist jedoch nicht am Platze, aus diesem Grunde bei Unfällen, die durch
den Betrieb eines Motorfahrzeuges verursacht wurden, gegenüber dem
Schädiger, auf den der Haftpflichtversicherer gemäss Art. 65 Abs. 3 SVG
in Verbindung mit Art. 14 VVG zurückgreifen will, einen engern Begriff
der groben Fahrlässigkeit anzuwenden als gegenüber einem Geschädigten,
dem der nach Art. 58 Abs. 1 SVG grundsätzlich haftpflichtige Halter ein
grobes Selbstverschulden im Sinne des Art. 59 Abs. 1 SVG vorwirft. Das
Gesetz trägt dem erwähnten Zwecke der Versicherung in der Weise
Rechnung, dass grobe Fahrlässigkeit des Versicherungsnehmers oder des
Anspruchsberechtigten nur eine Kürzung der Versicherungsleistung zur Folge
hat, wogegen grobes Selbstverschulden des Geschädigten den Halter von
seiner Haftung befreit, sofern weder ein ihm anzurechnendes Verschulden
noch fehlerhafte Beschaffenheit des Fahrzeugs zum Unfall beigetragen hat
(Art. 59 Abs. 1 SVG). Den versicherten Schädiger darüber hinaus auch durch
Beschränkung des gesetzlichen Kürzungsrechtes des Versicherers auf Fälle
besonders grober, an Vorsatz grenzender Fahrlässigkeit zu begünstigen,
verbietet sich schon deswegen, weil dadurch bei gewissen Fahrzeuglenkern
der Wille zu einer vorsichtigen Fahrweise geschwächt und folglich die mit
dem Betrieb von Motorfahrzeugen verbundene Gefahr für Leben und Gesundheit
Dritter erhöht werden könnte (vgl. BGE 68 II 50/51).

    Unter den allgemeinen Begriff der groben Fahrlässigkeit, auf den
hienach bei der Anwendung von Art. 14 Abs. 2 VVG abzustellen ist, kann auch
ein unbewusstes und bloss vorübergehendes Ausserachtlassen der gebotenen
Vorsicht fallen (vgl. z.B. BGE 85 II 518 lit. a, 91 II 116 lit. b).

    Im vorliegenden Falle kannte der Beklagte die Stelle, wo der Unfall
sich ereignete, und die Gefahren, die dort zumal wegen des ein wenig
in die Fahrbahn vorspringenden und die Sicht verdeckenden Pfeilers der
Bahnüberführung drohen. Er benützte bei der Fahrt, die zum Unfall führte,
einen fremden Wagen. Ausserdem war bereits die Nacht hereingebrochen.
Gleichwohl fuhr er gemäss verbindlicher Feststellung des Obergerichtes
mit einer Geschwindigkeit von 75 Stundenkilometern in die fragliche
Strassenbiegung. Für jeden, der diese Stelle kennt, ist nach den
Feststellungen des - mit den örtlichen Verhältnissen vertrauten
- Obergerichtes offensichtlich, dass das Fahren mit einer solchen
Geschwindigkeit dort nicht zulässig, sondern höchst gefährlich ist. Dass
die Geschwindigkeit des Beklagten weit übersetzt war, wird dadurch
bestätigt, dass sein Wagen in der - nach dem Plan keineswegs scharfen,
sondern eher sanften - Biegung über die Mittellinie hinaus getrieben wurde,
obwohl die Strasse trocken war. Indem der Beklagte vor der Biegung nicht
bremste, sondern mit der erwähnten Geschwindigkeit weiterfuhr, hat er
also eine elementare Vorsichtspflicht verletzt, deren Beachtung sich
jedem vernünftigen Fahrzeuglenker aufdrängte. Der vom Obergericht als
bewiesen erachtete Umstand, dass ihm vor der Strassenbiegung ein anderer
Wagen entgegenkam und dass er deswegen seine Scheinwerfer abblenden
musste und durch die Abblendlichter des entgegenkommenden Wagens gestört
wurde, vermag hieran nichts zu ändern. Musste der Beklagte abblenden und
wurde er durch die Lichter des entgegenkommenden Wagens in seiner Sicht
beeinträchtigt, so hatte er seine Geschwindigkeit schon aus dem Grunde zu
mässigen, weil sie den Sichtverhältnissen nicht mehr angepasst war. Auch
das war ein elementares Gebot der Vorsicht, das jedem verständigen
Fahrer in seiner Lage einleuchten musste. Auf die Verletzung dieses
Gebotes ist es zurückzuführen, wenn der Beklagte infolge der Kreuzung
und der dadurch bedingten Störung der freien Sicht die zurückgelegte
Strecke unterschätzte und auf die Strassenbiegung erst so spät aufmerksam
wurde, dass es ihm nicht mehr möglich war, vor der Einfahrt in die Kurve
gehörig zu bremsen. Der Unfall ist also in jedem Falle auf eine grobe
Fahrlässigkeit des Beklagten zurückzuführen.

    Aus BGE 85 II 340, wo das Bundesgericht das Vorliegen einer groben
Fahrlässigkeit verneinte, kann der Beklagte nichts zu seinen Gunsten
ableiten. In jenem Falle hatte der Fahrzeuglenker nicht voraussehen können,
dass er auf der Dorfstrasse Glatteis antreffen werde. Dem Beklagten dagegen
waren die Verhältnisse, denen er seine Fahrweise anzupassen hatte, bekannt.

    Die Klägerin ist demnach gegenüber dem Beklagten zur Kürzung ihrer
Leistung bzw., nachdem sie die auf Grund von Art. 65 Abs. 1 SVG gegen
sie gerichteten Haftpflichtansprüche der Geschädigten befriedigt hat,
zum Rückgriff berechtigt.

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht hat den Rückgriff auf 15% der - unstreitig
Fr. 54 986.10 ausmachenden - Leistungen der Klägerin an die Geschädigten
bemessen, weil das Verschulden des Beklagten sich eher der untern Grenze
der groben Fahrlässigkeit nähere. Es stützte sich dabei auf die Erwägung,
das Verschulden des Beklagten werde durch die mit der Kreuzung verbundene
Störung etwas gemildert. Dieser Auffassung kann, wie bereits ausgeführt,
nicht beigestimmt werden. Dem Beklagten ist auch bei Berücksichtigung
der erwähnten Störung vorzuwerfen, krass unvorsichtig, ja verwegen in
die Strassenbiegung gefahren zu sein.

    Gegen die Auffassung des Obergerichtes, dass die Art. 43 und 44 OR
für die Bemessung der Kürzung bzw. des Rückgriffs nicht gelten, wendet
der Beklagte mit Recht nichts ein. Der Versicherer, der gemäss Art. 14
Abs. 2 VVG seine Leistung kürzen oder gemäss Art. 65 Abs. 3 SVG auf den
Versicherungsnehmer oder den Versicherten zurückgreifen will, macht nicht
einen Schadenersatzanspruch geltend, sondern der Streit geht der Sache
nach um die Festsetzung der vom Versicherer nach dem Versicherungsvertrag
geschuldeten Leistung (OFTINGER, Schweiz. Haftpflichtrecht, 2. A., II/2
S. 773). Selbst wenn es sich um einen Schadenersatzanspruch handeln
würde, wäre im übrigen Art. 44 Abs. 2 OR schon mit Rücksicht auf die
grobe Fahrlässigkeit des Beklagten nicht anwendbar.

    Unter diesen Umständen ist die Forderung der Klägerin, die das
Rückgriffsrecht für 30% ihrer Leistungen an die Geschädigten in Anspruch
nimmt, nicht übersetzt (vgl. BGE 68 II 46 ff., wo das Bundesgericht
den Rückgriff bei einem dem Grade nach ähnlichen Verschulden auf 331/3%
bemass).

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen, die Anschlussberufung gutgeheissen,
das Urteil des Obergerichtes des Kantons Solothurn vom 25. November 1965
aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, der Klägerin Fr. 16 495.80 nebst
5% Zins seit 16. Oktober 1963 und Fr. 16.20 Betreibungskosten zu bezahlen.