Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 I 399



91 I 399

64. Auszug aus dem Urteil vom 27. Oktober 1965 i.S. Guhl gegen
Meliorationsgenossenschaft Wehntal und Landwirtschaftsgericht des Kantons
Zürich. Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV gewährleistet dem Einzelnen die Freiheit, nur von
dem zuständigen Richter Recht nehmen zu müssen, und gibt ihm Anspruch auf
richtige Besetzung des Gerichts. Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts,
insbesondere hinsichtlich der Frage der Unabhängigkeit des urteilenden
Gerichts.

Sachverhalt

    Im Wehntal findet eine Güterzusammenlegung statt. Die Eigentümer von
Grundstücken im Zusammenlegungsgebiet bilden die Meliorationsgenossenschaft
Wehntal, eine öffentlichrechtliche Körperschaft des kantonalen
Rechts. Organe der Genossenschaft sind die Grundeigentümerversammlung,
der Vorstand (Ausführungskommission) und die Rechnungsrevisoren. Auf
Grund der Statuten der Genossenschaft vom 21. Dezember 1956 ernannte
die Grundeigentümerversammlung einen Ausschuss von 21 Mitgliedern
(Bonitierungskommission), dem die Schätzung der eingeworfenen Grundstücke
oblag. Obmann dieser Kommission war Landwirtschaftslehrer Peter in
Bülach. Dieser ist nunmehr auch Mitglied des durch das zürcherische Gesetz
über die Förderung der Landwirtschaft vom 22. September 1963 geschaffenen
kantonalen Landwirtschaftsgerichts, das über Einsprachen gegen die
Einbeziehung von Grundstücken in die Güterzusammenlegung, die Schätzung
des eingeworfenen Landes, die Neuzuteilung u. dgl. zu entscheiden hat.

    Lyn Guhl ist Eigentümerin von Grundstücken im
Zusammenlegungsgebiet. Sie focht die Schätzung ihres Landes
durch die Bonitierungskommission nicht an, erhob aber in der
Folge gegen den Neuzuteilungsbeschluss der Ausführungskommission
Einsprache. Das Landwirtschaftsgericht hat die Einsprache auf
Klage der Ausführungskommission hin am 15. Mai 1965 abgewiesen
und den Neuzuteilungsbeschluss bestätigt. Lyn Guhl führte hiergegen
staatsrechtliche Beschwerde, wobei sie sich namentlich über eine Verletzung
des Art. 58 BV beklagte. Das Bundesgericht hat diese Einwendung abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Die Beschwerdeführerin macht in erster Linie geltend,
Landwirtschaftslehrer Peter habe als Obmann der Bonitierungskommission
in einem früheren Abschnitt des Verfahrens an massgebender Stelle
mitgewirkt. Er habe in der Sache als Sachverständiger gehandelt und habe
zum Prozessgegner in einem Pflichtverhältnis gestanden, weshalb er gemäss
§ 113 Ziff. 3 und 6 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG)
als Mitglied des Landwirtschaftsgerichts ablehnbar gewesen sei. Infolge der
unrichtigen Besetzung des Gerichts sei der Anspruch der Beschwerdeführerin,
nur vom verfassungsmässigen Richter Recht nehmen zu müssen, missachtet
und der Art. 58 Abs. 1 BV verletzt worden.

    a) Staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung des Art.  58 BV können
erhoben werden, bevor von den kantonalen Rechtmitteln Gebrauch gemacht
worden ist (Art. 86 Abs. 2 OG). Es kann daher dahingestellt bleiben,
ob der Beschwerdeführerin ein kantonales Rechtsmittel zur Verfügung
gestanden hätte, mit dem sie die behauptete unrichtige Besetzung des
Landwirtschaftsgerichts hätte geltend machen können.

    b) Laut Art. 58 Abs. 1 BV darf niemand seinem verfassungsmässigen
Richter entzogen, und es dürfen keine Ausnahmegerichte eingeführt
werden. Neben dem Verbot der Ausnahmegerichte schliesst die Garantie des
verfassungsmässigen Richters nach der Rechtsprechung ein Doppeltes in sich:
sie gewährleistet dem Einzelnen die Freiheit, nur von dem Richter Recht
zu nehmen, der nach den bestehenden Verfassungsbestimmungen, Gesetzen und
Verordnungen allgemein für die Streitsachen zuständig ist, zu denen der
in Frage stehende Prozess gehört (BGE 83 I 85 Erw. 3, 86 I 331, 89 I 68),
und sie gibt ihm Anspruch auf richtige Besetzung des Gerichts (BURCKHARDT,
Komm. 3 Aufl., S. 532/33; FAVRE, Droit Constitutionnel Suisse, S. 398
Ziff. 3; GRAVEN, La Garantie du juge naturel et l'exclusion des tribunaux
d'exception, in Festgabe zur Hundertjahrfeier der Bundesverfassung,
S. 221). So hat das Bundesgericht in BGE 15 S. 728 Erw. 2 die Teilnahme
von Richtern, deren Amtsdauer abgelaufen ist, als Verstoss gegen
Art. 58 Abs. 1 BV bezeichnet. Es hat in BGE 33 I 146 Erw. 2 und 38 I
95 ff. eine Verletzung dieses Verfassungssatzes auch in der Mitwirkung
eines Richters erblickt, der (wie beispielsweise ein Konkursverwalter
in einem Prozess der Konkursmasse) nicht die nötige Gewähr für eine
unabhängige Beurteilung der Streitsache bietet. Das Bundesgericht hat
in den beiden letztgenannten Entscheiden aus Art. 58 Abs. 1 BV einen
allgemeinen Anspruch des Rechtsuchenden auf richterliche Unabhängigkeit
abgeleitet, der weiter geht als der aus Art. 61 BV fliessende Schutz vor
einseitiger Gerichtsbarkeit, der dem Einzelnen nur durch die Verweigerung
(BGE 28 I 141, 50 I 8, 67 I 8, 76 I 128 b, 81 I 326) der Vollstreckung
ausserkantonaler Schiedssprüche zuteil werden kann (vgl. BGE 57 I 205;
67 I 214; 72 I 88 Erw. 2; 76 I 92 Erw. 3, 128 b; 78 I 112 Erw. 3; 80 I
340 Erw. 3; 81 I 326; 84 I 46 Erw. 5).

    Die Zuständigkeit des Gerichts, das sich mit der Sache des
Beschwerdeführers befasst oder befasst hat, beurteilte das Bundesgericht
zunächst frei (vgl. die Belege bei BURCKHARDT, aaO, S. 534); in seiner
neueren Rechtsprechung prüft es die Auslegung und Anwendung der kantonalen
Gesetze und Verordnungen, aus denen sich die Zuständigkeit der Gerichte
ergibt, dagegen nur noch unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür
und der rechtsungleichen Behandlung (BGE 35 I 300, 346, 525, 532; 39 I 84;
50 I 51 Erw. 3; 54 I 381 sowie zahlreiche spätere nicht veröffentlichte
Urteile). Über die richtige Besetzung des Gerichts befand das Bundesgericht
in BGE 15 S. 728 Erw. 2, 33 I 146 Erw. 2 sowie 38 I 96 ff. frei, wobei es
neben dem kantonalen Recht auch Grundsätze heranzog, die es unmittelbar aus
Art. 58 Abs. 1 BV ableitete. In der Folge sprach sich das Bundesgericht,
soweit ersichtlich, nur noch auf Beschwerden wegen Verletzung der Art. 4
und 61 BV hin über die richtige Besetzung des Gerichts aus. Es hat deshalb
nie untersucht, ob es bei der Beurteilung von Beschwerden wegen Verletzung
des Art. 58 Abs. 1 BV seine Kognition in der Frage der richtigen Besetzung
des Gerichts in gleicher Weise einzuschränken habe, wie es das in seiner
neueren Rechtsprechung mit Bezug auf die Zuständigkeit getan hat. Zwingend
ist diese Folgerung nicht, da die Verhältnisse, nach denen der Umfang
der Kognition sich richtet, in den beiden Fällen nicht die selben sind.

    Wirft eine Beschwerde wegen Verletzung des Art. 58 Abs. 1 BV die
Zuständigkeitsfrage auf, so geht es in der Regel um die sachliche
Zuständigkeit, in deren Umschreibung die Kantone frei sind. Das
Bundesgericht hat demnach nur über die Auslegung und Anwendung der
kantonalen Bestimmungen über den Aufgabenkreis der Behörden zu befinden;
soweit es sich um kantonales Recht der Gesetzes- und Verordnungsstufe
handelt, beschränkt es sich nach allgemeinen Grundsätzen auf eine
Prüfung unter dem Gesichtswinkel der Willkür und der rechtsungleichen
Behandlung. Die Frage der richtigen Besetzung des Gerichts ist
demgegenüber nicht nur eine solche des kantonalen Rechts (das die Zahl der
Gerichtsmitglieder, die Amtsdauer der Richter, die Ausschliessungs- und
Ablehnungsgründe regelt), sondern auch des Bundesrechts, das vorgängig den
kantonalen Ausstandsbestimmungen dem Einzelnen die unabhängige Beurteilung
seiner Streitsache gewährleistet (vgl. BGE 33 I 146 Erw. 2, 38 I 95,
wo dieser Anspruch aus Art. 58 Abs. 1 BV, und BGE 73 I 188 Erw. 2,
wo er aus Art. 4 BV abgeleitet wird). Die Handhabung der die Besetzung
des Gerichts betreffenden kantonalen Bestimmungen hat das Bundesgericht
nach dem Gesagten nur auf das Vorliegen von Willkür und rechtsungleicher
Behandlung hin zu prüfen. Es fragt sich dagegen, ob es nicht gleich wie
in seiner Rechtsprechung zum rechtlichen Gehör (BGE 85 I 207 Erw. 1,
87 I 106 Erw. 4, 339 a; 89 I 356) frei darüber befinden sollte, ob bei
der als nicht willkürlich und nicht rechtsungleich erkannten Anwendung
des kantonalen Rechts der bundesrechtliche Anspruch auf unabhängige
Gerichtsbarkeit gewahrt sei. Auf diese Weise bliebe Art. 58 Abs. 1 BV eine
gewisse Selbständigkeit gegenüber Art. 4 BV erhalten (vgl. GIACOMETTI,
Schw. Bundesstaatsrecht, S. 867); es würde ausserdem der im Schrifttum
(HUBER, ZBJV 85 S. 51; NEF, Unabhängige Schiedsgerichte, in Festschrift
Fritzsche, S. 106 f.; PIAGET, Les juridictions instituées par les
associations économiques, ZSR 71 S. 341 a) beanstandete Gegensatz behoben,
der darin liegt, dass das Bundesgericht die Frage der Unabhängigkeit der
Gerichte nur im Falle der Verweigerung der Vollstreckung ausserkantonaler
Schiedssprüche frei prüft, in allen andern Fällen dagegen nur unter
dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür. Ob die Rechtsprechung im
angegebenen Sinne fortzubilden sei, kann indessen unter den gegebenen
Umständen (wie in BGE 81 I 327) dahingestellt bleiben, weil Art. 58 Abs. 1
BV sowohl unter Zugrundelegung der einen wie der andern Betrachtungsweise
nicht als verletzt erscheint.

    c) Die Beschwerdeführerin bezeichnet § 113 Ziff. 3 und Ziff. 6
GVG als verletzt. Nach diesen Bestimmungen kann ein Justizbeamter
"abgelehnt" werden, wenn die darin genannten Voraussetzungen erfüllt sind.
Das bedeutet, dass der betreffende Justizbeamte nicht von Amtes wegen den
Ausstand zu wahren hat, sondern nur, wenn eine Partei oder er selber es
verlangt (HAUSER, Komm. 3 Aufl., N. 1 zu § 113 GVG). Die Beschwerdeführerin
hat vor dem Landwirtschaftsgericht nicht den Ausstand des Richters Peter
verlangt. Sie bestreitet in der staatsrechtlichen Beschwerde nicht,
dass ihrem Vertreter bekannt war, dass Peter in der Sache als Mitglied
des Gerichtes amte, wendet jedoch ein, sie habe erst am 23. Juli 1965 -
also nach Zustellung des Urteils vom 15. Mai 1965 - erfahren, dass Peter
als Obmann der Bonitierungskommission von der Meliorationsgenossenschaft
und nicht vom Kanton besoldet worden sei. Ob sie diese Kenntnis wirklich
erst nach der Urteilsfällung erlangt habe und ob sich aus dem erwähnten
Umstand ein Ablehnungsgrund ergebe, kann offen bleiben. Nach dem Wortlaut
von § 119 GVG wirkt die Ablehnung erst von der Geltendmachung an. Das muss
jedenfalls dann gelten, wenn die interessierte Partei bei pflichtgemässer
Aufmerksamkeit die Umstände, worin sie einen Ablehnungsgrund erblickt,
rechtzeitig hätte aufdecken und vorbringen können. Dies traf hier zu. Dass
Peter Obmann der Bonitierungskommission gewesen war, ergab sich aus
den Verzeichnissen, welche den Statuten der Genossenschaft beigeheftet
sind. Die Statuten sehen in § 9 vor, dass die Kommissionsmitglieder
(aus der Kasse der Genossenschaft) entschädigt werden. Diese Bestimmung
dürfte zwar nur die Mitglieder der Ausführungskommission betreffen; die
Annahme lag aber nahe, dass für die Mitglieder der Bonitierungskommission
ein Gleiches gelte. Allfällige Zweifel hätten durch Erkundigung bei der
Genossenschaft oder bei der kantonalen Volkswirtschaftsdirektion sofort
behoben werden können. Da dem Landwirtschaftsgericht kein Ausstandsbegehren
unterbreitet worden war und eine nachträgliche Ablehnung aus den genannten
Gründen von vornherein ausser Betracht fiel, war die Behörde nach Massgabe
des kantonalen Rechts nicht unrichtig besetzt.

    Zum selben Ergebnis führt es, wenn die richtige Besetzung
des Gerichts unter dem Gesichtswinkel der Gewährleistung einer
unabhängigen Rechtsprechung betrachtet und als Frage des Bundesrechts
frei geprüft wird. Landwirtschaftslehrer Peter hatte sich als Obmann
der Bonitierungskommission über die Landschätzung, als Mitglied des
Landwirtschaftsgerichts über den Neuzuteilungsentwurf auszusprechen. Die
Landschätzung einerseits und die Aufstellung des Neuzuteilungsentwurfs
andererseits sind nach zürcherischem Recht zwei Abschnitte des
Güterzusammenlegungsverfahrens, die aufeinander folgen, aber klar
auseinander gehalten werden (vgl. BGE 90 I 285 Erw. 5). Zwar bildet die
Landschätzung eine der Grundlagen der Neuzuteilung; sie präjudiziert diese
jedoch nicht; denn das Land, für das bei der Bonitierung ein Vergleichswert
festgelegt wird, kann bei der Neuzuteilung auf die verschiedenste Weise zu
neuen Betriebseinheiten zusammengefügt werden. Es kann darum nicht gesagt
werden, Landwirtschaftslehrer Peter habe sich dadurch, dass er bei der
Schätzung mitwirkte, bereits auf eine bestimmte Neuzuteilung festgelegt
und er vermöge diese Frage nicht mit der gleichen Unvoreingenommenheit
zu prüfen wie ein bisher dem Verfahren fernstehender Dritter. Richtig
ist zwar, dass Peter sein Amt als Obmann der Bonitierungskommission im
Dienste der Meliorationsgenossenschaft ausübte und dass er dafür von ihr
besoldet wurde; er wurde indessen als "auswärts wohnender Sachverständiger"
(vgl. § 31 der Statuten) gerade wegen seiner Unabhängigkeit gegenüber
der Genossenschaft und deren Mitgliedern an diese Stelle berufen, war in
seinen materiellen Entscheidungen nicht an Weisungen der Genossenschaft
gebunden und hatte über Fragen zu befinden, die unmittelbar nur die
Interessen der Mitglieder und nicht die der Genossenschaft als solcher
berührten. Die Arbeit der Bonitierungskommission war zudem rund zwei
Jahre, bevor Peter sich als Mitglied des Landwirtschaftgerichts mit der
Neuzuteilung zu befassen hatte, abgeschlossen. Er stand damit in diesem
Zeitpunkt in keiner Bindung zur Genossenschaft, die seine Eigenständigkeit
und innere Freiheit (vgl. EICHENBERGER, Die richterliche Unabhängigkeit
als staatsrechtliches Problem, S. 50 f.) in Frage gestellt hätte. Eine
Verletzung des Art. 58 Abs. 1 BV ist mithin auch in dieser Sicht nicht
dargetan. Ob die Beschwerdeführerin übrigens durch die Einlassung auf
den Prozess auf die Anrufung dieser Verfassungsbestimmung verzichtet
habe (BURCKHARDT, aaO, S. 536; vgl. auch BGE 84 I 61 c zu Art. 61 BV),
braucht bei dieser Sachlage nicht entschieden zu werden.