Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 I 260



91 I 260

41. Urteil vom 15. September 1965 i.S. Dietiker
   und Siegrist gegen den Grossen Rat des Kantons
Aargau. Regeste

    Politisches Stimmrecht, Unvereinbarkeit, Art. 85 lit. a OG.

    1.  Zum Stimmrecht gehört auch der Anspruch des Bürgers darauf, dass
die durch das Volk gewählten Behörden nicht mit Personen besetzt werden,
welche nach kantonalem Verfassungsrecht nicht gewählt werden dürfen
(Erw. 2).

    2.  Bezirkslehrer dürfen gemäss Art. 28 Abs. 3 der aargauischen
Kantonsverfassung nicht Bezirkslehrer bleiben und gleichzeitig dem Grossen
Rat des Kantons Aargau angehören (Erw. 3 und 4).

Sachverhalt

    A.- Bei den Gesamterneuerungswahlen für den Grossen Rat des Kantons
Aargau wurden am 14. März 1965 folgende Bezirkslehrer als Mitglieder des
Grossen Rates gewählt: Paul Binkert, 1917,

    von Leibstadt, in Wettingen, im Bezirk Baden, Hans Zimmerli, 1915,

    von und in Rothrist, im Bezirk Zofingen, Werner Schär, 1917,

    von Murgenthal, in Zofingen, im Bezirk Zofingen.

    Nach Veröffentlichung der Wahlergebnisse erhob Notar Hans Rudolf
Siegrist, Wettingen, Einsprache gegen die Wahl des Bezirkslehrers Paul
Binkert in Wettingen. Der Einsprecher verwies auf Art. 28 Abs. 3 der
Kantonsverfassung (KV), wonach aus dem Staatsgut besoldete Beamte, deren
Wahl nicht dem Volke zusteht, in den Grossen Rat nicht wählbar sind.

    In der konstituierenden Sitzung des Grossen Rates vom 27. April 1965
wurde über diese Einsprache diskutiert. Die Wahlaktenprüfungskommission
stellte fest, dass die Einsprache nicht nur Herrn Binkert betreffe, sondern
auch die beiden andern Bezirkslehrer Schär und Zimmerli. Unter Hinweis
auf die bisherige Praxis beantragte die Wahlaktenprüfungskommission die
Anerkennung dieser Wahlen. Grossrat Hans Strahm, Brugg, stellte einen
Gegenantrag. Der Antrag der Wahlaktenprüfungskommission wurde indessen
mit 1 lo: 60 Stimmen angenommen.

    B.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 1. Mai 1965 ficht Arthur
Dietiker, Mellingen, den Validierungsbeschluss des Grossen Rates vom
27. April 1965 bezüglich der drei genannten Bezirkslehrer an. Er macht
geltend, sie seien Beamte, die aus dem Staatsgut bezahlt und nicht vom
Volk gewählt werden, sodass Art. 28 Abs. 3 KV verletzt worden sei.

    C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 25. Mai 1965
verlangt Hans Rudolf Siegrist, Notar in Wettingen, die Aufhebung des
Validierungsbeschlusses vom 27. April 1965 insoweit, als er sich auf den
Bezirkslehrer Binkert bezieht. Auch mit dieser Beschwerde wird geltend
gemacht, Art. 28 Abs. 3 KV sei verletzt.

    D.- Der Regierungsrat des Kantons Aargau beantragt im Namen des
Grossen Rates die Abweisung der beiden staatsrechtlichen Beschwerden.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Arthur Dietiker beantragt die Aufhebung des Validierungsbeschlusses
bezüglich aller drei Bezirkslehrer, während Hans Rudolf Siegrist die
Aufhebung des Validierungsbeschlusses nur bezüglich Paul Binkert verlangt.
Zur Begründung beider Beschwerden werden dieselben, aus Art. 28 Abs. 3
KV abgeleiteten Argumente vorgebracht. Die zweite Beschwerde verhält
sich zur ersten wie ein Teil zum Ganzen, sodass es sich rechtfertigt,
die beiden staatsrechtlichen Beschwerden gemeinsam zu erledigen.

Erwägung 2

    2.- Bei Beschwerden nach Art. 85 lit. a OG ist der Bürger, dem das
politische Stimmrecht zusteht, legitimiert, die Rechtmässigkeit der
Ergebnisse von Wahlen, die dem Volke zustehen, anzufechten (BGE 76 I
51). Zum Stimmrecht gehört auch der Anspruch des Bürgers darauf, dass die
durch das Volk gewählten Behörden nicht mit Leuten besetzt werden, welche
nach kantonalem Verfassungsrecht nicht gewählt werden dürfen. Wiewohl
Unvereinbarkeitsvorschriften in der Regel vorab im öffentlichen Interesse
aufgestellt werden, ist deshalb das Bundesgericht auf staatsrechtliche
Beschwerden, mit denen eine Missachtung von Unvereinbarkeitsvorschriften
geltend gemacht wurde, eingetreten (BGE 89 I 75, 49 I 540, 50 I 291 ff.).

    Ob die beiden im Kanton Aargau stimm- und wahlberechtigten
Beschwerdeführer schon im kantonalen Verfahren Parteistellung hatten
oder nicht, ist für ihre Beschwerdelegitimation ohne Bedeutung (BGE
79 I 158, 74 I 379, 72 I 294). Dass Hans Rudolf Siegrist gegen die
Wahl des Paul Binkert Einsprache erhoben, Arthur Dietiker dagegen
jede Einsprache innerhalb des Kantons unterlassen hat, ist daher
ohne Rechtsfolge. Dies gilt umso eher, als der Grosse Rat über die
Gültigkeit der Wahlergebnisse von Amtes wegen zu entscheiden hatte (§
39 des aargauischen Grossratsreglementes). Aus diesem Grunde haben denn
auch der Regierungsrat, die Wahlaktenprüfungskommission und der Grosse
Rat selber die Wahl von zwei Bezirkslehrern im Bezirk Zofingen in die
Prüfung einbezogen, obschon dagegen keine Einsprache erhoben worden
war. Der Grosse Rat hat dabei als erste und einzige kantonale Instanz
entschieden, sodass ein letztinstanzlicher Entscheid im Sinne von Art. 86
Abs. 1 OG vorliegt. Es handelt sich dabei auch nicht um einen blossen
Vollzugsbeschluss zur Volkswahl. Durch sie haben die Wähler lediglich zum
Ausdruck gebracht, dass die drei Bezirkslehrer dem kantonalen Parlament
angehören sollen; das Parlament aber hatte darüber zu befinden, ob sie
Mitglieder des Grossen Rates sein und zugleich Bezirkslehrer bleiben
könnten. Dadurch, dass weder die Staatskanzlei noch die Bezirksämter
die drei Kandidaten vor der Wahl zu einer Verzichterklärung im Sinne
von § 3 Abs. 2 der Vollziehungsverordnung vom 14. März 1921 zum Gesetz
über die Verhältniswahl des Grossen Rates vom 10. Januar 1921 (GRWV,
GRWG) aufgefordert haben, wurde der Entscheid des Grossen Rates nicht
vorweggenommen. Die Beschwerdeführer haben daher ihre staatsrechtliche
Beschwerde mit Recht gegen den Validierungsbeschluss vom 27. April 1965
gerichtet.

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 28 Abs. 3 KV sind die "aus dem Staatsgut besoldeten
Beamten, deren Wahl nicht dem Volke zusteht", nicht in den Grossen Rat
wählbar. Darüber, dass dies eine blosse Unvereinbarkeitsvorschrift
ist, bestehen keine Meinungsverschiedenheiten. Gleich wie Art. 77
BV nicht hindert, dass ein vom Bundesrat gewählter Beamter in den
Nationalrat gewählt wird und ihm angehören kann, wenn er auf das Amt
verzichtet (RICHARD FRANK, Die Unvereinbarkeit von Bundesbeamtung und
Nationalratsmandat, S. 58 ff.), kann auch ein nach Art. 28 Abs. 3 KV
"nicht wählbarer" Beamter in den Grossen Rat gewählt werden, wenn er auf
das Amt verzichtet, das ihn an der Ausübung des Grossratsmandates hindert.

    Streitig ist dagegen, ob das Amt, das die drei Bezirkslehrer innehaben,
sie zu Beamten im Sinne von Art. 28 Abs. 3 KV mache. Wird auf den klaren
Wortlaut dieser Vorschrift abgestellt, so ist offensichtlich, dass alle
darin genannten Unvereinbarkeitsmerkmale bei den Bezirkslehrern gegeben
sind:

    a) Die Bezirkslehrer sind Beamte (Art. 6 Abs. 1 KV). Sie erfüllen eine
öffentliche Aufgabe, die ihnen mit der Wahl durch eine Behörde für eine
feste Amtsdauer übertragen wird. Sie stehen während der Amtsdauer in einem
besonderen Gewaltsverhältnis, werden während dieser Zeit von einer Behörde
beaufsichtigt und können von ihr disziplinarisch bestraft werden. Alle
diese Merkmale charakterisieren das Beamtenverhältnis (vgl. ERICH RICHNER,
Umfang und Grenzen der Freiheitsrechte der Beamten nach schweizerischem
Recht, 1954, S. 28 ff.; HANS NEF, Öffentlichrechtliche und privatrechtliche
Anstellung, in Personalprobleme der öffentlichen Verwaltung, 1944, S. 22
ff.; IM HOF, Das öffentlichrechtliche Dienstverhältnis, in ZSR 1929,
S. 233 a ff., insbesondere S. 246 a ff.).

    b) Die Bezirkslehrer werden nicht vom Volk gewählt. Nach § 56
Abs. 3 des kantonalen Schulgesetzes vom 20. November 1940 (SG) wird die
Wahlbehörde vom Regierungsrat speziell bestimmt, sofern das Wahlrecht
von den beteiligten Gemeinden nicht dem Gemeinderat und der Schulpflege
der Schulortsgemeinde übertragen wird.

    c) Die Bezirkslehrer werden gemäss Art. 65 Ziff. 2 lit. a

KV vom Staate besoldet; die Staatskasse trägt den gesamten
Besoldungsaufwand.

Erwägung 4

    4.- Sämtliche in Art. 28 Abs. 3 KV erwähnten Merkmale sind somit
bei den Bezirkslehrern gegeben. Daraus folgt, dass sie nicht zugleich
Bezirkslehrer bleiben und dem Grossen Rat angehören können, es sei
denn, eine auf den wahren Sinn der Kantonsverfassung zurückgehende
Interpretation würde schlüssig zu einem anderen Ergebnis führen. Was jedoch
den Ausgangspunkt für eine derartige Auslegung bilden könnte, ist nicht
ersichtlich. Insbesondere bietet ein Rückblick auf die Entwicklung der
fraglichen Norm keine Anhaltspunkte für die Auffassung, unter den "Beamten"
im Sinne von Art. 28 Abs. 3 KV seien nur die Staatsbeamten zu verstehen.

    a) Die Staatsverfassung für den Kanton Aargau vom 22.  Hornung 1852
enthielt in § 40 Abs. 2 folgende Bestimmung:

    "Wer eine aus dem Staatsgute besoldete Beamtung oder ein öffentliches
Lehramt bekleidet, kann nicht Mitglied des Grossen Rathes sein."

    Damit war klargestellt, dass alle Lehrer, gleichgültig von wem sie
besoldet wurden, dem Grossen Rate nicht angehören konnten. Zur Begründung
wurde dafür im Grossen Rat unter anderem ausgeführt: "Das Volk kann nicht
wollen, dass Beamte in derjenigen Behörde sitzen sollen, von der sie
zu beaufsichtigen sind, kurz dass die Aufsichts- und die beaufsichtigte
Behörde eine und dieselbe sei. Sonst hat die Aufsicht nichts zu bedeuten"
(vgl. S. 150 der Verhandlungen des Aargauischen Verfassungsrates aus
dem Jahre 1851).

    b) In den Verhandlungen des Grossen Rates über die Verfassungsrevision
der Jahre 1862/63 wurde versucht, den Beamtenausschluss einzuschränken,
doch führten diese Bemühungen nicht zum Erfolg. Der Grosse Rat behielt §
40 Abs. 2 in seinem bisherigen Wortlaut bei (S. 132 ff. der Verhandlungen
des Grossen Rathes des Kantons Aargau, Juni 1862), womit es auch weiterhin
beim Ausschluss sämtlicher Lehrer vom Grossen Rate blieb.

    c) Erst die Verfassungsrevision aus dem Jahre 1885 brachte eine
Änderung: Der Verfassungsrat nahm den Beamtenausschluss in der zweiten
Lesung mit dem heute geltenden Wortlaut von § 28 Abs. 3 KV in den
neuen Verfassungstext auf, wobei schon im Verfassungsrat Klarheit
darüber bestand, dass die Lehrer der Kantonsschule und des kantonalens
Lehrerseminars, weil diese aus dem Staatsgut besoldet wurden, auch künftig
dem Grossen Rate nicht angehören könnten. Massgeblich für den Ausschluss
sollte die Abhängigkeit der nicht durch das Volk gewählten Lehrer vom
Regierungsrat sein. Es gab damals keine Lehrer, die aus dem Staatsgut
besoldet, aber nicht vom Regierungsrat gewählt wurden. Insbesondere
wurden die Lehrer an den Gemeindeschulen auch von den Gemeinden bezahlt;
Staatsbeiträge erhielten in diesem Zusammenhange nur jene Gemeinden, welche
die erforderlichen Mittel nicht selber aufzubringen vermochten (§ 82 des
Schulgesetzes für den Kanton Aargau vom 1. Brachmonat 1865), doch wurde
dies nicht als Unvereinbarkeitsgrund betrachtet. Dass Lehrer, ausgenommen
Kantonsschul- und Seminarlehrer, dem Grossen Rate angehören konnten,
war in der Folge nicht umstritten. Insbesondere haben in jener sich bis
zum Jahre 1919 erstreckenden Periode auch Bezirkslehrer dem Grossen Rate
angehört, ohne dass dies je von irgend einer Seite angefochten worden wäre.

    d) Durch die Verfassungsrevision vom 10. November 1919 (Volksabstimmung
vom 21. Dezember 1919) wurde Art. 65 KV in dem Sinne geändert, dass
die Lehrerbesoldungen, namentlich auch die Besoldung der Bezirkslehrer,
generell vom Staat übernommen wurden. Ein entsprechendes Gesetz über die
Leistungen des Staates für die Volksschulen vom gleichen Datum sah in §
4 Abs. 1 vor:

    "Die Besoldungen der staatlich anerkannten Lehrer und Lehrerinnen an
der Gemeinde-, Fortbildungs- und Bezirksschule sowie an der Arbeitsschule
setzen sich zusammen aus Grundgehalt und Dienstalterszulagen. Sie werden
vom Staate übernommen und monatlich ausgerichtet."

    Infolge dieser Neuordnung wurden die Bezirkslehrer zu "aus dem
Staatsgut besoldeten Beamten". Die ersten auf diese Änderung folgenden
Neuwahlen des Grossen Rates fanden im Jahre 1921 statt. Damals wurden zwei
Bezirkslehrer gewählt. Bezeichnenderweise beantragte der Regierungsrat
dem Grossen Rat, deren Wahl nicht zu validieren, weil Art. 28 Abs. 3 KV
nicht nur Staatsbeamte, sondern alle aus dem Staatsgut besoldeten Beamten
betreffe. Der Grosse Rat vertrat jedoch mehrheitlich die gegenteilige
Auffassung und erwahrte die Wahl der beiden Bezirkslehrer mit 95: 75
Stimmen. In der Folge wurden in den Jahren 1925, 1929, 1933, 1957 und
1961 wiederum Bezirkslehrer in den Grossen Rat gewählt. Die Frage der
Vereinbarkeit ihres Amtes mit der Zugehörigkeit zum Grossen Rat wurde nicht
mehr aufgeworfen, nachdem das Problem schon im Jahre 1921 grundsätzlich
erörtert worden war.

    e) Durch die Verfassungsrevision vom 23. Dezember 1945 schliesslich
erhielt Art. 65 KV seine heutige Fassung; an der Besoldung der
Bezirkslehrer durch den Staat wurde dadurch nichts geändert.

Erwägung 5

    5.- Die seit dem Jahre 1921 geübte Praxis, das Amt des Bezirkslehrers
als mit der Mitgliedschaft im Grossen Rat vereinbar zu betrachten und die
Wahl von Bezirkslehrern in den Grossen Rat zu validieren, erweist sich
somit als verfassungswidrig und lässt sich auch nicht auf Gewohnheitsrecht
stützen, da solches sich nicht contra constitutionem bilden kann. Die
beiden staatsrechtlichen Beschwerden sind deshalb gutzuheissen, ohne dass
noch geprüft werden müsste, ob Bezirkslehrer im Kanton Aargau Staats-
oder Gemeindebeamte seien.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die beiden staatsrechtlichen Beschwerden werden gutgeheissen; der
Validierungsbeschluss des Grossen Rates des Kantons Aargau vom 27. April
1965 wird aufgehoben, soweit er sich auf die Bezirkslehrer Paul Binkert,
Hans Zimmerli und Werner Schär bezieht.