Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 88



91 IV 88

26. Urteil des Kassationshofes vom 22. April 1965 i.S. Polizeirichteramt
der Stadt Zürich gegen Good. Regeste

    Art. 35 Abs. 2 SVG, Art. 10 Abs. 1 VRV. Überholen.  Verbot, einen
Motorwagen zu überholen, vor dem am Strassenrand ein Wagen steht,
jedenfalls dann, wenn dieser einen nicht unerheblichen Teil der
Strassenbreite einnimmt.

Sachverhalt

    A.- Der Beschwerdegegner August Good fuhr am 3. Dezember 1963
etwa um 21 Uhr mit seinem Volkswagen die Friesenbergstrasse in
Zürich aufwärts. Vor ihm fuhr der vom Fahrschüler Francesco Amato in
Begleitung eines Fahrlehrers geführte Personenwagen Marke Fiat. Da dessen
Geschwindigkeit nur ca. 30 km/Std. betrug, begann ihm Good mit rund 50
km/Std. und mit abgeblendetem Scheinwerferlicht auf einem etwa 300 m langen
geraden Strassenabschnitt vorzufahren. Während er sich hiezu anschickte,
wich das Lernfahrzeug einem am rechten Strassenrand aufgestellten Wagen
nach links aus. Good wurde dadurch seinerseits entsprechend weiter nach
links abgedrängt, so dass er ganz auf die dem Gegenverkehr vorbehaltene
Strassenseite gelangte. In diesem Augenblick kam aus der Gegenrichtung
ohne Licht der Radfahrer Stutz herangefahren. Angesichts der ihm
versperrten Fahrbahn versuchte er nach links zwischen dem Wagen Goods
und dem Lernfahrwagen auszuweichen, was ihm jedoch misslang. Nachdem er
vom Wagen Goods erfasst und auf dessen Motorhaube geworfen worden war,
stürzte er zu Boden und verletzte sich.

    B.- Am 25. Mai 1964 verurteilte der Polizeirichter der Stadt Zürich
Good wegen Übertretung von Art. 35 Abs. 2 SVG zu einer Busse von Fr. 50.-,
weil er den Lernfahrwagen bei Gegenverkehr und ohne genügend freien Raum
überholt habe.

    Good verlangte gerichtliche Beurteilung. Durch Urteil vom 18. März
1965 hob der Einzelrichter in Strafsachen am Bezirksgericht Zürich die
Verfügung des Polizeirichters auf und sprach den Beschuldigten frei.

    C.- Der Polizeirichter erhebt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Bestrafung des
Beschuldigten an den Einzelrichter zurückzuweisen.

    Der Beschuldigte beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 35 Abs. 2 SVG ist Überholen und Vorbeifahren an
Hindernissen nur gestattet, wenn der nötige Raum übersichtlich und frei
ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Dazu bestimmt Art. 10 Abs. 1
Satz 2 VRV, dass der Fahrzeugführer nicht überholen darf, wenn sich vor dem
voranfahrenden Fahrzeug Hindernisse befinden, wie Baustellen, eingespurte
Fahrzeuge oder Fussgänger, welche die Strasse überqueren. Gegen diese
Bestimmung hat Good unzweifelhaft verstossen, indem er den Lernfahrwagen
überholte, obwohl dieser ein am rechten Strassenrand aufgestelltes Auto vor
sich hatte, an dem er nur durch Ausschwenken nach links unter Beanspruchung
der Strassenmitte vorbeikommen konnte. Nach verbindlicher Feststellung
der Vorinstanz gerieten deshalb alle drei Fahrzeuge, das stehende, das
überholte und das überholende, auf gleiche Höhe. Dass sie nebeneinander auf
der Strasse Platz hatten, ist entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners
unerheblich. Das Verbot, unter derartigen Umständen vorzufahren, besteht
nicht nur wegen der gegenseitigen Gefährdung der beteiligten Fahrzeuge,
sondern mindestens ebensosehr wegen des möglichen Gegenverkehrs. Die für
diesen bestimmte Bahn wurde im vorliegenden Fall praktisch gesperrt.

Erwägung 2

    2.- Dass im Beschwerdeantrag nur Art. 35 Abs. 2 SVG und nicht auch die
genannte Verordnungsbestimmung erwähnt ist, schliesst deren Anwendung nicht
aus. Als Ausführungsvorschrift wird sie von der gesetzlichen Regelung,
zu deren Vollziehung sie erlassen wurde, miterfasst; vorausgesetzt,
dass sie - was zu prüfen sein wird - nicht über den gesetzlichen Rahmen
hinausgeht. Hievon abgesehen werden nach ständiger Rechtsprechung an
den Antrag keine strengen Anforderungen formeller Natur gestellt. Was
mit der Beschwerde gewollt ist, kann auch mit der Begründung zum Ausdruck
gebracht werden. Im vorliegenden Fall stützt sich diese ausdrücklich auf
Art. 10 Abs. 1 Satz 2 VRV, durch den gesagt werde, was unter dem nötigen
freien und übersichtlichen Raum im Sinne des Gesetzes zu verstehen sei.

Erwägung 3

    3.- Die Frage, ob jene Ausführungsvorschrift dem Gesetz entspreche,
ist zu bejahen. Mit gutem Grund lässt sich die Ansicht vertreten, dass der
vom Gesetz verlangte Raum schon dann nicht mehr frei und übersichtlich sei
und der Gegenverkehr schon dann behindert werde, wenn das vorausfahrende
Fahrzeug wegen eines vor diesem befindlichen Hindernisses nach links,
in die Fahrbahn des Überholenden ausweichen muss und dieser demzufolge
zum Überholen noch weiter nachlinks in den Bereich des Gegenverkehrs
abgedrängt wird. Diese Betrachtungsweise rechtfertigt sich umsomehr, wenn
berücksichtigt wird, dass die Verkehrsregeln ihrem Zwecke nach nicht erst
der konkreten, sondern schon der abstrakten Gefährdung begegnen sollen. Wie
angebracht eine solche Regelung ist, zeigt gerade der vorliegende Fall,
bei dem drei nebeneinander auf gleiche Höhe gelangte Automobile einen
unerwartet auftauchenden Radfahrer vor eine geradezu ausweglose Lage
stellten, die denn auch zum Unfall geführt hat. Art. 10 Abs. 1 Satz 2
VRV fügt sich deshalb zwangslos in den vom Gesetz sinngemäss umrissenen
Rahmen. Sie wird durch die dem Bundesrat gemäss Art. 106 Abs. 1 SVG
erteilte Ermächtigung zum Erlass derartiger Vollziehungsvorschriften
gedeckt und ist daher gültig.

Erwägung 4

    4.- Die Einwendung des Beschwerdegegners, er habe den ohne Licht
erschienenen Radfahrer nicht rechtzeitig bemerken können und auch mit
dessen Auftauchen nicht rechnen müssen, ist ohne Bedeutung. Gewiss
fällt dem Radfahrer ein grobes Verschulden zur Last. Indessen ist für
das angerufene Vertrauensprinzip hier kein Platz; es gilt vielmehr das
um der Verkehrssicherheit willen aufgestellte, uneingeschränkte Verbot,
ein Fahrzeug zu überholen, vor dem sich ein Hindernis befindet, dies
jedenfalls dann, wenn es sich bei diesem um einen Wagen handelt, der einen
nicht unerheblichen Teil der Fahrbahnbreite einnimmt. Das Überholen ist
an sich schon gefährlich. Es soll daher unterbleiben, wenn zusätzliche
Gefahren der geschilderten Art damit verbunden sind.

Erwägung 5

    5.- Wie die Vorinstanz für den Kassationshof verbindlich
festgestellt hat, war der am rechten Strassenrand aufgestellte Wagen
für den Beschwerdegegner erkennbar, bevor er den Lernfahrwagen zu
überholen begann. Soweit der Angeschuldigte das heute bestreiten will,
kann er im Nichtigkeitsverfahren nicht gehört werden (Art. 273 Abs. 1
lit. b und Art. 277 bis Abs. 1 BStP). Übrigens vermöchte ihm diese
Bestreitung auch sachlich nicht zu helfen. Denn sollte ihm die Sicht
auf jenes Hindernis etwa wegen der im angefochtenen Urteil ebenfalls
festgestellten Beeinträchtigung der Beleuchtung infolge belaubter Bäume
und des dadurch vergrösserten Dunkelraumes verwehrt gewesen sein, so hätte
er, weil ihm die nach Art. 35 Abs. 2 SVG erforderliche Übersichtlichkeit
fehlte, nicht überholen dürfen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
des Einzelrichters in Strafsachen am Bezirksgericht Zürich vom 18. März
1965 aufgehoben und die Sache zur Verurteilung des Beschwerdegegners Good
im Sinne der Erwägungen zurückgewiesen.