Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 228



91 IV 228

61. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. Dezember 1965
i.S. Cramer gegen Cramer und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
Regeste

    Art. 220 StGB. Vorenthalten eines Unmündigen.

    1.  Täter kann auch der Ehegatte sein, dem das Kind während des
Scheidungsverfahrens nicht zugeteilt ist (Erw. 1).

    2.  Dieser Ehegatte ist dem schweizerischen Recht auch dann
unterworfen, wenn er das Kind im Ausland zurückhält, der andere Ehegatte
aber, dem es zugeteilt ist, in der Schweiz wohnt.

    3.  Unter Erfolg im Sinne von Art. 7 StGB ist der Schaden zu verstehen,
um dessentwillen die Handlung unter Strafe gestellt ist. Ein solcher
Schaden tritt nicht nur bei den Erfolgsdelikten im technischen Sinne,
sondern auch bei den schlichten Tätigkeitsdelikten ein (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Cramer lebt mit seiner Frau, die ihm 1957 einen Knaben geboren hat,
in Scheidung. Im November 1962, als sie sich in Muri bei Bern aufhielt,
verbrachte er das Kind nach Vaduz, wo er seit Ende Juli 1963 wohnt.

    Durch Beschluss vom 26. November 1964 traf das Bezirksgericht Zürich,
bei dem die Scheidungsklage angebracht wurde, verschiedene vorsorgliche
Massnahmen im Sinne von Art. 145 ZGB. Es stellte fest, dass die Ehefrau
zum Getrenntleben berechtigt sei, sprach den Knaben für die Dauer des
Scheidungsverfahrens der Mutter zu und wies Cramer an, ihn unverzüglich
der in Zürich wohnhaften Ehefrau zu übergeben. Es ordnete ferner das
Besuchsrecht und setzte die vom Ehemann zu leistenden Unterhaltsbeiträge
fest.

    Ein Rekurs Cramers gegen diesen Beschluss wurde vom Obergericht des
Kantons Zürich am 9. Februar 1965 abgewiesen.

    Da Cramer sich weigerte, das Kind in die Obhut der Mutter
zurückzubringen, erstattete die Ehefrau gegen ihn Strafanzeige wegen
Vorenthaltens eines Unmündigen im Sinne von Art. 220 StGB.

    B.- Das Bezirksgericht Zürich sprach Cramer frei. Auf Berufung der
Staatsanwaltschaft hin erklärte ihn das Obergericht des Kantons Zürich
dagegen am 7. September 1965 im Sinne der Anzeige schuldig und verurteilte
ihn zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von sieben Tagen.

    C.- Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf
Freisprechung.

    Er macht insbesondere geltend, der Eheschutzrichter dürfe die
elterliche Gewalt weder ganz noch teilweise entziehen; als Inhaber
dieser Gewalt könne er die Straftat des Art. 220 StGB aber nicht
begehen. Freizusprechen sei er auch, weil ein besonderer Erfolg in der
Schweiz nicht eingetreten, Art. 7 StGB folglich nicht anwendbar und die
Tat zudem nach liechtensteinischem Recht nicht strafbar sei.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 220 StGB wird, auf Antrag, mit Gefängnis oder Busse
bestraft, wer eine unmündige Person dem Inhaber der elterlichen oder
vormundschaftlichen Gewalt entzieht oder vorenthält.

    Wie der Kassationshofin BGE 91 IV 137 ausgeführt hat, kann sich
nach dieser Bestimmung auch der Ehegatte vergehen, dem die Kinder bei
der richterlich bewilligten Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes durch
Zuteilung an den andern Ehegatten weggenommen wurden. Die Befugnis,
über eine unmündige Person, insbesondere über ihren Aufenthaltsort, ihre
Erziehung und Lebensgestaltung frei zu verfügen, steht auf Grund der
richterlichen Anordnung allein dem Ehegatten zu, dem das Kind zugeteilt
worden ist. Sie wird daher durch Art. 220 StGB gegenüber dem andern
Ehegatten in gleicher Weise geschützt wie gegenüber Dritten. Dass dieser
andere Elternteil nach herrschender Lehre trotz Einschränkung in seiner
Verfügungsberechtigung über die Kinder noch als Mitinhaber der elterlichen
Gewalt angesehen wird, ändert in diesem Zusammenhang nichts; entscheidend
bleibt, dass ihm im Rahmen der richterlichen Regelung das Recht entzogen
ist, über den Aufenthalt, die Pflege und Erziehung der Kinder zu bestimmen.

    An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Nach Einreichung einer
Klage auf Scheidung oder Trennung ist jeder Ehegatte für die Dauer des
Rechtsstreites zur Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes berechtigt
(Art. 170 Abs. 2 ZGB). Das Bezirksgericht Zürich hatte deshalb, als
die Klage bei ihm angebracht war, über die Versorgung des Kindes zu
bestimmen. Es tat dies, indem es durch Beschluss vom 26. November
1964 den Knaben für die Dauer des Scheidungsverfahrens der Mutter
zusprach und das Besuchsrecht des Ehemannes auf einen halben Tag im Monat
festsetzte. Dadurch wurde aber die unmittelbare Verantwortung für das Kind,
insbesondere das Recht und die Pflicht, es zu betreuen, zu erziehen und
seinen Aufenthaltsort zu bestimmen, auf die Mutter allein übertragen,
das Entscheidungsrecht des Beschwerdeführers folglich entsprechend
eingeschränkt. Inwiefern diese Auffassung den zivilrechtlichen Bestimmungen
widersprechen sollte, ist nicht zu ersehen. Der Eheschutzrichter kann
nicht einem Elternteil die Kinder durch Zuweisung an den andern wegnehmen
und ihn zugleich sämtliche Rechte aus der elterlichen Gewalt weiterhin
ausüben lassen. Seine Anordnung wäre diesfalls sinn- und zwecklos.
Nach der herrschenden Lehre ist ein Elternteil, dem die Kinder während
des Scheidungsverfahrens nicht zugeteilt sind, in der Ausübung dieser
Rechte denn auch wesentlich beschränkt (Komm. EGGER, N. 13 zu Art. 145 ZGB;
LEMP, N. 15 zu Art. 170 ZGB; HEGNAUER, N. 30 f. zu Art. 274 und N. 165 zu
Art. 283 ZGB). Dazu bedarf es keines förmlichen Entzuges der elterlichen
Gewalt, wie der Beschwerdeführer anzunehmen scheint. Seiner Rechte und
Pflichten enthoben war er nur insoweit, als diese mit der Kindeszuweisung
notwendigerweise auf die Ehefrau übergingen. Im übrigen blieb seine
elterliche Gewalt unberührt; er hatte nach wie vor die Pflichten zu
erfüllen, von denen er nach dem Sinn und Wortlaut der richterlichen
Anordnung nicht befreit war.

    Das schliesst eine Bestrafung des Beschwerdeführers nach Art. 220 StGB
jedoch nicht aus. Diese Bestimmung setzt keinen Entzug der elterlichen
Gewalt voraus; nach ihrem Sinn und Zweck muss es vielmehr genügen,
dass der Täter die Ausübung von Rechten und Pflichten, die auf Grund der
richterlichen Anordnung einem Elternteil allein zustehen, vereitelt. Das
kann nicht nur ein Dritter, sondern auch der andere Elternteil tun, dem
der Eheschutzrichter die Kinder für die Dauer des Scheidungsverfahrens
abgesprochen hat. Vorenthalten im Sinne von Art. 220 StGB heisst nach
der Entstehungsgeschichte des Gesetzes denn auch nichts anderes als
Nichtherausgeben, obschon rechtlich herausgegeben werden müsste (Prot. 2
Exp. Kom. Bd. 3 S. 303, Votum Zürcher).

    Dass nach der Rechtsprechung (BGE 86 II 307) jeder Ehegatte berechtigt
ist, auch ohne Anrufung des Eheschutzrichters den gemeinsamen Haushalt
aufzugeben, wenn die Voraussetzungen des Art. 170 ZGB erfüllt sind,
hilft dem Beschwerdeführer nicht. Er ist nicht bestraft worden, weil
er seiner Ehefrau das Kind im November 1962 gewaltsam weggenommen hat,
sondern weil er den Knaben ungeachtet des Beschlusses des Bezirksgerichtes
Zürich vom 26. November 1964 nicht in ihre Obhut zurückbringen wollte. Im
November 1962 war nach den eigenen Angaben des Beschwerdeführers noch
keine Massnahme im Sinne von Art. 145 oder 169 ff. ZGB angeordnet. Unter
diesen Umständen kann offen bleiben, wie es sich mit der Strafbarkeit von
Eheleuten verhielte, die einander die Kinder entziehen oder vorenthalten,
bevor sie den Eheschutzrichter anrufen.

Erwägung 2

    2.- Bei der Straftat des Art. 220 StGB handelt es sich nach der
Auffassung des Beschwerdeführers um ein schlichtes Tätigkeits- bzw.
Unterlassungsdelikt, das sich im Verhalten des Täters erschöpfe und keine
davon abhebbare Wirkung habe; von einer solchen Wirkung könnte nur die
Rede sein, wenn der Tatbestand ergänzt würde, z.B. durch die Wendung
"und dadurch ordnungsgemässe Pflege und Auferziehung erschwert oder
verunmöglicht".

    Der Beschwerdeführer übersieht, dass er die Ausübung von Rechten und
Pflichten, die nach der rechtskräftigen Anordnung des Eheschutzrichters,
also ordnungsgemäss, seiner Ehefrau allein zustanden, tatsächlich
verunmöglicht hat. Es lässt sich deshalb nicht sagen, ein Erfolg sei in
der Schweiz, am Wohnort der Ehefrau, nicht eingetreten und Art. 7 StGB
könne folglich keine Anwendung finden. Dass das Gesetz den verpönten
Erfolg nicht ausdrücklich als Tatbestandsmerkmal anführt, ändert
nichts. Bei schlichten Tätigkeitsdelikten hatte der Gesetzgeber keinen
Anlass, ihn als gesondertes Merkmal in den Tatbestand aufzunehmen, weil
der Erfolg bei diesen Straftaten, im Unterschied zu den eigentlichen
Erfolgsdelikten, immer und notwendig eintritt; ein vollendeter Versuch
ist ausgeschlossen. Das gilt auch für das Vorenthalten im Sinne von
Art. 220 StGB. Indem der Beschwerdeführer das Kind im Ausland zurückhielt,
hinderte er zwangsläufig die in Zürich wohnhafte Ehefrau, ihre Rechte
dem Kinde gegenüber wahrzunehmen. Er hat somit die Tat nicht nur im
Ausland, sondern auch in der Schweiz verübt, sich folglich hier und nach
schweizerischem Recht zu verantworten (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 7 StGB). Im gleichen Sinne hat der Kassationshof bereits im Falle
eines Unterlassungsdeliktes gemäss Art. 217 StGB entschieden (BGE 87 IV
153 ff.).

    Dieses Urteil ist freilich von SCHULTZ in ZBJV 99 43 f.  kritisiert
worden, weil darin der Begriff "Erfolg" derart weit ausgelegt werde, dass
sämtliche Beeinträchtigungen von Rechtsgütern der in der Schweiz sich
aufhaltenden Personen unter die schweizerische Strafrechtshoheit fielen.
Art. 4 würde völlig überflüssig und Art. 5 StGB beinahe bedeutungslos. Eine
solche Begründung der schweizerischen Strafrechtshoheit könne sich
zudem völkerrechtlich zum Nachteil der Schweiz auswirken. Statt den
Erfolgsbegriff auszudehnen, wäre nach SCHULTZ - was s.E. zum gleichen
praktischen Ergebnis führen würde - beim Unterlassungsdelikt der Begriff
des "Ausführens" so auszulegen, dass die Tat auch dort als ausgeführt gilt,
wo der Täter hätte handeln sollen.

    Unter Erfolg im Sinne von Art. 7 StGB ist der Schaden zu verstehen,
um dessentwillen die Handlung unter Strafe gestellt ist. Ein solcher
Schaden tritt nicht nur bei den Erfolgsdelikten im technischen Sinne ein,
sondern auch bei den schlichten Tätigkeitsdelikten; ein Unterschied
besteht nur insofern, als er sich bei den ersteren von der Handlung
abhebt, bei den letzteren aber als notwendige Wirkung in der Handlung
eingeschlossen ist. So liegt der Schaden bei der Vernachlässigung von
Unterstützungspflichten nach Art. 217 StGB darin, dass der Berechtigte
nicht die ihm geschuldete Leistung erhält. Beim Vorenthalten eines
Unmündigen nach Art. 220 StGB besteht er darin, dass der Inhaber der
elterlichen Gewalt nicht die ihm über den Unmündigen zustehenden Befugnisse
ausüben kann. Tritt der für die Strafbarkeit der Handlung massgebende
Schaden in der Schweiz ein, weil der Geschädigte oder Verletzte hier
seinen Wohnsitz hat, so ist daher die Anwendung des schweizerischen Rechts
bei schlichten Tätigkeitsdelikten nicht minder gerechtfertigt als bei
Erfolgsdelikten im engern Sinne (vgl. HAFTER, Allg. Teil S. 87 Ziff. 3,
Bes. Teil S. 437 Ziff. 5).

    Wie diese Betrachtungsweise der Schweiz völkerrechtlich schaden
könnte, ist nicht zu ersehen. Ein fremder Staat wird in ähnlichen Fällen
so oder anders nach eigenem Gutfinden entscheiden. Auch ist es nicht so,
dass bei der in BGE 87 IV 153 f. vertretenen Auffassung Art. 4 und 5
StGB überflüssig würden. Nach Art. 4 ist das schweizerische Recht auf
Staatsschutzdelikte unter allen Umständen anwendbar. Solche Straftaten
sind in der Schweiz unbekümmert darum, ob sie hier einen Erfolg zeitigen,
strafbar; erforderlich ist nur, dass sie gegen die Schweiz, ihre Behörden,
Organisationen, ihre Angehörigen oder Einwohner gerichtet sind (vgl. BGE
82 IV 164 und dort angeführte Urteile). Es ist denn auch offensichtlich,
dass der Gesetzgeber sich beim Erlass des Art. 4 keine Gedanken darüber
machte, inwieweit Verbrechen und Vergehen, die im Ausland gegen die Schweiz
begangen werden, bereits nach Art. 7 StGB erfasst werden könnten. Art. 5
sodann ist anwendbar, gleichviel, ob der Erfolg im Ausland oder in der
Schweiz eintrete.

    Im übrigen ergibt sich aus der Auffassung des Kassationshofes
auch nicht etwa ein anderer Erfolgsbegriff als in Art. 22
StGB. Die Anwendbarkeit dieser Bestimmung ist nur deswegen auf die
sog. Erfolgsdelikte beschränkt, weil nur bei ihnen der Erfolg nicht ohne
weiteres schon mit der Vollendung der strafbaren Tätigkeit gegeben ist.