Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 IV 16



91 IV 16

7. Urteil des Kassationshofes vom 26. Februar 1965 i.S. Grass gegen
Statthalteramt Meilen. Regeste

    1.  Art. 44 Abs. 1 und 2 SVG. Diese Bestimmungen sind nicht
anwendbar, wenn zwei Fahrzeuge nur deshalb vorübergehend nebeneinander
zu fahren kommen, weil das eine das andere überholen will, sie dann aber
hintereinander weiterfahren oder das eine abbiegt (Erw. 1).

    2.  Art. 39 Abs. 1 SVG. Der Führer, der nach links ausholt, um nachher
besser nach rechts abbiegen zu können, hat sowohl das Ausholen wie das
Abbiegen anzuzeigen (Erw. 2 a).

    3.  Art. 34 Abs. 3 SVG, Art. 13 Abs. 5 VRV. Er muss zudem sicher
sein, dass er mit seinem Manöver weder den Vortritt des Gegenverkehrs
noch denjenigen des rückseitigen Verkehrs behindert (Erw. 2 b).

    4.  . Art. 277 ter Abs. 1 BStP.  Dass der kantonale Richter eine
Verkehrsvorschrift zuviel als verletzt angesehen hat, ist bei geringfügigen
Bussen und klarem Verschulden des Täters kein Grund, das Urteil aufzuheben
und die Sache zu neuer Entscheidung zurückzuweisen (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Grass fuhr am 29. Juli 1964 etwa um 06.00 Uhr mit einem
Personenwagen "Chrysler" auf der Seestrasse von Rapperswil gegen Stäfa.
Hinter ihm fuhr ein "Chevrolet"-Wagen, der von Kunz gesteuert war.

    Grass beabsichtigte, in Stäfa nach rechts in die Stationsstrasse
abzubiegen, die dort, noch ausserorts, spitzwinklig in die Seestrasse
einmündet. Die Seestrasse weist auf jener Strecke einschliesslich der
beidseitigen je 1 m breiten Radstreifen eine Breite von 10 m auf. Sie ist
in der Mitte in der Richtung Stäfa bis zur Einmündung der Stationsstrasse
mit einer Sicherheitslinie versehen, gepaart mit einer jenseitigen
Leitlinie, die nach der Einmündung weiterläuft.

    Grass fuhr auf der rechten Seite seiner Strassenhälfte und holte
dann, um angesichts der spitzwinkligen Verzweigung besser in die nur 5,2
m breite Stationsstrasse einfahren zu können, nach links aus, wobei er
bis auf 50 cm an die Sicherheitslinie herankam. Gleichzeitig betätigte
er den rechten Blinker, um anzuzeigen, dass er in die Stationsstrasse
abbiegen wolle. Kunz, der das Blinklicht nicht beachtete, war der Meinung,
dass Grass nach links eingespurt habe, um nach dieser Seite abzubiegen,
und setzte deshalb an, ihn rechts zu überholen. Da Grass gleichzeitig
nach rechts gegen die Stationsstrasse abbog, kam es zum Zusammenstoss,
bei dem an beiden Wagen Schaden entstand.

    B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichtes Meilen
büsste am 15. Dezember 1964 Grass wegen Übertretung von Art. 34 Abs. 3
und 44 Abs. 2 SVG sowie 13 Abs. 5 VRV mit Fr. 20.-, Kunz wegen Verletzung
von Art. 31 Abs. 1 SVG mit Fr. 10.-.

    C.- Grass führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde mit dem
Antrag, er sei freizusprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Auf Strassen, die für den Verkehr in gleicher Richtung in mehrere
Fahrstreifen unterteilt sind, darf der Führer gemäss Art. 44 Abs. 1 SVG
seinen Streifen nur verlassen, wenn er dadurch den übrigen Verkehr nicht
gefährdet. An die gleiche Voraussetzung bindet Abs. 2 das Verlassen
der Fahrspur, wenn auf breiten Strassen, die - wie die Seestrasse -
keine Fahrstreifen aufweisen, Fahrzeugkolonnen in gleicher Richtung
nebeneinander fahren.

    Diese Vorschriften gelten nach ihrem klaren Wortlaut nur für den
gleichgerichteten Verkehr, Abs. 2 also bloss dann, wenn Fahrzeuge auf der
rechten Fahrbahnhälfte, statt hintereinander, fortlaufend nebeneinander
rollen (was nach Art. 8 Abs. 2 VRV nur bei dichtem Verkehr und genügendem
Raum zulässig ist). Die Vorschriften des Art. 44 SVG sind nicht
anwendbar, wenn die Fahrzeuge nur deswegen vorübergehend nebeneinander
zu fahren kommen, weil das eine das andere überholen will, sie dann aber
hintereinander weiterfahren oder das eine nach links oder nach rechts
abbiegt. So war es im vorliegenden Falle, wo die beiden Fahrzeuge nicht
im Zweikolonnenverkehr auf Stäfa zufuhren, sondern Kunz den Wagen des
Beschwerdeführers, der nach links ausgeholt hatte, um nachher nach rechts
in die Stationsstrasse abzubiegen, rechts überholen wollte.

    Der Einzelrichter hat daher zu Unrecht angenommen, Art. 44 Abs. 2 SVG
sei verletzt. In den Gegenbemerkungen zur Beschwerde vertritt er denn auch
die Auffassung, diese Bestimmung sei nicht anwendbar, merkwürdigerweise
aber ohne darzutun, warum er im Urteil den gegenteiligen Standpunkt
eingenommen habe.

Erwägung 2

    2.- Ein Verkehrsvorgang, wie er hier zur Beurteilung steht, ist
geregelt durch die Vorschriften des Art. 34 Abs. 3 SVG und Art. 13
Abs. 5 VRV, auf die sich das angefochtene Urteil neben Art. 44 Abs. 2
SVG tatsächlich stützt.

    a) Der Beschwerdeführer hat im kantonalen Verfahren erklärt, den
rechten Blinker schon vor dem Ausholen nach links gestellt zu haben. Das
war vorschriftswidrig. Das Ausholen nach links ist eine Richtungsänderung
im Sinne von Art. 39 Abs. 1 SVG, die durch das entsprechende Zeichen
bekanntgegeben werden muss. Dass der Führer nach links ausholt, um nachher
besser nach rechts abbiegen zu können, hebt den ersten Richtungswechsel
nicht auf. Erst wenn er ausgeholt hat und bevor er nach rechts abbiegt,
hat er das Richtungszeichen nach rechts zu geben, dies allerdings
dann früh genug vor dem Abbiegen, damit die nachfolgenden Fahrzeuge
die neue Richtungsänderung noch rechtzeitig wahrnehmen können (vgl.
Komm. BADERTSCHER/SCHLEGEL, S. 141). Der Beschwerdeführer wäre daher
schon wegen Widerhandlung gegen Art. 39 Abs. 1 SVG zu bestrafen gewesen.

    b) Der Beschwerdeführer ist wegen Übertretung von Art. 34 Abs. 3 SVG
und Art. 13 Abs. 5 VRV bestraft worden, weil er sich vor dem Abbiegen nicht
vergewisserte, dass er die rechte Fahrspur ungehindert überqueren könne.

    Was in der Beschwerde dagegen vorgebracht wird, geht fehl. Das
Ausholen vor dem Abbiegen nach der Gegenseite ist ein ungewohntes und im
Grunde verkehrswidriges Manöver. Es kann daher nur unter der Voraussetzung
zulässig sein, dass seine Ausführung den Längsverkehr nicht stört. Dieser
behält unzweifelhaft den Vortritt. Demgemäss bestimmt Art. 13 Abs. 5
VRV ausdrücklich, dass der Führer besonders vorsichtig zu fahren und
nötigenfalls anzuhalten hat. Er muss sowohl vor dem Ausholen wie vor dem
Abbiegen sicher sein, dass er mit seinem Manöver weder den Vortritt des
Gegenverkehrs noch denjenigen des rückseitigen Verkehrs behindert. Art. 13
Abs. 5 VRV ist eine Sonderbestimmung zu der allgemeinen Vorschrift des
Art. 34 Abs. 3 SVG, wonach der Führer, der seine Fahrrichtung ändern will,
auf den Gegenverkehr und auf die ihm nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht
zu nehmen hat. Der Fall des Rechtsabbiegens mit vorherigem Ausholen
nach der Gegenseite wird in Art. 13 Abs. 5 VRV mit der nachdrücklichen
und deutlichen Ergänzung, dass der Fahrzeugführer nötigenfalls einen
Sicherheitshalt einzuschalten hat, noch besonders hervorgehoben.

    Indem der Beschwerdeführer zur Stationsstrasse abbog, ohne sich zu
vergewissern, ob die zu überquerende rechte Fahrspur für das Manöver
frei sei, hat er daher die beiden Vorschriften verletzt. Die Verletzung
ist eine umso gröbere, als der Beschwerdeführer nach der verbindlichen
Feststellung des Einzelrichters genau wusste, dass das Fahrzeug von Kunz
dem seinigen unmittelbar folgte.

    Dass der Beschwerdeführer den rechten Blinker betätigt hat,
entlastet ihn nicht. Dieses Zeichen war nötig und vorgeschrieben,
um die Absicht anzukündigen, nach rechts abzubiegen; den nach der
Verkehrsordnung nicht ihm, sondern dem nachfolgenden Fahrzeug zustehenden
Vortritt erlangte er damit nicht. Art. 39 Abs. 2 SVG sagt denn auch
ausdrücklich, dass die Zeichengebung den Fahrzeugführer nicht von der
gebotenen Vorsicht entbinde. Von einer solchen Entbindung kann hier
umsoweniger die Rede sein, als der Beschwerdeführer im Begriffe war,
ein aussergewöhnliches Manöver auszuführe n'dessen Ankündigung von
einem nicht voll aufmerksamen nachfolgenden Führer leicht übersehen
werden konnte. Für seine Unaufmerksamkeit ist Kunz mit Recht bestraft
worden. Das ändert jedoch nichts daran, dass der Beschwerdeführer für
sein eigenes strafbares Verhalten einzustehen hat.

    Ebensowenig hilft dem Beschwerdeführer der Einwand, das Fahrzeug von
Kunz habe überhaupt zuwenig Raum gehabt, um gefahrlos rechts neben ihm
vorbeizufahren. Die Vorsichtspflicht des Führers gemäss Art. 34 Abs. 3
SVG und Art. 13 Abs. 5 VRV ist eine unbedingte und hängt nicht davon ab,
ob dem nachfolgenden Fahrzeug zum Überholen mehr oder weniger Raum zur
Verfügung steht. Es muss beim Ausholen und Abbiegen auch mit nachfolgenden
Kleinfahrzeugen, wie Motorrädern, Fahrrädern und dergleichen, gerechnet
werden, die noch durchkommen, wo für ein grösseres Fahrzeug nicht
genügend Raum ist. Abgesehen davon kann der Führer erfahrungsgemäss
versucht sein zu überholen, wo er es nicht mehr tun sollte. Die primäre
Pflicht, solchen Gefährdungen durch entsprechende Vorsicht vorzubeugen,
trifft aber den Führer des Fahrzeugs, das abbiegen will.

    Im übrigen blieb für den 1,75 m breiten Wagen von Kunz gemäss den
Feststellungen des Einzelrichtes zum Überhol n in Wirklichkeit noch
ein Raum von 2,6 m und nicht nur 16 m, wie nach der Darstellung des
Beschwerdeführers anzunehmen wäre. Der Beschwerdeführer übersieht, dass
nach Art. 40 Abs. 3 VRV auch Führer anderer Fahrzeuge den Radstreifen
benützen dürfen, sofern der Fa hrradverkehr dadurch nicht behindert
wird. Dass dies hier der Fall gewesen sei, behauptet er aber selber nicht.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer ist somit zu Recht wegen Widerhandlung
gegen Art. 34 Abs. 3 SVG und Art. 13 Abs. 5 VRV bestraft worden. Dass
der Einzelrichter irrtümlich auch Art. 44 Abs. 2 SVG als übertreten
angesehen hat, vermag eine Rückweisung umsoweniger zu rechtfertigen, als
der Beschwerdeführer wegen Übertretung von Art. 39 Abs. 1 SVG ebenfalls
zu bestrafen gewesen wäre. Es ist deshalb nicht anzunehmen, dass die
Vorinstanz die geringfügige Busse von Fr. 20.-, mit der das Verschulden des
Beschwerdeführers in sehr milder Weise gewürdigt wurde, herabsetzen würde.
Selbst wenn dies gegen alle Voraussicht zutreffen sollte, so wäre das kein
Grund, das Urteil aufzuheben. Dazu ist die bundesgerichtliche Instanz
bei klarem Verschulden des Beschwerdeführers und einer auf alle Fälle
weit innerhalb des richterlichen Ermessens liegenden Busse nicht da. Es
ist zudem höchst unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer wegen des
Art. 44 Abs. 2 SVG allein Beschwerde geführt hätte. Worum es ihm ging,
war gemäss seinem Antrage und der Begründung die gänzliche Freisprechung
und damit die Aufhebung der Busse.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.