Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 91 II 213



91 II 213

32. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 15. Juni 1965
i.S. Voltaplast AG gegen Chemica

AG Regeste

    Verrechnung verjährter Schadenersatzansprüche aus Sachmängeln
(Art. 210 Abs. 2, 120 Abs. 3 OR). Solche Ansprüche können, wenn die
Mängel innerhalb eines Jahres nach Ablieferung gehörig gerügt wurden,
nicht nur mit Forderungen des Verkäufers aus dem gleichen Kauf, sondern
auch mit sonstigen Forderungen des Verkäufers verrechnet werden, falls
sie noch nicht verjährt waren, als die Gegenforderungen fällig wurden.

Sachverhalt

    Die Voltaplast AG belangte die Chemica AG auf Schadenersatz wegen
Mängeln der ihr gelieferten Sachen. Die Beklagte machte widerklageweise
Gegenforderungen aus andern Geschäften geltend. Die Klägerin erklärte
die Verrechnung. Das Handelsgericht des Kantons Aargau wies die Klage
teils wegen Verjährung, teils aus andern Gründen ab und schützte die
Widerklage, ohne zur Verrechnungseinrede der Klägerin Stellung zu
nehmen. Das Bundesgericht weist die Sache in diesem Punkte zu neuer
Entscheidung an die Vorinstanz zu rück.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus der Begründung:

Erwägung 3

    3.- ... Gemäss Art. 210 Abs. 2 OR bleiben die Einreden des Käufers
wegen vorhandener Mängel über den Ablauf der in Abs. 1 festgesetzten
Verjährungsfrist hinaus bestehen, wenn innerhalb eines Jahres nach
Ablieferung die vorgeschriebene Anzeige an den Verkäufer gemacht worden
ist. Es fragt sich, ob diese Bestimmung auf die Verrechnungseinrede der
Klägerin zutrifft. Das Bundesgericht hat diese - von den Parteien nicht
aufgeworfene - Rechtsfrage von Amtes wegen zu prüfen (Art. 63 Abs. 3 OG),
wie das auch schon die Vorinstanz hätte tun sollen (BGE 89 II 340, 90 II
40, 91 II 65).

    a) Entsprechend wie Art. 210 Abs. 1 OR nicht nur für die Wandelungs-
und Minderungsklage, sondern auch für alle Schadenersatzklagen gilt, die
mit Mängeln der Kaufsache begründet werden (BGE 58 II 212, 77 II 249,
90 II 88), ist Art. 210 Abs. 2 OR nicht bloss auf die Wandelungs- oder
Minderungseinrede, sondern auch auf die Einrede der Verrechnung mit aus
Sachmängeln abgeleiteten Schadenersatzansprüchen anwendbar.

    b) In der Lehre und in der kantonalen Rechtsprechung ist umstritten,
ob unter den "Einreden des Käufers wegen vorhandener Mängel", die Art. 210
Abs. 2 OR in Übereinstimmung mit Art. 258 a OR im Falle gehöriger Rüge
der Mängel innert eines Jahres seit Ablieferung trotz der Verjährung der
Gewährleistungsklagen bestehen lässt, nur Einreden zu verstehen sind, die
gegenüber einem aus dem gleichen Kauf entstandenen Anspruch des Verkäufers
erhoben werden, oder ob auch Einreden gegenüber sonstigen Ansprüchen des
Verkäufers unter diesen Begriff fallen. Die erste Auffassung vertreten
namentlich BECKER (Art. 210 N. 5 a.E.) und das Handelsgericht des Kantons
Zürich (ZR 1907 Nr. 73 und 1949 Nr. 152), die zweite A. ESCHER (SJZ 1952 S.
174 f.) und das Handelsgericht des Kantons St. Gallen (SJZ 1959 S. 44 f.).

    Das Bundesgericht hat die Frage in BGE 21 II 575 offen gelassen. Auch
seither hat es sie nicht näher geprüft. In BGE 50 II 10 f. erklärte
es zwar, Art. 210 Abs. 2 OR betreffe den Fall, dass der Käufer die
Mängel der Kaufsache einredeweise gegenüber der Klage des Verkäufers
auf Erfüllung des Kaufvertrages geltend macht. Damals war aber nicht
über die Zulässigkeit einer solchen Einrede gegenüber andern Ansprüchen
des Verkäufers zu entscheiden. Vielmehr wurde die Anwendung von Art. 210
Abs. 2 OR deshalb abgelehnt, weil der Käufer die Sachmängel nicht einrede-,
sondern klageweise geltend gemacht hatte.

    Im vorliegenden Falle erhebt die Klägerin unter Berufung auf Mängel
der ihr gemäss Vertrag vom Januar 1961 gelieferten Sachen die Einrede der
Verrechnung gegenüber Forderungen der Beklagten aus andern Geschäften. Die
erwähnte Streitfrage muss daher heute entschieden werden.

    c) Die enge Auslegung des Art. 210 Abs. 2 OR wird damit begründet,
schon der Begriff "Einreden des Käufers wegen vorhandener Mängel"
setze voraus, dass der Kaufpreisanspruch des Verkäufers für die vom
Käufer beanstandete Ware im Streite liege; vor allem aber wolle das
Gesetz mit der einjährigen Verjährungsfrist für eine rasche Erledigung
der Gewährleistungsfragen sorgen, weil sich nach längerer Zeit die
Begründetheit der Mängelrüge oft nicht mehr einwandfrei abklären lasse;
nach Ablauf eines Jahres seit der Ablieferung der Ware solle der Verkäufer
nicht mehr mit Gewährleistungsansprüchen rechnen müssen; von diesem
Grundsatze sei nach Art. 210 Abs. 2 OR nur dann eine Ausnahme zu machen,
wenn der Verkäufer mit der Geltendmachung seiner Kaufpreisforderung
selber länger zögert; die gegenteilige Auffassung gäbe dem Käufer die
Möglichkeit, "die Bestimmungen über die Verjährung dadurch zu umgehen,
dass er seine Ansprüche erst dann geltend macht, wenn er auf Grund eines
andern Rechtsgeschäftes neuerdings Schuldner des Verkäufers geworden
ist; ja er könnte sogar einen neuen Kreditkauf mit diesem gerade in der
Absicht schliessen, dadurch seine verjährten Gewährleistungsansprüche
wieder aufleben zu lassen"; das könne nicht der Sinn von Art. 210 Abs. 2
OR sein (ZR 1949 Nr. 152 S. 294).

    Die Wendung "Einreden des Käufers wegen vorhandener Mängel" bezeichnet
nur den Rechtsgrund des eigenen Anspruchs des Käufers, nicht auch den
Rechtsgrund der Gegenforderung, der sich der Käufer durch die Einrede
widersetzt. Der Wortlaut des Art. 210 Abs. 2 OR steht also der Auffassung,
dass der Käufer diese Bestimmung auch zur Abwehr einer nicht aus dem
betreffenden Kaufe herrührenden Gegenforderung anrufen kann, nicht im
Wege. Er ist gegenteils so allgemein gehalten, dass er geradezu für diese
Lösung spricht.

    Diese Auffassung verdient auch aus sachlichen Gründen den
Vorzug. Art. 210 Abs. 2 OR macht den Weiterbestand der Einreden
wegen vorhandener Mängel davon abhängig, dass innerhalb eines Jahres
nach Ablieferung die vorgeschriebene Anzeige an den Verkäufer erfolgt
ist. Erforderlich ist also, dass der Käufer die Mängel gemäss Art. 201 OR
sofort nach der gebotenen Untersuchung der empfangenen Sache oder, wenn
sie damals noch nicht erkennbar waren, sofort nach ihrer Entdeckung rügt
und dass dies innert eines Jahres seit der Ablieferung geschieht. Damit
ist hinlänglich dafür gesorgt, dass der Verkäufer nicht zu lange im
Ungewissen darüber bleibt, ob er mit Ansprüchen des Käufers wegen
Sachmängeln zu rechnen habe oder nicht. Hat der Käufer die Mängel
rechtzeitig gerügt, so hat er, falls er in der Lage ist, die daraus
fliessenden Ansprüche einredeweise geltend zu machen, alles getan,
was von ihm zu erwarten ist. Es ist dann Sache des Verkäufers, der die
Mängel oder die darauf gestützte Einrede nicht anerkennen will, seine
Forderung einzuklagen. Hiebei macht es keinen Unterschied, ob diese aus
dem betreffenden Kauf abgeleitet wird. Auch wenn das nicht zutrifft,
muss der Verkäufer, dem die Mängel angezeigt wurden, damit rechnen,
dass seine Forderung wegen dieser Mängel bestritten werde, und hat daher
allen Grund, den Streit vor den Richter zu tragen. Ihm ist das zuzumuten,
nicht dem Käufer, dem das Verrechnungsrecht zusteht.

    Dem Käufer dieses Recht nach Ablauf der einjährigen Verjährungsfrist
des Art. 210 Abs. 1 OR nur noch mit Bezug auf Gegenforderungen aus
dem fraglichen Kauf zu gewähren, wie die Befürworter einer engen
Auslegung von Art. 210 Abs. 2 es tun möchten, widerspricht dem Sinne
von Art. 120 OR. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung hängt die Zulässigkeit der
Verrechnung nur davon ab, dass Forderung und Gegenforderung fällig sind
und gleichartige Leistungen zum Gegenstand haben, und Abs. 3 gestattet
dem Schuldner allgemein, eine verjährte Forderung zur Verrechnung
zu bringen, wenn sie zu der Zeit, wo sie mit der andern Forderung
verrechnet werden konnte, noch nicht verjährt war. Dass die beiden
Forderungen auf dem gleichen Sachverhalt beruhen, ist nach Art. 120
OR nicht erforderlich. Art. 210 Abs. 2 OR will an dieser Ordnung
nichts ändern. Er begnügt sich damit, den Weiterbestand der Einreden
wegen vorhandener Mängel nach Ablauf der einjährigen Verjährungsfrist
des Art. 210 Abs. 1 und damit auch die Befugnis des Käufers, eine aus
Sachmängeln abgeleitete Schadenersatzforderung nach Ablauf dieser Frist
zur Verrechnung zu bringen, der Bedingung zu unterwerfen, dass die Mängel
innert eines Jahres seit Ablieferung der Sache gehörig gerügt wurden.

    Dass Art. 210 Abs. 2 OR einschränkend ausgelegt werden müsse,
um die Gefahr einer Umgehung der Bestimmungen über die Verjährung zu
vermeiden, trifft entgegen der in ZR 1949 Nr. 152 vertretenen Auffassung
nicht zu. Ein Versuch des Käufers, verjährte Ansprüche aus Sachmängeln
durch Eingehung einer neuen Verbindlichkeit gegenüber dem Verkäufer,
insbesondere durch Bezug von Waren auf Kredit, wieder aufleben zu
lassen, würde schon an Art. 120 Abs. 3 OR scheitern. Die hier für die
Verrechnung einer verjährten Forderung aufgestellte Voraussetzung, dass
diese Forderung zur Zeit, wo sie mit der andern verrechnet werden konnte,
noch nicht verjährt war, ist nur gegeben, wenn die andere Forderung vor
der Verjährung entstanden und fällig geworden ist.

    Die von der Klägerin im vorliegenden Prozess erklärte Verrechnung
ist daher zu schützen, soweit ihre Schadenersatzforderung auf innert
eines Jahres seit Ablieferung gehörig gerügten Mängeln beruht, begründet
ist und noch nicht verjährt war, als die Gegenforderungen der Beklagten
fällig wurden.