Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 I 321



90 I 321

49. Auszug aus dem Urteil vom 16. Dezember 1964 i.S. Süess gegen
Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Aargau. Regeste

    Spielapparate.

    1.  Das Bundesgesetz über die Spielbanken hindert die Kantone nicht,
Spiele zu verbieten, die es selber frei lässt. Solche Verbote sind,
falls polizeilicher Natur und verhältnismässig, mit Art.31 BV vereinbar
(Erw. 2).

    2.  Grundsatz der Gesetzmässigkeit der Verwaltung. Art. 39 lit. b
aarg. KV verleiht dem Regierungsrat kein Rechtsverordnungsrecht (Erw. 3).

    3.  Willkürliche Anwendung der aarg. Verordnung über die gewerbsmässige
Verwendung von Spielautomaten (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Der Regierungsrat des Kantons Aargau hat am 17.  August 1956
eine Verordnung über die gewerbsmässige Verwendung von Spielautomaten
(in der Folge kurz Automaten-Verordnung genannt) erlassen, die gemäss
§ 1 Abs. 1 alle Spielautomaten erfasst, welche nicht unter das in Art.
3 des Bundesgesetzes über die Spielbanken ausgesprochene Verbot fallen. §
1 Abs. 2 der Verordnung untersagt, "Spielapparate, bei denen ein Geld-
oder Sachgewinn in Aussicht steht", zum öffentlichen Gebrauch gegen
Entgelt aufzustellen. Zuwiderhandlungen gegen dieses Verbot werden laut §
8 der Verordnung mit Busse bis zu Fr. 500.-- bestraft.

    B.- Süess stellte 1962 in Wirtschaften in Oberentfelden und Beinwil
am See sogenannte Flipper-Automaten auf. Es handelt sich um Spielgeräte
der in BGE 78 I 80 beschriebenen Art, die den Spieler bei Erreichen einer
bestimmten Punktzahl zu einem oder mehreren Freispielen zulassen. Das
Bezirksgericht Aarau erblickte darin eine Übertretung des § 1 Abs. 2
der Automaten-Verordnung; es verurteilte Süess deswegen zu einer Busse
von Fr. 40.-. Süess zog den Entscheid an das Obergericht des Kantons
Aargau weiter, wobei er geltend machte, die Verordnung entbehre der
gesetzlichen Grundlage und sei daher nicht anwendbar; jedenfalls aber
könne die Vermittlung eines Freispieles nicht als Geld- oder Sachgewinn
im Sinne von § 1 Abs. 2 der Verordnung betrachtet werden. Das Obergericht
hat am 4. September 1964 diese Einwendungen mehrheitlich als unbegründet
erklärt und die Berufung abgewiesen.

    C.- Süess führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 und 31 BV sowie der Gewaltentrennung mit dem Antrag, er sei in
Aufhebung des Urteils des Obergerichts freizusprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales).

Erwägung 2

    2.- Das Bundesgericht hat in BGE 78 I 83 ff. erkannt, dass der
Betrieb von Spielautomaten der hier in Frage stehenden Art nicht gegen
Art 3 des Bundesgesetzes über die Spielbanken verstösst. Dieses Gesetz
stellt indessen keine abschliessende Ordnung des Spielapparatewesens auf;
es hindert die Kantone nicht, Spiele zu untersagen, die es selber frei
lässt (BGE 80 I 352). Art. 31 BV steht dem Erlass eines solchen Verbotes
gleichfalls nicht entgegen, sofern es auf polizeilichen Gründen beruht,
das heisst der Wahrung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit, Sittlichkeit
und Gesundheit oder von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr dient, und es
den Grundsatz der Verhältnismässigkeit berücksichtigt (BGE 80 I 353). Das
in § 1 Abs. 2 der aargauischen Automaten-Verordnung ausgesprochene Verbot
von Spielapparaten, die einen Geld- oder Sachgewinn in Aussicht stellen,
ist klarerweise polizeilicher Natur. Der Beschwerdeführer behauptet zwar,
die betreffende Vorschrift sei unverhältnismässig; er tut jedoch nicht
dar, inwiefern diese Massnahme über das hinausgehe, was zur Erreichung
des angestrebten polizeilichen Zwecks erforderlich ist. Die Rüge der
Verletzung des Art. 31 BV ist damit unbegründet.

Erwägung 3

    3.- Nach dem Grundsatz der Gesetzmässigkeit der Verwaltung müssen die
der Freiheit des Bürgers gezogenen Schranken und die darauf gesetzten
Strafen wie jedes Verwaltungshandeln auf gesetzlicher Grundlage
beruhen, das heisst sich auf eine generell-abstrakte Norm stützen,
die ihrerseits materiell und formell verfassungsmässig ist (BGE 89 I
470 mit Verweisungen). Das angefochtene Urteil ist in Anwendung des §
1 Abs. 2 der regierungsrätlichen Automaten-Verordnung ergangen. Der
Beschwerdeführer bestreitet, dass diese Verordnung die gesetzliche
Grundlage für die ausgesprochene Strafe abgeben könne, da sie selber
verfassungswidrig sei. Diese Rüge ist zulässig. Mangels Anfechtung der
Verordnung innert der Beschwerdefrist des Art. 89 OG kann der Erlass als
solcher zwar nicht mehr aufgehoben werden. Das hindert das Bundesgericht
aber nicht, in jedem einzelnen Anwendungsfall vorfrageweise zu prüfen,
ob die angewendete Bestimmung die Verfassung verletze (BGE 83 I 113/14;
84 I 21 Erw. 2, 104 Erw. 2, 110 Erw. 1, 164 Erw. 2; 86 I 274 Erw. 1;
88 I 83 Erw. 1, 265).

    Der Einwand, § 1 Abs. 2 der Automaten-Verordnung verstosse gegen
Art. 31 BV, geht nach dem in Erw. 2 Gesagten fehl. Der Beschwerdeführer
verneint jedoch nicht nur die materielle, sondern auch die formelle
Verfassungsmässigkeit der angewendeten Bestimmung, indem er geltend macht,
dieser fehle die gesetzliche Grundlage. Die genannte Verordnung stützt
sich laut Ingress auf "Art. 39, lit. b, der Staatsverfassung, das Gesetz
über den Markt- und Hausierverkehr vom 12. März 1879, den § 1, lit. m, des
Dekretes betreffend die vom Staate zu beziehenden Gebühren vom 22. März
1921 sowie das Gesetz betreffend die Einführung des Schweizerischen
Strafgesetzbuches im Kanton Aargau vom 21. Juli 1941". Das Bundesgericht
hat in BGE 83 I 114 ff. festgestellt, dass der Regierungsrat gestützt
auf Art. 39 lit. b KV wohl Vollziehungs- und Notverordnungen erlassen
kann, nicht aber Rechtsverordnungen. Die Automaten-Verordnung ist ihrem
Inhalte und ihrer Entstehung nach keine Notverordnung; es kann sich dabei
nur um eine Vollziehungsverordnung handeln. Das Gebühren-Dekret und das
EG StGB enthalten keine Bestimmungen, deren Vollziehung der § 1 Abs. 2
der Automaten-Verordnung dienen könnte. Ob das Gesetz über den Markt- und
Hausierverkehr den Regierungsrat zum Erlass dieser Vorschrift ermächtige,
ist zweifelhaft. Die Frage kann jedoch offen bleiben. Wie sich im Folgenden
ergeben wird, ist die Annahme, der vorliegende Sachverhalt erfülle den
Tatbestand des § 1 Abs. 2 der Automaten-Verordnung, willkürlich. Der
angefochtene Entscheid ist daher selbst dann verfassungswidrig, wenn die
angewendete Verordnungsbestimmung in Ausführung des Gesetzes über den
Markt- und Hausierverkehr erlassen wurde und damit als solche rechtmässig
ist.

Erwägung 4

    4.- § 1 Abs. 2 der Automaten-Verordnung verbietet, Spielapparate,
"bei denen ein Geld- oder Sachgewinn in Aussicht steht", zu öffentlichem
Gebrauch gegen Entgelt aufzustellen. Die vom Beschwerdeführer aufgestellten
Flipper-Automaten ermöglichen dem Spieler bei Erreichen einer bestimmten
Punktzahl ein oder mehrere Freispiele. Die Mehrheit des Obergerichts hat
diesen Vorteil als Geld- oder Sachgewinn angesprochen. Das Bundesgericht
kann die Auslegung der Verordnungsbestimmung, die diesem Schlusse zugrunde
liegt, ungeachtet der Anrufung der Handels- und Gewerbefreiheit nur unter
dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür überprüfen (BGE 64 I 9;
79 I 122; 80 I 353; 84 I 109/10; 87 I 119, 267/68; BONNARD, ZSR 81 II
S. 481 ff.).

    Als der Regierungsrat am 17. August 1956 die Automaten-Verordnung
erliess, stand das Bundesgesetz über die Spielbanken vom 5. Oktober
1929 schon mehr als 25 Jahre in Kraft. Bei der Anwendung dieses Gesetzes
hatten sich Schwierigkeiten daraus ergeben, dass Art. 2 Abs. 2 nur von
Spielen um "Geldgewinne" spricht, während es sich in der Praxis zeigte,
dass Spielautomaten, die dem erfolgreichen Spieler statt Geld geldwerte
Gebrauchsgegenstände verabfolgen, die gleiche Wirkung auf das Publikum
ausüben. Das Bundesgericht hat in ausdehnender Auslegung des Art. 2 Abs. 2
Gegenstände, die für den Gewinner wesentlich dieselbe Bedeutung haben
wie Geld, den Geldgewinnen gleichgestellt (BGE 64 I 119/20). Es hatte
sich sodann darüber auszusprechen, ob dieser erweiterte Gewinnbegriff
auch die Abgabe von Freispielen erfasse. In der Erwägung, dass es dem
Spieler dabei meistens lediglich um eine Verlängerung der Spieldauer gehe,
hat das Bundesgericht diese Folgerung für den Regelfall abgelehnt und
nur ausnahmsweise bejaht, wenn bestimmte Anhaltspunkte dafür vorlagen,
dass die Gewinner die zum Freispiel berechtigenden Marken (oder Bälle)
in nennenswertem Umfang als Zahlungsmittel benützten oder gegen Geld
umwechselten (BGE 64 I 121, 78 I 83 Erw. 3).

    Der Regierungsrat dürfte sich bei Erlass der Automaten-Verordnung
auf diese Rechtsprechung gestützt haben; zumindest hat er sich aber
die Erkenntnis zu eigen gemacht, dass im Rahmen des gesetzgeberischen
Zieles neben den Geldgewinnen auch andere Gewinnformen Bedeutung
erlangen. Er stellte daher in § 1 Abs. 2 der Automaten-Verordnung die
"Sachgewinne" neben die Geldgewinne. Wenn auch nicht gesagt ist, dass
der Sachbegriff dieser kantonalen verwaltungsrechtlichen Bestimmung dem
des eidgenössischen Zivilrechts entspreche, das darunter nur körperlich
greifbare Güter versteht (MEIER-HAYOZ, Das Eigentum, Systematischer Teil,
N. 61), so verbietet es doch schon der Wortsinn, unter einem "Sachgewinn"
etwas anderes als ein Gut zu verstehen, das einen Vermögensbestandteil
bilden kann. Der Gewinn muss demnach materieller Art sein. Das ergibt
sich auch aus der Zwecksetzung der Automaten-Verordnung. Wohl liegt
ihr wie dem Spielbankengesetz (vgl. BGE 60 I 250) der Gedanke zugrunde,
dass das Glücksspiel und die Spielleidenschaft das sittliche Volkswohl
gefährde. Um nicht mehr als unbedingt erforderlich in die Privatsphäre der
Bürger einzugreifen, hat sich der Gesetzgeber jedoch darauf beschränkt,
den sozial schädlichsten Formen des Spielgewerbes entgegenzutreten. Als
solche erachtete er jene Einrichtungen, die dem Spieler nicht nur eine
Unterhaltung, sondern darüber hinaus einen materiellen Gewinn versprechen.

    Die Mehrheit des Obergerichts glaubt, die Freispiele, welche die
Automaten des Beschwerdeführers in Aussicht stellen, als materiellen Gewinn
bezeichnen zu können, weil der Gewinner sich auf diese Weise den Einsatz
für das nächste Spiel ersparen könne und er um die Ersparnis bereichert
sei, und weil er die Möglichkeit habe, das Anrecht auf das Freispiel
einem Dritten zu verkaufen. Diese Überlegungen verkennen die Einstellung
und die Gewohnheiten der Benützer derartiger Apparate. Der Spieler, der
ein Freispiel gewinnt, wird in der Regel nicht weniger Geld für sein
Vergnügen ausgeben, als er es ohnedies getan hätte; er wird lediglich
das Spiel etwas länger ausdehnen. Es kann deshalb im Ernste nicht davon
die Rede sein, dass der Gewinn eines oder mehrerer Freispiele zu einer
Bereicherung des Gewinners führe; der Spieler lässt sich in diesem
Sinne nicht einen materiellen Gewinn, sondern vermehrte Unterhaltung
in Aussicht stellen. Weil es dem Spieler dergestalt um eine Ausdehnung
seines Vergnügens geht, kommt es denn auch, wie das Bundesgericht in
BGE 78 I 83/84 festgestellt hat, im allgemeinen selten vor, dass er
das gewonnene Anrecht auf ein Freispiel gegen Entgelt einem Dritten
abtritt. Aus den vorliegenden Akten ergibt sich nichts, was die Erfahrung
widerlegte und dafür spräche, dass es unter den Benützern der Spielgeräte
des Beschwerdeführers mehr als nur ganz vereinzelt zu einem Handel
mit Freispielanrechten komme. Auf bloss entfernte Möglichkeiten einer
materiellen Verwertung des Gewinns ist aber bei dem hier zu treffenden
Entscheid nicht Rücksicht zu nehmen (vgl. BGE 56 I 393, 64 I 120, 78 I 84).

    Da es an konkreten Anhaltspunkten für Missbräuche der erwähnten
Art fehlt, geht es unter den gegebenen Verhältnissen nicht an, der
Gewinn eines oder mehrerer Freispiele als Sachgewinn zu bezeichnen. Es
ist daher willkürlich, den § 1 Abs. 2 der Automaten-Verordnung auf die
Gegenstand der Untersuchung bildenden Handlungen des Beschwerdeführers
anzuwenden. Der angefochtene Entscheid ist insofern verfassungswidrig
und deshalb aufzuheben. Unter dem Vorbehalte einer Überprüfung der
Verfassungsmässigkeit des § 1 Abs. 2 der Automaten-Verordnung (vgl. Erw. 3)
ist es den kantonalen Behörden jedoch unbenommen, erneut gegen den
Beschwerdeführer vorzugehen, wenn sich Anzeichen dafür ergeben, dass es
unter den Gewinnern von Freispielen zu einem Handel mit Anrechten kommt.