Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 57



90 IV 57

13. Urteil des Kassationshofes vom 2. Juli 1964 i.S. Maillard gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 15 StGB erlaubt nicht, die Behandlung ambulant durchzuführen
(Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Maillard ist wiederholt wegen exhibitionistischer Handlungen
zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, zuletzt im Jahre 1958, wobei
der Vollzug der Strafe aufgeschoben und eine ambulante Behandlung des
vermindert zurechnungsfähigen Verurteilten angeordnet wurde. Im Sommer
1960 exhibitionierte Maillard erneut. Das in diesem Strafverfahren
eingeholte Gutachten kam zum Schluss, die Willensfähigkeit des infolge
einer Charakter- und Sexualneurose geistig mangelhaft entwickelten
Angeklagten sei in mittlerem Grade herabgesetzt gewesen. Rückfälle könnten
nicht ausgeschlossen werden, doch sei die Gefährdung der Öffentlichkeit
nicht so gross, dass eine Verwahrung nach Art. 14 StGB nötig sei. Trotz
der fortbestehenden Behandlungsbedürftigkeit des Angeklagten sei von
seiner Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt gemäss Art. 15 StGB
eher abzuraten, weil seine querulatorische Entwicklung und oppositionelle
Haltung den Erfolg einer Anstaltsbehandlung wahrscheinlich in Frage stellen
würden. Es empfehle sich daher, die nach der letzten Verurteilung begonnene
ambulante Behandlung fortzusetzen.

    B.- Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte Maillard am 31. Mai
1963 in Anwendung von Art. 203 und 11 StGB zu einem Monat Gefängnis. Es
sah von einer Massnahme nach Art. 14 und 15 StGB ab und verweigerte dem
Verurteilten mit Rücksicht auf seine Vorstrafen und die Rückfallgefahr
den bedingten Strafvollzug. Seinen Antrag, ihn gestützt auf Art. 15 StGB
ambulant behandeln zu lassen, lehnte es mit der Begründung ab, dass für
eine solche Massnahme die gesetzliche Grundlage fehle.

    C.- Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt,
das Urteil des Obergerichts wegen Verletzung von Art. 15 StGB aufzuheben
und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die ambulante
Heilbehandlung anordne und den Strafvollzug einstelle.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 15 Abs. 1 StGB sieht in keinem der drei Gesetzestexte die
ambulante Behandlung vor. Wie in BGE 77 IV 132 ausgeführt wurde, hat der
Ausdruck Behandlung neben dem der Versorgung keine selbständige Bedeutung
in dem Sinne, dass die Gestaltung der Behandlung dem Richter überlassen
wäre und nur die Versorgung in einer Anstalt vollzogen werden müsste,
sondern die Wendung in einer Heil- und Pflegeanstalt bezieht sich sowohl
auf die Behandlung wie die Versorgung. Dieser grammatikalischen Auslegung
steht nicht entgegen, dass der französische Text am Schlusse des Satzes
zwischen "ce traitement" und "cette hospitalisation" unterscheidet; dies
erklärt sich dadurch, dass wegen der geschlechtlichen Verschiedenheit von
traitement und hospitalisation die Wiederholung des Demonstrativpronomens
notwendig war. Dem Sinn der eindeutigeren deutschen Fassung entspricht
auch, dass in der parlamentarischen Beratung von einer Behandlung
ausserhalb einer Anstalt nicht die Rede war.

    Schliesst Art. 15 Abs. 1 für sich allein die ambulante Behandlung
nicht zwingend aus, wie der Beschwerdeführer einwendet, so ergibt
sich dieser Ausschluss jedenfalls im Zusammenhang mit Art. 17 Ziff. 2
StGB. Diese Bestimmung bezeichnet den Behandelten und den Versorgten
in gleicher Weise als Eingewiesenen, was voraussetzt, dass in allen
Fällen eine Anstaltseinweisung stattgefunden hat, unter der nur eine
solche in eine Heil- oder Pflegeanstalt verstanden werden kann. Das wird
noch dadurch bestätigt, dass die Behörde den Eingewiesenen probeweise
entlassen, dem Entlassenen Weisungen erteilen und ihn in die Heil- und
Pflegeanstalt zurückversetzen kann. Aus diesem klaren Wortlaut folgt,
dass der Gesetzgeber die Behandlung abschliessend geregelt hat und keine
Ausnahmen zulassen wollte. Die Auslegung des Beschwerdeführers, wonach der
Begriff der Behandlung sowohl die ambulante wie die Behandlung in einer
Anstalt erfasse, Art. 17 aber nur den letztern Fall im Auge habe, verträgt
sich nicht mit der in sich geschlossenen Ordnung des Gesetzes. Hätte
der Ausdruck Behandlung tatsächlich diesen doppelten Sinn, so hätte sich
aufgedrängt, dies in Art. 15 oder 17 StGB zum Ausdruck zu bringen.

Erwägung 2

    2.- Dass es Fälle geben kann, in denen der Erfolg der Behandlung
grösser ist, wenn sie ambulant statt während eines Anstaltsaufenthaltes
vorgenommen wird, ist nicht zu bestreiten. Die ambulante Behandlung
einzig auf Grund dieses Bedürfnisses und des in Aussicht gestellten
Heilerfolges zuzulassen mit der Folge, dass nach Art. 15 Abs. 2 StGB der
Strafvollzug aufgeschoben und nach der Behandlung möglicherweise auf ihn
verzichtet werden müsste (Art. 17 Ziff. 3), ginge jedoch zu weit. Das
hiesse, die Strafe, die auch der vermindert Zurechnungsfähige verdient und
grundsätzlich zu verbüssen hat, allgemein der Heilbehandlung unterzuordnen
und es ausschliesslich von deren Erfolg abhangen zu lassen, ob die Strafe
noch zu vollziehen sei oder nicht. Der Beschwerdeführer macht denn auch
geltend, das Strafgesetzbuch räume der resozialisierenden Massnahme immer
den Vorrang vor der Strafe ein. Ein Grundsatz von so allgemeiner Tragweite
kann aber dem Gesetz nicht entnommen werden, auch nicht daraus, dass es in
gewissen Fällen auf den Erfolg der Massnahme abstellt und zu dessen Gunsten
auf den Vollzug der Strafe ganz oder teilweise verzichtet. Insbesondere
ist das Jugendstrafrecht, das eine besondere Regelung erforderte, nicht
geeignet, allgemein auf einen Vorrang der auf Erwachsene anwendbaren
Massnahmen zu schliessen. Auch der bedingte Strafvollzug (Art. 41 StGB)
taugt nicht dazu, da der Vollzug der Strafe nur unterbleibt, wenn der
Verurteilte eine Reihe näher umschriebener Erfordernisse erfüllt, und
ebenso wird bei der Erziehung Liederlicher und Arbeitsscheuer (Art. 43)
und bei der Behandlung von Gewohnheitstrinkern (Art. 44) nur unter ganz
bestimmten Voraussetzungen auf den Vollzug der Strafe verzichtet. Strafen
und Massnahmen sind an sich einander gleichgestellt, und nur wo es im
Einzelfall das Gesetz vorsieht, darf vom Vorrang der Massnahme ausgegangen
werden. In Art. 15 StGB trifft diese Voraussetzung nicht zu. Der Vollzug
der Strafe wird hier aufgeschoben, weil die Bestimmung die Einweisung
in eine Heil- oder Pflegeanstalt vorschreibt und es schon mit Rücksicht
auf den damit verbundenen Entzug der Freiheit gerechtfertigt sein kann,
von einer Verbüssung der Strafe abzusehen (BGE 77 IV 134). Massgebend für
den Verzicht auf den Strafvollzug ist also nicht allein der Erfolg der
Behandlung, sondern ebensosehr der Freiheitsentzug in der Anstalt. Die
ambulante Behandlung, mag sie auch gewisse Unannehmlichkeiten mit sich
bringen, kann der Einweisung in eine Heil- oder Pflegeanstalt nicht
gleichgestellt werden; sie kann daher auch nicht wie die Massnahme des
Art. 15 StGB gleichzeitig dem Sühne- und Abschreckungszweck der Strafe
gerecht werden. Es wäre auch nach allgemeiner Rechtsanschauung schwer
zu verstehen, wenn dem vermindert zurechnungsfähigen Rechtsbrecher, der
durch die von Staates wegen angeordnete Heilbehandlung ohnehin begünstigt
wird, dadurch, dass er der Strafverbüssung entgehen könnte, eine weitere
Bevorzugung zuteil würde (BGE 74 IV 2).

Erwägung 3

    3.- Weil die ambulante Behandlung nicht ohne weiteres mit Art. 15
StGB vereinbar ist, könnte sie auch nicht schlechthin, sondern nur unter
Einschränkungen zugelassen werden. Selbst Autoren, die diese Massnahme
als zulässig betrachten, sehen sich zu Vorbehalten veranlasst, indem sie
die ambulante Behandlung insbesondere dann, wenn sie mit einer Gefährdung
Dritter verbunden wäre, was in der Regel bei längeren Gefängnisstrafen
zutreffe, ablehnen und die Einstellung des Strafvollzuges einzig dort
für angezeigt halten, wo dieser den Zweck der Behandlung vereiteln würde
(GERMANN, ZStR 1953, S. 91 f.; WAIBLINGER, ZbJV, 1954, S. 429 f.). Dass
die ambulante Behandlung dem Sinn und Zweck des Art. 15 StGB angepasst
werden müsste und ihre Einführung daher einer einschränkenden Regelung
bedürfte, ergibt sich auch aus dem Revisionsentwurf der Expertenkommission
vom 8. April 1959. Art. 44 bis dieses Entwurfes sieht in Abweichung von
Art. 15 Abs. 2 StGB vor, dass bei ambulanter Behandlung der Vollzug von
Freiheitsstrafen von über drei Monaten nicht aufgeschoben werden dürfe,
und dass bei kürzeren Strafen der Aufschub angeordnet werden könne, aber
nicht müsse. Nach der gleichen Bestimmung kann sodann der Verurteilte,
wenn sich die ambulante Behandlung als unzweckmässig erweist und
sein Geisteszustand es erfordert, noch nachträglich in eine Heil- oder
Pflegeanstalt eingewiesen werden. Der Entwurf regelt auch die probeweise
Entlassung und die Voraussetzungen, unter denen nach der Behandlung
die Strafe nicht mehr vollstreckt werden darf, alles Bestimmungen, die
auch auf die ambulante Behandlung Anwendung finden sollen. Zur Erzielung
einer befriedigenden Lösung wären also ins einzelne gehende Vorschriften
unerlässlich. Solche können aber nicht auf dem Wege freier richterlicher
Rechtsfindung, sondern nur vom Gesetzgeber erlassen werden.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.