Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 36



90 IV 36

9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. Januar 1964
i.S. Müller gegen Polizeirichteramt Zürich. Regeste

    Art. 27 Abs. 1 MFG. Der innerorts auf einer Hauptverkehrsader Fahrende
hat dem aus einer sechs Meter breiten Seitenstrasse einbiegenden Fahrzeug
den Rechtsvortritt zu lassen; er darf dessen Sicherheitshalt nicht
leichthin als Verzicht auf das Vortrittsrecht auslegen, mag er sich auch
in einer Kolonne befinden.

Sachverhalt

    A.- Müller fuhr am 28. November 1962 gegen Mittag am Steuer seines
Personenwagens auf der Limmattalstrasse in Zürich stadtauswärts. Als er
sich mit 30-40 km/Std. als letzter einer Fahrzeugkolonne der von rechts
einmündenden Bläsistrasse näherte, fuhr von dort her ein Personenwagen, der
von Christine M. gesteuert war, auf die Hauptstrasse. Christine M. hatte an
der Einmündung einen Sicherheitshalt eingeschaltet und beabsichtigte dann,
die Lücke zwischen den letzten zwei Fahrzeugen der stadtauswärts fahrenden
Kolonne benützend, nach links in die Limmattalstrasse einzubiegen. Sie
hatte die 20 m breite Hauptstrasse bereits zu einem Drittel überquert,
als das Auto Müllers auf der Höhe der Hinterräder gegen die linke Seite
ihres Wagens stiess. Es entstand beträchtlicher Sachschaden.

    B.- Der Polizeirichter der Stadt Zürich und auf Einsprache hin am
31. Oktober 1963 auch der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichtes
Zürich verfällten Müller wegen Verletzung von Art. 27 Abs. 1 MFG in eine
Busse von Fr. 30.-.

    C.- Müller führt gegen das Urteil des Einzelrichters
Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, es aufzuheben und die Sache zu
seiner Freisprechung zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 27 Abs. 1 MFG hatte Christine M. das Vortrittsrecht,
weil sie gleichzeitig von rechts kam und die Einmündung der Bläsistrasse
in die Hauptstrasse sich innerorts befindet, die Sonderregelung des
Art. 27 Abs. 2 MFG hier also gemäss Art. 2 BRB vom 26. März 1934 über
die Hauptstrassen mit Vortrittsrecht nicht gilt. Daran ändert auch der
Hinweis auf BGE 84 IV 33 f. und die dort angeführten Urteile nichts. Diese
Rechtsprechung will nur die Einmündungen solcher Strässchen von der Regel
des Art. 27 Abs. 1 MFG ausnehmen, die im Verhältnis zur Hauptstrasse
praktisch ohne Verkehrsbedeutung sind und auch äusserlich, nach ihrer
Anlage und Grössenordnung, als unbedeutender Verkehrsweg in Erscheinung
treten (BGE 85 IV 38 f.). Auf die Bläsistrasse trifft das nicht zu. Sie
hat gemäss dem bei den Akten liegenden Plan eine Fahrbahnbreite von
sechs Metern und weist, wie die Vorinstanz verbindlich feststellt,
als Quartierstrasse eines dichtbewohnten Gebietes einen beachtlichen
Anliegerverkehr auf.

    Ebensowenig hilft dem Beschwerdeführer, dass der Vortrittsberechtigte
aus der Nebenstrasse verpflichtet ist, besonders aufmerksam zu fahren (BGE
76 IV 257). Art. 27 MFG verlangt im Hinblick auf das Vortrittsrecht des
von rechts Kommenden ausdrücklich, dass an Gabelungen und Kreuzungen,
denen Einmündungen gleichgestellt sind (BGE 81 IV 251, 82 IV 24),
die Geschwindigkeit gemässigt werde, schreibt also auch den auf der
Hauptstrasse Fahrenden Rücksichtnahme auf Vortrittsberechtigte vor. Haben
aber die Benützer der Hauptverkehrsader ebenfalls damit zu rechnen,
dass sie einem aus der Nebenstrasse Kommenden den Vortritt lassen müssen,
so haben sie ihre Fahrweise diesem Umstand anzupassen (BGE 81 IV 294 und
dort angeführte Urteile).

Erwägung 3

    3.- Dieser Pflicht hat der Beschwerdeführer nicht genügt. Als Müller
den an der Einmündung anhaltenden Wagen der Christine M. erblickte, war
er nach seinen eigenen Angaben noch 43 m von der Kreuzung entfernt. Auf
diese Entfernung hätte er bei pflichtgemässem Verhalten noch Zeit genug
gehabt, die Geschwindigkeit zu mässigen und der von rechts Kommenden den
Vortritt zu lassen. Dies wäre ihm umsomehr möglich gewesen, als er nach
der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz sogar bei unverminderter
Geschwindigkeit nur ein wenig nach rechts hätte halten müssen, um
hinter dem seine Fahrbahn kreuzenden Wagen durchzukommen und damit den
Zusammenstoss, wenn auch knapp, so doch zu vermeiden. Der Umstand, dass
er am Schluss einer Kolonne fuhr, berechtigte ihn nicht zur Annahme,
Christine M. werde um seinetwillen noch länger anhalten. Ebensowenig
durfte er aus ihrem Sicherheitshalt leichthin folgern, sie verzichte
auch ihm gegenüber auf den Vortritt. Sie war keineswegs verpflichtet,
alle von links kommenden Fahrzeuge vorbeifahren zu lassen, mögen diese
sich auch in einer Kolonne genähert haben. Die gegenteilige Auffassung
des Beschwerdeführers liefe darauf hinaus, dass sich die Benützer der
Hauptstrasse wie Vortrittsberechtigte gebärden dürften, obschon ihnen die
Berechtigung nicht zusteht. Damit aber würde die Ordnung des Art. 27 MFG
in ihr Gegenteil verkehrt. Christine M. brauchte auch nicht irgendwie
kundzutun, dass sie die Lücke zwischen den zwei letzten Fahrzeugen der
vorbeifahrenden Kolonne benützen wolle, um von ihrem Vortrittsrecht endlich
Gebrauch zu machen. Der Beschwerdeführer hätte sich vielmehr sagen müssen,
dass das der Fall sei, und hätte auf Verzicht nur schliessen dürfen,
wenn die von rechts Kommende ihm ein eindeutiges Zeichen gegeben hätte
(BGE 85 IV 39 f. und dort angeführte Urteile). Dass ein solches Zeichen
gegeben worden sei, behauptet der Beschwerdeführer nicht. Es entschuldigt
ihn auch nicht, dass er von der Gefahr überrascht wurde. Er hat es seinem
eigenen pflichtwidrigen Verhalten, der Missachtung des Vortrittsrechtes,
zuzuschreiben, dass er in die Gefahr geriet, erschrak und deshalb den
Zusammenstoss nicht mehr vermeiden konnte.