Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 265



90 IV 265

56. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. Dezember 1964
i.S. Nikles gegen Eheleute Bonnet. Regeste

    1.  Art. 271 Abs. 2 BStP, Art. 55 Abs. 1 lit. a OG.
Nichtigkeitsbeschwerde im Zivilpunkt. Erfordernis der Angabe des
Streitwertes in der Beschwerdeschrift (Erw. 1).

    2.  Art. 59 Abs. 1 SVG. Ausschluss der Halterhaftung. Der Umstand,
dass zur Ausbesserung des Strassenbelages von Hand aufbereitetes
Kaltteer-Mischgut verwendet wurde, dessen Baustoffe zu wenig genau
abgewogen und dem zu feines Gesteinsmaterial beigegeben worden war,
begründet kein grobes Verschulden der staatlichen Strassenbauorgane. Die
Glätte der Flickstelle, auf der das Fahrzeug ins Schleudern geriet,
stellt keine höhere Gewalt dar (Erw. 2).

Sachverhalt

    Als sich Nikles am 14. Juli 1961 gegen 18 Uhr auf der Heimfahrt
vor Frutigen der Ortstafel näherte, wo eine langgezogene Rechtsbiegung
beginnt, setzte er durch leichtes Bremsen seine Geschwindigkeit von 70-80
km/Std. auf 60 km/Std. herab. Da er unmittelbar darauf die Stoplichter
eines vor ihm fahrenden Volkswagens aufleuchten sah, bremste er erneut
und stärker. Dieses zweite Bremsen hatte zur Folge, dass sein Wagen (Opel
Rekord) auf der nassen, 5,7 m breiten Asphaltstrasse ins Schleudern geriet,
trotz Gegensteuer mit dem Vorderteil in die linke Fahrbahn abgedreht
wurde und in Querstellung mit einem gleichzeitig aus der Gegenrichtung
kommenden Personenauto (Citroen 2 CV) zusammenstiess. Durch die Kollision
wurden die im Citroen fahrenden Eheleute Jean Pierre und Andrée Bonnet
schwer verletzt und beide Fahrzeuge stark beschädigt.

    B.- Das Obergericht des Kantons Bern sprach am 12.  Februar 1964
Nikles von der Anschuldigung der fahrlässigen Störung des öffentlichen
Verkehrs frei, wogegen es das Verfahren wegen Widerhandlung gegen
Verkehrsvorschriften zufolge Verjährung einstellte. Es führte aus, der
Unfall sei einzig auf die beim Bremsmanöver aufgetretene Linksdrehung des
Opels und diese auf die Ungleichheit des Strassenbelages im Bereiche
der rechten und linken Räder zurückzuführen. Der 1947 angebrachte
Durit-Asphaltbelag sei im Frühjahr 1961 am rechten Rand der bergseitigen
Fahrbahn auf einer Breite von rund 1,4 m mit einem Kaltteermischgut
überholt worden, das mit der Zeit Bindemittel ausgeschieden habe, wodurch
die Flickstelle weich und ausserordentlich glatt geworden sei und die
darauf fahrenden Räder weniger gebremst worden seien als die linken,
die auf dem härteren und griffigeren Durit-Belag rollten. Objektiv
sei daher die Geschwindigkeit nicht dem Strassenzustand angepasst
gewesen, und es hätte der Angeschuldigte die Schleuderbewegung auch
nicht bloss durch Gegensteuer korrigieren, sondern zudem sofort
die Bremsen lösen sollen. Diese Fehler könnten ihm aber nicht zum
Verschulden angerechnet werden, da er die Wirkungen der ungewöhnlichen
Beschaffenheit des Bodenbelages nicht habe voraussehen können und es einer
überdurchschnittlichen Fahrkunst bedurft hätte, um in einer solchen Lage
richtig zu reagieren.

    Die adhäsionsweise geltend gemachten Zivilklagen der Eheleute Bonnet
auf Ersatz des Körperschadens wurden vom Obergericht dem Grundsatze nach
dahin gutgeheissen, dass es Nikles verpflichtete, Frau Andrée Bonnet als
Halterin des Citroen 70%, Jean Pierre Bonnet, den als Fahrzeugführer
kein Verschulden treffe, 100% des erlittenen Schadens zu bezahlen, im
letztern Falle unter Vorbehalt eines allfälligen Regressanspruches gegen
die als Halterin bis zu höchstens 30% solidarisch mithaftende Frau Andrée
Bonnet. Zur zahlenmässigen Festsetzung der Ansprüche verwies es die Kläger
auf den Zivilweg. Die Abweichung von der Haftung der Halter zu gleichen
Teilen begründete das Obergericht mit der höheren Betriebsgefahr des Opels,
der erheblich schwerer als der Citroen gewesen sei, und mit den besondern
Umständen, die zum Zusammenstoss führten. Es verneinte das Vorliegen
von Umständen, welche die Haftpflicht des Beklagten ausschliessen.

    C.- Nikles führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, die Zivilklagen
der Eheleute Bonnet seien abzuweisen. Er macht unter anderem geltend, die
mangelhafte Beschaffenheit des Strassenbelages sei auf grobe Fahrlässigkeit
der staatlichen Strassenbauorgane zurückzuführen, und sie habe sich als
höhere Gewalt ausgewirkt.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das obergerichtliche Urteil wird nur insoweit angefochten, als es
den im Strafpunkt freigesprochenen Beschwerdeführer als Motorfahrzeughalter
dem Grundsatze nach schadenersatzpflichtig erklärt. Der Kassationshof ist
also bloss mit dem Zivilpunkt befasst, und dieser betrifft nicht einen
vermögensrechtlichen Anspruch, der nach Art. 45 OG ohne Rücksicht auf
den Streitwert der Berufung unterläge. Gemäss Art. 271 Abs. 2 BStP ist
daher die Nichtigkeitsbeschwerde nur zulässig, wenn der Streitwert der
Zivilforderung wenigstens Fr. 8'000.-- beträgt.

    Nach Art. 55 Abs. 1 lit. a OG ist bei Streitigkeiten
vermögensrechtlicher Natur, deren Streitgegenstand nicht in einer
bestimmt bezifferten Geldsumme besteht, die Höhe des Streitwertes
in der Berufungsschrift anzugeben. Diese Vorschrift gilt, obwohl
Art. 271 BStP nicht ausdrücklich auf Art. 55 OG verweist, auch für die
Nichtigkeitsbeschwerde, welche in den Fällen gleichzeitiger Beurteilung
des Straf- und Zivilpunktes durch die kantonale Instanz an die Stelle der
Berufung tritt (nicht veröffentlichte Urteile des Kassationshofes vom 19.
Oktober 1951 i.S. Marty gegen Kallen und vom 11. Dezember 1962 i.S. Schmid
gegen Piccirilli).

    In der Beschwerdeschrift des Beschwerdeführers fehlt jede Angabe
über den Streitwert. Normalerweise hat dieser Formfehler zur Folge, dass
auf die Beschwerde nicht eingetreten werden kann (erwähnte Urteile des
Kassationshofes, ferner BGE 71 II 252 ff., 76 II 112, 83 II 247). Eine
Ausnahme macht jedoch die Rechtsprechung, wenn der Streitwert ohne weiteres
mit Sicherheit erkennbar ist (BGE 81 II 310, 82 II 593, 83 II 247, 87
II 114). Diese Voraussetzung trifft hier zu. Aus dem obergerichtlichen
Urteil ergibt sich, dass jeder der beiden Kläger für Schadenersatz
und Genugtuung mehr als Fr. 15'000.-- eingeklagt hat und dass sie die
Genugtuungsforderung, auf die sie im Berufungsverfahren verzichteten,
vor erster Instanz auf je Fr. 5'000.-- bezifferten. Der Streitwert
betrug somit nach Massgabe der Rechtsbegehren, wie sie vor der letzten
kantonalen Instanz noch streitig waren (Art. 46 OG), immer noch mindestens
je Fr. 10'000.--. Auf die Beschwerde ist demnach einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 59 Abs. 1 SVG kann sich der Beschwerdeführer auf den
Entlastungsgrund des Drittverschuldens und der höheren Gewalt nur berufen,
wenn ihn selber kein Verschulden trifft und wenn auch keine fehlerhafte
Beschaffenheit seines Fahrzeuges zum Unfall beigetragen hat. Nach den
Feststellungen des Obergerichts sind diese beiden Voraussetzungen
erfüllt. Es hat sich freilich nur zur strafrechtlichen Schuld des
Beschwerdeführers geäussert, sich mit dem zivilrechtlichen Verschulden
aber nicht ausdrücklich auseinandergesetzt. Die Frage kann jedoch offen
bleiben, da keiner der angerufenen Haftbefreiungsgründe vorliegt.

    a) Es steht fest, dass die mangelhafte Beschaffenheit der Flickstelle
in der Glätte der Belagsoberfläche bestand, die darauf zurückzuführen
ist, dass die im verwendeten Kaltteer enthaltenen weichen Bindemittel
unter der Wirkung des Strassenverkehrs allmählich an die Oberfläche
gestiegen sind und dort zusammen mit feinen Mineralstoffen eine glatte,
fast kornlose Schicht bildeten. Die Verwendung von Kaltteermischgut,
mit dem die Flickstelle 3-4 cm stark überzogen wurde, ist nicht zu
beanstanden. Dieses Verfahren ist, namentlich bei blossen Ausbesserungen
schadhafter Strassenstellen, heute noch allgemein üblich. Fehlerhaft war
dagegen die Wabl des Gesteinsmaterials, das dem Kaltteer beigemischt
wurde, und in einem nicht näher feststellbaren Masse auch die Art, wie
die aus Kaltteer, Split, Sand und Bindemitteln zusammengesetzte Mischung
aufbereitet worden ist. Nach Auffassung des Strassensachverständigen
Dr. Rodel hätte die Verwendung weniger feinen Gesteinsmaterials einen
offeneren und hohlraumreicheren Belag ergeben und den Vorteil gehabt,
dass der Bedarf an Bindemitteln geringer gewesen und das Verdunsten
flüchtiger Lösungsmittelbestandteile nicht verzögert worden wäre,
was das Ausschwitzen von Bindemitteln begünstigt habe. Sodann ist das
Mischgut nicht in einer besondern Aufbereitungsanlage, sondern von Hand
vorbereitet worden, ein Verfahren, das die Gefahr in sich schliesst, dass
die mengenmässige Abstimmung der einzelnen Teile des Mischgutes nicht mit
der wünschbaren Genauigkeit vorgenommen wird. Der Experte räumt indessen
ein, dass die Anwendung des Handbereitungsverfahrens gerechtfertigt gewesen
sei, weil die Verwendung einer Aufbereitungsanlage zur Herstellung bloss
kleinerer Verbrauchsmengen sich kostenmässig nicht lohne. Den mit den
Ausbesserungsarbeiten betrauten staatlichen Organen kann somit lediglich
vorgeworfen werden, dass sie der Grösse des verwendeten Gesteinsmaterials
nicht genügend Beachtung schenkten und dass sie möglicherweise bei der
Vorbereitung des Mischgutes die Mengen der einzelnen Baustoffe zu wenig
genau abwogen, z.B. mehr Bindemittel beigaben, als notwendig war. Es
kann ihnen also nicht die Verletzung einer grundlegenden Vorschrift oder
technischen Regel oder die Widerhandlung gegen ein elementares Gebot
der Vorsicht zur Last gelegt werden. Der Umstand, dass bloss die Wahl
der Korngrösse des Gesteinsmaterials nicht ganz zutreffend war und die
mengenmässige Zusammensetzung des von Hand aufbereiteten Mischgutes nicht
mit der erforderlichen Genauigkeit vorgenommen wurde, begründet kein grobes
Verschulden. Die begangenen Fehler haben sich denn auch nur im vorliegenden
Falle nachteilig ausgewirkt, und auch in diesem nur, weil sich der Belag
in nassem Zustande befand, wobei zudem nicht abgeklärt ist, ob zur Glätte
des Belages nicht auch noch Ursachen anderer Art, wie z.B. Ölrückstände,
Verschmutzungen usw., beigetragen haben. In diesem Zusammenhang ist ferner
zu beachten, dass auch nach der Rechtsprechung zu Art. 58 OR in bezug auf
Anlage und Unterhalt von Strassen nicht zu hohe Anforderungen gestellt
werden dürfen und es nicht angeht, eine geradezu technische Vollkommenheit
des Strassenbelages zu verlangen (BGE 58 II 360, 59 II 395; OFTINGER,
Schweiz. Haftpflichtrecht, 2. Aufl., Band II/1, S. 47, 73).

    b) Die Glätte der Flickstelle kann auch nicht als höhere Gewalt
gelten, nämlich als unvorhersehbares und unvermeidliches Ereignis,
das unabhängig vom Betrieb des Motorfahrzeuges mit unabwendbarer Gewalt
von aussen hereinbricht (OFTINGER, aaO, Bd. I, S. 101). Wirkungen, die
sich als Folgen der Beschaffenheit oder des Unterhaltes des benutzten
Verkehrsweges darstellen, sind nicht höhere Gewalt (STREBEL, N. 102/c zu
Art. 37 MFG). Jeder Motorfahrzeugführer hat mit Mängeln des Strassenbelages
zu rechnen und kann die Folgen durch entsprechende Fahrweise abwenden. Wie
die Vorinstanz feststellt, wäre es auch im vorliegenden Falle objektiv
möglich gewesen, die Schleudergefahr durch Herabsetzung der Geschwindigkeit
auszuschalten oder doch die Schleuderbewegung durch Loslassen der Bremsen
aufzufangen.