Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 257



90 IV 257

54. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. Dezember 1964
i.S. Gschwind gegen Polizeirichteramt der Stadt Zürich. Regeste

    Art. 38 Abs. 1 SVG, 25 Abs. 5 VRV. Verhalten gegenüber der
Strassenbahn.

    1.  Wenn eine Strassenbahn herannaht oder nach den Umständen damit zu
rechnen ist, dass eine stillstehende Strassenbahn jederzeit weiterfahren
kann, so ist ihr das Geleise freizugeben.

    2.  Der Begriff des Haltens im Sinne von Art. 25 Abs. 5 VRV umfasst
jedes, nicht unmittelbar durch den übrigen Verkehr bedingte Stillestehen
mit Fahrzeugen auf öffentlichem Verkehrsraum der Strassenbahn.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Gschwind führte am 22. April 1963, um 18.30 Uhr, seinen
Personenwagen (Cadillac) auf dem Neumühlequai in Zürich Richtung
Centralplatz. Unmittelbar vor dem Platz mussten zur erwähnten Zeit zwei
Strassenbahnzüge, bestehend aus je einem Motorwagen und einem Anhänger,
anhalten. Gschwind fuhr ihnen links vor und hielt in der Einmündung,
wo die Fahrbahn sich erheblich verengt, etwa 50-80 cm neben der ersten
Strassenbahn ebenfalls an. Als diese daraufhin nach rechts Richtung
Bahnhofbrücke weiterfuhr, streifte der Anhänger den Wagen Gschwinds,
wobei beide Fahrzeuge leicht beschädigt wurden.

    Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichtes Zürich büsste
Gschwind wegen Übertretung von Art. 38 Abs. 1 SVG und Art. 25 Abs. 5
VRV. Die Nichtigkeitsbeschwerde des Verurteilten wurde abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 38 Abs. 1 SVG ist der Strassenbahn das Geleise
freizugeben und der Vortritt zu lassen. In Art. 25 Abs. 5 VRV wird dazu
ergänzend namentlich ausgeführt, dass andere Fahrzeuge nicht auf dem
Strassenbahngeleise und nicht näher als 1,50 m neben der nächsten Schiene
halten dürfen.

    Diese Vorschriften wollen den ungehinderten Verkehr der Strassenbahn
sicherstellen. Sie gelten nicht nur, wenn eine Strassenbahn herannaht,
sondern auch, wenn nach den Umständen damit zu rechnen ist, dass
eine stillstehende Strassenbahn jederzeit weiterfahren kann. An ihrem
Anwendungsbereich ändert grundsätzlich auch nichts, ob die Strassenbahn
sich auf einer fahrplanmässig bedienten Strecke befinde, oder ob sie,
wie hier, bloss aufeinem Wende- oder Verbindungsgeleise verkehre. Im einen
wie im andern Fall soll sich der Führer der Strassenbahn darauf verlassen
können, dass sich kein Fahrzeug näher als 1,50 m neben der nächsten Schiene
aufhalte. Das gilt besonders dann, wenn er sich, z.B. wegen einer Biegung
des Geleises, nicht selber vergewissern kann, ob ein anderes Fahrzeug der
Bahn gegenüber einen ausreichenden Abstand wahre. Auch ist unter Halten im
Sinne von Art. 25 Abs. 5 VRV nicht nur das Abstellen oder Stationieren von
Fahrzeugen zu verstehen, wie der Beschwerdeführer meint. Der Begriff des
Haltens umfasst diesfalls vielmehr jedes nicht unmittelbar verkehrsbedingte
Stillestehen mit Fahrzeugen auf öffentlichem Verkehrsraum der Strassenbahn.

Erwägung 2

    2.- Als der Beschwerdeführer neben der Strassenbahn anhielt, betrug
der Abstand seines Wagens von deren Geleise weniger als 1,50 m. Das war
ungenügend, wie der Zusammenstoss denn auch gezeigt hat. Dass objektiv
eine Übertretung von Art. 38 Abs. 1 SVG und Art. 25 Abs. 5 VRV vorliegt,
kann deshalb nicht zweifelhaft sein.

    Nach den tatsächlichen Feststellungen des Einzelrichters hätte der
Beschwerdeführer bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit schon von weitem
erkennen können, dass sich die Fahrbahn vor dem Centralplatz erheblich
verengt. Angesichts des herrschenden Querverkehrs und des Standortes der
beiden Strassenbahnzüge hätte er sich zudem sagen müssen, dass ihre Führer
auf eine Gelegenheit warteten, Richtung Bahnhofbrücke weiterzufahren. Unter
diesen Umständen war es pflichtwidrig unvorsichtig, sich ohne zwingenden
Grund bis in die Verengung vorzuwagen, schloss das doch die Gefahr in sich,
in den von der Strassenbahn beanspruchten Verkehrsraum zu geraten und
sie in der Fortsetzung der Fahrt zu behindern. Diese Möglichkeit lag umso
näher, als die Strassenbahn im Begriffe stand, nach rechts abzuschwenken,
was ihrer lang ausgezogenen Flanken wegen einen grössern Sicherheitsabstand
auf der linken Seite voraussetzte. Dass der Beschwerdeführer von der
Gefahr überrascht wurde, befreit ihn nicht; er hätte die Folge seines
Verhaltens rechtzeitig bedenken sollen.