Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 241



90 IV 241

51. Urteil des Kassationshofes vom 23. Dezember 1964 i.S. Osterwalder
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen. Regeste

    Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB. Beginn der Probezeit.

    Die Probezeit beginnt mit der Eröffnung des Urteils zu laufen, das
vollstreckbar wird. Ob es dem Verurteilten mündlich oder schriftlich,
ihm selber oder seinem Anwalt eröffnet werde, ist gleichgültig.

Sachverhalt

    A.- Das Bezirksgericht St. Gallen verurteilte Osterwalder am 17. Juni
1960 wegen verschiedener Straftaten zu einer bedingt vollziehbaren
Gefängnisstrafe von zehn Wochen und setzte ihm drei Jahre Probezeit. Das
Urteil wurde Osterwalder gleichentags mündlich eröffnet und am 14. Oktober
1960 in vollständiger Ausfertigung zugestellt. Es blieb unangefochten.

    Am 3. September 1963 beging Osterwalder wieder strafbare Handlungen. Er
wurde deswegen am 20. März 1964 vom gleichen Gericht zu vier Wochen
Gefängnis verurteilt.

    B.- Gestützt auf die neue rechtskräftige Verurteilung verfügte
das Bezirksgericht St. Gallen am 25. August 1964, die am 17. Juni 1960
ausgefällte Gefängnisstrafe sei zu vollziehen. Es nahm an, die dreijährige
Probezeit habe erst am 28. Oktober 1960, als das Urteil in Rechtskraft
erwachsen und vollstreckbar geworden sei, zu laufen begonnen; Osterwalder
habe daher bei Begehung der neuen Taten noch unter Bewährungsprobe
gestanden.

    C.- Osterwalder führt gegen diese Verfügung Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, sie aufzuheben. Er macht geltend, seine neuen Verfehlungen
fielen nicht mehr in die Probezeit, da diese mit der Eröffnung des Urteils,
also schon am 17. Juni 1960 zu laufen begonnen habe.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen beantragt, die
Beschwerde gutzuheissen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 41 StGB hat der Richter, der den bedingten Strafaufschub
bewilligt, dem Verurteilten eine Probezeit von zwei bis fünf Jahren
anzusetzen (Ziff. 1 Abs. 5). Begeht der Verurteilte während der Probezeit
vorsätzlich ein Verbrechen oder Vergehen, und handelt es sich nicht um
einen besonders leichten Fall, so lässt der Richter die Strafe vollziehen
(Ziff. 3 Abs. 1 und 2). Wann die Probezeit zu laufen beginnt, sagt das
Gesetz nicht, ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts aber
eine Frage des eidgenössischen Rechts (nicht veröffentlichte Urteile
des Kassationshofes vom 25. November 1950 i.S. Stuber, vom 18. Juni
1954 i.S. Woodtli, vom 10 Juli 1958 i.S. Keller und vom 6. März 1959
i.S. Räbsamen).

    Wie der Kassationshof in den angeführten Fällen ausgeführt hat,
beginnt die Probezeit frühestens mit der Eröffnung des Urteils und
spätestens von dem Tage an zu laufen, an dem die Bestrafung als solche
rechtskräftig und die Entscheidung im Strafpunkte vollziehbar geworden
ist. Diese Rechtsprechung gibt eine klare Antwort einzig für den eher
seltenen Fall, dass das Urteil mit der Eröffnung rechtskräftig und
vollstreckbar wird; wo dies nicht zutrifft, bleibt die Frage mit all den
Schwierigkeiten, sie allseits zutreffend zu beantworten, bestehen. Den
Beginn der Bewährungsfrist genauer festzulegen, drängt sich jedoch schon
im Interesse der Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit auf. Die Probezeit
kann nicht in einzelnen Kantonen mit der Eröffnung oder Mitteilung des
Urteils, in andern aber erst mit der Vollstreckbarkeit oder mit der
Rechtskraft des Entscheides zu laufen beginnen. Beim Bestreben, eine
einheitliche Regelung zu erreichen, wird man sich freilich vor Augen
halten müssen, dass sich keine finden lässt, die in jedem Fall sowohl
dem kantonalen Verfahrensrecht wie dem materiellen Bundesrecht gerecht zu
werden vermöchte; es kann sich nur darum handeln, eine Lösung zu treffen,
die in der überwiegenden Mehrheit der Fälle dem Sinn und Zweck des Art. 41
StGB am besten entspricht.

    a) Der Richter, der den bedingten Strafvollzug gewährt, erwartet vom
Verurteilten, dass er sich schon durch die blosse Strafandrohung bessern
und von neuen Straftaten abhalten lasse. Er setzt ihm eine Probezeit,
während der sich der Verurteilte des richterlichen Vertrauens würdig zu
erweisen hat. Enttäuscht er den Richter, insbesondere indem er während
der Bewährungsfrist eine neue Straftat begeht, so hat er den Widerruf
des bedingten Strafvollzuges zu gewärtigen. Dies muss vor allem für den
Fall gelten, dass der Verurteilte die neue Tat kurz nach der Verurteilung
wegen der früheren verübt; denn eine erneute Verfehlung unmittelbar nach
einer Bestrafung stellt eine besonders schwere Täuschung richterlichen
Vertrauens dar, gebietet folglich den Widerruf des bedingten Strafvollzuges
in vermehrtem Masse. Es wäre stossend, wenn der Verurteilte sich diesfalls
ungeahndet über das Vertrauen hinwegsetzen könnte, das ihm der Richter
in Gestalt des Strafaufschubes entgegenbrachte. Schon dies spricht dafür,
die Probezeit von dem Zeitpunkt an laufen zu lassen, an dem der Richter dem
Verurteilten gegenüber die Erwartung ausspricht, er werde sich schon durch
eine bedingte Strafe bessern lassen. Das ist die Eröffnung des Urteils,
das den Verurteilten unter Bewährungsprobe stellt.

    Diese Lösung entspricht auch der psychologischen Lage, in der sich
der Verurteilte befindet. Die Verurteilung zu einer bedingt vollziehbaren
Strafe hat den Sinn einer Warnung. Hierüber gibt sich der Verurteilte
erfahrungsgemäss am ehesten Rechenschaft, wenn ihm das Urteil eröffnet
wird. Das gilt insbesondere für die mündliche Eröffnung, da diesfalls
der Richter den Verurteilten zu ermahnen und auf die Folgen einer
Nichtbewährung aufmerksam zu machen pflegt. Die mündliche Eröffnung
dürfte zudem vor erster Instanz durchaus die Regel sein. Anerkennt der
Verurteilte den erstinstanzlichen Entscheid und wird die Bestrafung als
solche auch von keiner andern Seite angefochten, so wird er annehmen,
dass er bereits von der Eröffnung an unter Bewährungsprobe stehe. Das
verwundert nicht, denn zum Begriff der Warnung gehört, dass sie von der
Mitteilung an gilt. Es wäre deshalb unbillig, dem Verurteilten für den
Fall, dass nach dem kantonalen Prozessrecht das Urteil erst mit dem
unbenützten Ablauf der Rechtsmittelfrist in Rechtskraft erwächst, die
Zeit zwischen der Eröffnung und dem Inkrafttreten des Entscheides nicht
auf die Bewährungsfrist anzurechnen. Von ähnlichen Überlegungen liess
sich der Kassationshof schon in den Fällen Stuber und Keller leiten.

    Den Beginn der Probezeit stets von der Rechtskraft oder der
Vollstreckbarkeit des Urteils abhängig machen, hiesse sehr oft,
ihn in unbestimmte Zukunft verlegen, womit die Wirksamkeit der
Warnung abgeschwächt würde. Rechtsungleiche Behandlungen wären zudem
unvermeidlich. Ungleichheiten ergäben sich vor allem daraus, dass die
kantonalen Strafprozessordnungen die Rechtskraft und die Vollstreckbarkeit
des Urteils sehr unterschiedlich regeln. So wird z.B. im Kanton Bern die
Rechtskraft auf den Tag der Ausfällung des Urteils zurückbezogen, selbst
wenn gegen dieses appelliert und die Appellation zurückgezogen worden ist
(Art. 297 Abs. 2 der bern. StPO). Das gleiche gilt offenbar auch für die
Vollstreckbarkeit (vgl. Art. 361 Abs. 1 und 363 Abs. 1 der bern. StPO). Im
Kanton St. Gallen wird dagegen, wie die Vorinstanz ausführt, ein Urteil
erst mit dem unbenützten Ablauf der Rechtsmittelfrist rechtskräftig und
vollziehbar. Liesse man die Probezeit stets von der Rechtskraft des Urteils
an laufen, so könnte einem Verurteilten gegenüber, der in der Zeit zwischen
der Eröffnung des Urteilsspruches und der Zustellung der vollständigen
Urteilsausfertigung wieder straffällig wird, der bedingte Strafvollzug wohl
im Kanton Bern, nicht aber im Kanton St. Gallen widerrufen werden. Solche
Ungleichheiten lassen sich vermeiden, wenn die Zeit zwischen der Eröffnung
und dem Inkrafttreten des Urteils auf die Probezeit angerechnet wird;
die Nichtbewährung während der angerechneten Zeit führt dann einheitlich
zum Widerruf. Ob das Urteil dem Verurteilten schriftlich oder mündlich,
ihm selber oder seinem Anwalt eröffnet werde, darf dabei keinen Unterschied
machen. Die eine wie die andere Mitteilung muss genügen.

    b) Wird der erstinstanzliche Strafentscheid, der den Verurteilten
unter Bewährungsprobe stellt, sei es von diesem selbst oder vom Ankläger
an eine obere Instanz weitergezogen, so läuft die Frist von der Eröffnung
desjenigen Urteils an, das nach Abschluss des Verfahrens zur Vollstreckung
kommt. Massgebend ist demnach, ob im Falle der Abweisung des Rechtsmittels
der angefochtene Entscheid bestehen bleibt und vollstreckbar wird oder ob
an seine Stelle das oberinstanzliche Urteil tritt. Dieses ist der Fall bei
der Berufung oder Appellation, jenes in der Regel bei der Nichtigkeits-
oder Kassationsbeschwerde. Demgemäss läuft die Probezeit im Falle der
Appellation oder Berufung von der Eröffnung des oberinstanzlichen Urteils,
im Falle der Nichtigkeits- oder Kassationsbeschwerde von der Eröffnung
des mit der Beschwerde angefochtenen Entscheides an.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall ist somit davon auszugehen, dass die
dreijährige Probezeit mit der Eröffnung des Urteils, also am 17. Juni
1960, zu laufen begonnen hat. Sie war daher am 3. September 1963,
als Osterwalder erneut straffällig wurde, bereits abgelaufen. Für die
Anwendung des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB bleibt folglich kein Raum mehr.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung des
Bezirksgerichts St. Gallen vom 25. August 1964 aufgehoben.