Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 228



90 IV 228

47. Urteil des Kassationshofes vom 17. November 1964 i.S. Henger gegen
Statthalteramt Horgen. Regeste

    Art. 9 Abs. 1 VRV. Kreuzen.

    1.  Eine abgeschrankte Baustelle ist ein Hindernis im Sinne von Art. 9
Abs. 1 VRV.

    2.  Wenn der Raum wegen eines Hindernisses zum Kreuzen nicht genügt,
hat der nicht vortrittsberechtigte Fahrer anzuhalten.

Sachverhalt

    A.- Der Personenwagen des Felix Henger und der Lastenzug des Hans-Ruedi
Spiller begegneten sich am 26. November 1963 um 13.50 Uhr in Adliswil auf
der Höhe des Hauses Albisstrasse Nr. 58. Die Albisstrasse beschreibt dort
eine ziemlich scharfe Biegung, die wegen der Abschrankung einer Baustelle
nur 5,3 m breit war. Obschon Henger am Strassenrand angehalten hatte,
um den Lastenzug vorbeifahren zu lassen, streiften sich die Fahrzeuge.

    Das Statthalteramt Horgen büsste Spiller wegen Behinderung des
Gegenverkehrs beim Vorbeifahren an Hindernissen (Art. 35 Abs. 2 SVG)
und Henger wegen Nichtgewährens des Vortrittes beim Kreuzen mit einem
Anhängerzug auf schmaler Strasse (Art. 9 Abs. 2 VRV).

    B.- Henger verlangte gerichtliche Beurteilung. Der Einzelrichter in
Strafsachen des Bezirksgerichts Horgen bestätigte am 17. September 1964
die Bussenverfügung und auferlegte ihm eine Busse von Fr. 20.-.

    C.- Henger führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, das angefochtene
Urteil sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Statthalteramt Horgen beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde
sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 9 VRV regelt das Vortrittsrecht in zwei ganz verschiedenen
Fällen. Der erste Absatz ordnet das Kreuzen an Stellen, die durch ein
Hindernis eingeengt sind, der zweite Absatz dagegen das Kreuzen auf
schmalen Strassen. Der Absatz 1 setzt demnach eine Strasse mit einem
örtlich begrenzten Hindernis voraus, der Absatz 2 eine an sich schmale
Strasse. Die Auffassung, der Absatz 2 enthalte eine Sonderbestimmung zu
Absatz 1, ist demzufolge unzutreffend.

    Der Einzelrichter hat festgestellt, dass die Albisstrasse in der
fraglichen Biegung einen 20 bis 30 m langen Engpass aufwies, der auf eine
abgeschrankte Baustelle zurückzuführen war. Diese Feststellung bindet den
Kassationshof (Art. 277 bis Abs. 1 und 273 Abs. 1 lit. b BStP). Geht man
hievon aus, so ist nicht zweifelhaft, dass die abgeschrankte Baustelle
auf der Höhe des Hauses Albisstrasse Nr. 58 ein Hindernis gemäss Art. 9
Abs. 1 VRV bildete und die Albisstrasse in diesem begrenzten Bereich
nicht zu einer schmalen Strasse im Sinne von Art. 9 Abs. 2 VRV machte.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 9 Abs. 1 VRV steht der Vortritt dem Fahrzeugführer
zu, dessen Strassenseite nicht eingeengt ist. Wenn der Raum wegen eines
Hindernisses zum Kreuzen nicht genügt, hat der nicht vortrittsberechtigte
Fahrer anzuhalten und zwar unabhängig von den sich begegnenden
Fahrzeugtypen.

    Die Vorinstanz hat verbindlich festgestellt, dass die Abschrankungen
auf der Fahrbahn des Lastenzuges angebracht waren. Spiller war somit
gehalten, Henger den Vortritt einzuräumen. Es kann Henger auch nicht
vorgeworfen werden, er habe versucht, seinen Vortritt zu erzwingen; denn
er hielt seinen Wagen zu Beginn der Kurve an und wollte dem Lastenzug
die Durchfahrt gewähren. Wenn es trotzdem zum Zusammenstoss kam, so ist
nicht der vortrittsberechtigte Beschwerdeführer dafür verantwortlich.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichts Horgen vom 17. September
1964 aufgehoben und die Vorinstanz angewiesen, den Beschwerdeführer
freizusprechen.