Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 219



90 IV 219

45. Urteil des Kassationshofes vom 25. September 1964
i.S. Polizeirichteramt der Stadt Zürich gegen von Arx. Regeste

    Art. 51 Abs. 1 und 3 SVG, Art. 56 Abs. 1 und 2 VRV. Verhalten bei
Unfällen.

    1.  Anhaltepflicht; ein Motorfahrzeugführer, der an einem Unfall
beteiligt ist, hat solange auf der Unfallstelle zu verbleiben, als es
die ihm obliegenden Verhaltensweisen erfordern (Erw. 1).

    2.  Schädiger ist, wer eine Ursache zum Unfall gesetzt hat, unbekümmert
darum, ob er ihn auch verschuldete.

    Die Pflicht, Namen und Adresse anzugeben, obliegt dem Schädiger
persönlich; er darf sie nur aus zwingenden Gründen und wenn Gewähr
dafür besteht, dass sie sogleich erfüllt werde, einem Dritten überlassen
(Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Annemarie von Arx führte am 13. März 1963, etwa um 10.40 Uhr,
ihren Personenwagen "Morris" in Zürich von der Promenadengasse durch
die Wettingerwies Richtung Zeltweg. Vor ihr fuhr ein Personenwagen
"Renault", der von Sigrid Stummer gesteuert war. In der Wettingerwies
wollte diese eine Mitfahrerin aussteigen lassen, wozu sie ihr Fahrzeug
auf der linken Seite der Strasse anhielt. Als Annemarie von Arx daran
vorbeifahren wollte, öffnete sich am haltenden Wagen die rechte Türe,
die von ihrem Auto erfasst und nach vorne gerissen wurde. Beide Fahrzeuge
wurden beschädigt. Annemarie von Arx hielt daraufhin ihren Wagen ebenfalls
an und rief Frau Bosshart, welche inzwischen dem Auto der Sigrid Stummer
entstiegen war, vom Steuer aus zu, ob sie nicht aufpassen könne; dann fuhr
sie weiter. Nach etwa zehn Minuten kehrte sie zu Fuss zurück und forderte
Sigrid Stummer auf, ihre Adresse anzugeben. Diese gab ihr zur Antwort,
sie möge zuerst ihre eigene bekanntgeben. Hierauf entfernte sich Annemarie
von Arx wieder. Um 12.20 Uhr erstattete sie bei der Polizei Strafanzeige
gegen Sigrid Stummer, die Annemarie von Arx dann auch ihrerseits verzeigte.

    B.- Mit Verfügung vom 24. September 1963 verfällte der Polizeirichter
der Stadt Zürich Annemarie von Arx in Anwendung der Art. 51 Abs. 1 und
3 sowie 92 Abs. 1 SVG in eine Busse von Fr. 50. -.

    Auf das Begehren um gerichtliche Beurteilung sprach der Einzelrichter
in Strafsachen des Bezirksgerichtes Zürich die G ebüsste am 25. Februar
1964 frei, weil sie nach dem Anprall kurz angehalten habe; zudem sei sie
von Frau Bosshart erkannt worden, weshalb sie nicht mehr verpflichtet
gewesen sei, Name und Adresse anzugeben.

    C.- Der Polizeirichter führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Einzelrichters aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Annemarie von Arx beantragt, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Ereignet sich ein Verkehrsunfall, an dem ein Motorfahrzeug
beteiligt ist, so müssen gemäss Art. 51 Abs. 1 SVG alle Beteiligten sofort
anhalten. Wie lange sie anhalten, d.h. auf der Unfallstelle verbleiben
müssen, sagt die Bestimmung nicht. Das hängt von den Verhaltensweisen
ab, die das Gesetz bei Unfällen namentlich den Fahrzeugführern
vorschreibt. Bevor ein Beteiligter sich jedoch darüber Rechenschaft
geben kann, was er zu tun verpflichtet ist, muss er sich zunächst einmal
vergewissern, was überhaupt geschehen, ob insbesondere jemand verletzt oder
fremdes Eigentum beschädigt worden sei. In Fällen, wie dem vorliegenden,
setzt dies voraus, dass beteiligte Autofahrer nicht nur sofort anhalten,
sondern auch aussteigen und sich um die Folgen des Unfalles kümmern.

    Sind Personen verletzt worden und handelt es sich nicht um geringfügige
Verletzungen, so ist die Polizei zu benachrichtigen. Diesfalls dürfen
Beteiligte sich nur dann von der Unfallstelle entfernen, wenn sie Hilfe
oder die Polizei holen gehen oder wenn sie selbst ärztlicher Hilfe
bedürfen. Nach dem Eintreffen der Polizei haben sie bei der Feststellung
des Sachverhaltes mitzuwirken, also weiterhin auf dem Platze zu bleiben
(Art. 51 Abs. 2 SVG). Das gleiche gilt, wenn ein Geschädigter die
Polizei beiziehen will, obschon keine Meldepflicht besteht (Art. 56
Abs. 2 VRV). Wenn der Beizug der Polizei weder erforderlich ist noch von
einem Beteiligten verlangt wird, hat der Schädiger dem Geschädigten auf
jeden Fall Namen und Adresse anzugeben (Art. 51 Abs. 3 SVG). Schon aus
diesen Vorschriften erhellt, dass ein Autofahrer, der an einem Unfall
beteiligt ist, nicht leichthin weiterfahren darf, sondern solange auf der
Unfallstelle zu verbleiben hat, als es die ihm obliegenden Verhaltensweisen
erfordern.

    Dieser Pflicht hat die Beschwerdegegnerin nicht genügt. Sie hat
nach dem angefochtenen Urteil zwar kurz angehalten, sich um die Folgen
des Anpralls aber in keiner Weise bekümmert. Sie begnügte sich vielmehr
damit, Frau Bosshart durch das Wagenfenster den Vorwurf zu machen, nicht
aufgepasst zu haben. Dass sie dann nur deshalb weitergefahren sein will,
um den Verkehr nicht zu behindern, befreit sie nicht. Nichts in den Akten
deutet darauf hin, dass sich von vorne oder von hinten ein Fahrzeug
näherte, das zur Hast genötigt hätte. Nach dem angefochtenen Urteil
muss gegenteils angenommen werden, dass die Wettingerwies zur Zeit des
Unfalls nicht unter Verkehr stand. Ob die Beschwerdegegnerin andernfalls
hätte weiterfahren dürfen, braucht nicht entschieden zu werden. Unter
den gegebenen Umständen war sie auf jeden Fall verpflichtet, auf der
Unfallstelle zu bleiben. Angesichts der Wucht des Anpralls konnte ihr nicht
entgangen sein, dass auch am andern Wagen Schaden entstand. Zudem hatte
sie keine Gewissheit, ob jemand verletzt sei oder die Polizei beiziehen
wolle; auch wusste sie nicht, ob Sigrid Stummer Zeit hatte, sich ihre
Polizeinummer zu merken und durch Frau Bosshart wirklich erfahren werde,
wer sie sei und wo sie wohne. Über all diese Fragen hätte sich die
Beschwerdegegnerin vielmehr an Ort und Stelle erst noch Rechenschaft
geben müssen. Das tat sie nicht, auch nicht, als sie zu Fuss auf die
Unfallstelle zurückkehrte. Ihr Verhalten erscheint umso strafwürdiger,
als sie nachträglich selber die Polizei um Abklärung des Falles bemühte,
verfolgen die Vorschriften über das Verhalten bei Unfällen doch auch den
Zweck, Erhebungen über den Unfallhergang zu erleichtern (s. insbes. Art. 56
Abs. 1 VRV).

Erwägung 2

    2.- Die Pflicht, Namen und Adresse anzugeben (Art. 51 Abs. 3 SVG),
trifft nicht nur denjenigen, der einen Abwesenden schädigt, indem er
z.B. dessen Fahrzeug auf einem Parkplatz mit dem seinigen rammt. Auch
der Fahrer, der anwesend ist und den ihm zugefügten Sachschaden selber
feststellen kann, hat Anspruch darauf, die Personalien des Schädigers zu
erfahren; er braucht sich nicht mit der Polizeinummer des am Zusammenstoss
beteiligten Fahrzeuges zufrieden zu geben (vgl. BGE 90 IV 148). Schädiger
ist, wer eine Ursache zum Unfall gesetzt hat, unbekümmert darum, ob
er ihn auch verschuldete. Entgegen der Auffassung der Parteien geht
es nicht an, die Beteiligten an Ort und Stelle darüber entscheiden zu
lassen, wer schuldhaft handelte und wer nicht, zeigt doch die Erfahrung,
dass viele Fahrer nach einem Unfall dazu neigen, andere als Schuldige
hinzustellen, sich selber aber als schuldlos zu betrachten. Die Frage,
wer Schädiger ist, kann deshalb nicht vom Verschulden, sondern nur davon
abhängig gemacht werden, ob der Unfall mit dem Verhalten eines Beteiligten
ursächlich zusammenhange. In Fällen, wie hier, ist deshalb jeder Fahrer
Schädiger und Geschädigter, folglich verpflichtet, dem andern Namen und
Adresse anzugeben.

    Diese Pflicht obliegt dem Schädiger persönlich. Sie darf nur aus
zwingenden Gründen und wenn Gewähr dafür besteht, dass sie sogleich
erfüllt werde, einem Dritten überlassen werden. Diese Gewissheit konnte die
Beschwerdegegnerin schon deshalb nicht haben, weil sie Frau Bosshart nach
ihren eigenen Angaben nur vom Sehen her kannte. Sie war denn auch nicht in
der Lage, der Polizei deren Namen und Wohnort anzugeben. Dazu kommt, dass
sie von Sigrid Stummer ausdrücklich nach den Personalien gefragt wurde,
als sie zu Fuss auf die Unfallstelle zurückkehrte. Sie hätte sich deshalb
sagen sollen, dass die Geschädigte nicht im Bilde war, folglich sogleich
Auskunft geben müssen. Statt dessen liess sie es weiterhin darauf ankommen,
ob eine Drittperson diese Pflicht erfüllen werde. Die Beschwerdegegnerin
ist deshalb nicht nur wegen Verletzung der Anhaltepflicht, sondern auch
wegen Übertretung von Art. 51 Abs. 3 SVG zu bestrafen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichtes Zürich vom 25. Februar
1964 aufgehoben und die Sache zur Bestrafung der Beschwerdegegnerin an
die Vorinstanz zurückgewiesen.