Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 156



90 IV 156

34. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. November 1964
i.S. Künzler gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 90 SVG, 237 StGB. Art. 237 StGB findet auch in den Fällen des
Art. 90 Ziff. 1 SVG keine Anwendung.

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Nach Art. 90 Ziff. 1 SVG wird mit Haft oder Busse bestraft, wer
Verkehrsregeln dieses Gesetzes oder der Vollziehungsvorschriften des
Bundesrates verletzt. Ziff. 2 Abs. 1 dieser Bestimmung bedroht mit
Gefängnis oder Busse, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine
ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf
nimmt. Ziff. 2 Abs. 2 sodann bestimmt, dass Art. 237 StGB in diesen
Fällen keine Anwendung findet.

    Mit "diesen Fällen", auf die Art. 237 StGB nicht anwendbar
erklärt wird, können nach dem Wortlaut und der Stellung von Ziff. 2
Abs. 2 nur jene der Ziff. 2 Abs. 1 gemeint sein. Bezöge sich die
Ausnahmebestimmung auch auf Ziff. 1, so hätte sie folgerichtig in einer
besondern Ziff. 3 untergebracht werden müssen. Nach der allgemeinen
Regel des Art. 102 Ziff. 1 Abs. 2 SVG, der die besondern Bestimmungen des
Strafgesetzbuches ausdrücklich vorbehält, käme demnach in den Fällen des
Art. 90 Ziff. 1 SVG, wenn die einfache Verletzung von Verkehrsregeln zu
einer konkreten Gefährdung von Leib und Leben führt, Art. 237 Ziff. 2
StGB zur Anwendung. Diese Lösung erscheint nicht zum vornherein als
abwegig, wenn berücksichtigt wird, dass Art. 90 Ziff. 1 SVG nur Haft
oder Busse vorsieht, bei konkreter Gefährdung aber unter Umständen eine
Gefängnisstrafe gerechtfertigt sein kann, selbst wenn eine grobe Verletzung
von Verkehrsregeln nicht vorliegt.

    Die Entstehungsgeschichte des Art. 90 SVG zeigt indessen, dass
die Anwendung des Art. 237 StGB in allen von Art. 90 SVG erfassten
Fällen ausgeschlossen werden wollte. Während der Gesetzesberatung
wurde die bisherige Praxis zu Art. 237 StGB als zu uneinheitlich und
zu weitgehend beanstandet. Kistler rügte vor allem, dass Art. 237 StGB
schon in Fällen leichten verkehrswidrigen Verhaltens Anwendung finde,
auf rücksichtslose Fahrer dagegen nicht, wenn keine (konkrete) Gefährdung
anderer oder nur eine solche der Wageninsassen vorliege. Er schlug deshalb
im Bestreben, im SVG eine bessere und zugleich abschliessende Regelung zu
treffen, vor, den bundesrätlichen Entwurf, der in Art. 83 lediglich den
Übertretungstatbestand der heutigen Ziff. 1 des Art. 90 vorsah, dahin zu
ergänzen, dass in einem weiteren Absatz die rücksichtslose Verletzung von
Verkehrsregeln sowie die auf diese Weise geschaffene Gefährdung anderer mit
Gefängnis bis zu sechs Monaten oder Busse bedroht werde und dass in einem
dritten Absatz die Anwendung von Art. 237 StGB auf Verkehrsteilnehmer
ausgeschlossen werde (Prot. Komm. NR S. 368; StenBull NR 1956 S. 300
f.). Die Kommission des Nationalrates stimmte den Grundgedanken dieses
Antrages zu, beschloss aber, den Text anders zu fassen, und erhob die
von Pfister vorgelegte Fassung, die mit dem heutigen Art. 90 und seiner
Gliederung übereinstimmt, zum Kommissionsantrag, der von beiden Räten
ohne Änderung angenommen wurde. Aus welchem Grunde die Vorschrift über
den Ausschluss von Art. 237 StGB nicht als Ziff. 3, sondern als Abs. 2 von
Ziff. 2 in den Text aufgenommen wurde, ist nirgends begründet worden. Die
nationalrätliche Kommission ging jedoch davon aus, dass Art. 237 StGB -
im Unterschied zur bisherigen Praxis - nur noch in schweren, nicht mehr in
leichten Fällen anwendbar sein solle, weshalb sie in Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1
SVG, der jene Bestimmung ersetzen sollte, das Vergehen der Gefährdung
anderer mit den Worten "grobe Verletzung" und "ernstliche Gefahr" enger
als in Art. 237 StGB umschrieb (Prot. Komm. NR S. 384, 423). Nach dieser
Auffassung stellte sich die Frage der Konkurrenz zwischen Art. 237 StGB
und Art. 90 Ziff. 1 SVG gar nicht mehr, was erklärlich macht, dass der
Ausschluss von Art. 237 StGB auf die Fälle des Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1
SVG beschränkt wurde. Dass die Anwendung von Art. 237 StGB entgegen dem
Wortlaut und der Systematik des Art. 90 SVG sowohl in den Fällen der
Ziff. 2 wie der Ziff. 1 dieser Bestimmung ausgeschlossen werden wollte,
ergibt sich auch aus den Ausführungen der Berichterstatter Guinand und
Eggenberger im Nationalrat (StenBull NR 1957 S. 267-269).

    Bei bloss leichter Verletzung von Verkehrsregeln und konkreter
Gefährdung Art. 237 Ziff. 2 StGB anzuwenden, verstiesse also gegen den
Sinn des Art. 90 SVG, der will, dass die von Strassenbenützern bewirkte
Gefährdung anderer nur noch unter den Voraussetzungen der Ziff. 2 Abs. 1
mit Gefängnis geahndet werde. Wäre in Fällen der Ziff. 1 von Art. 90
SVG weiterhin Art. 237 Ziff. 2 StGB anwendbar, so würde überdies die
uneinheitliche Praxis zu dieser Bestimmung fortbestehen und die Anwendung
des Art. 90 SVG erschwert, was auch der Absicht des Gesetzgebers, die
bisherige Ordnung durch eine einfachere zu ersetzen (StenBull NR 1957
S. 267/8), zuwiderliefe. Art. 90 Ziff. 2 Abs. 2 hat daher auch für die
Fälle von Ziff. 1 dieser Bestimmung zu gelten (ebenso DUBS, Festgabe
für Gerwig, Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Heft 55, S. 7 ff.;
SCHULTZ, Strafbestimmungen des SVG, S. 176).

    Eine andere Frage ist, ob Art. 90 SVG nach richtiger Auslegung auch
die vorsätzliche Gefährdung erfasse, d.h. ob Art. 237 Ziff. 1 StGB neben
dieser Bestimmung anwendbar sei. Sie stellt sich im vorliegenden Falle
nicht und kann daher offen bleiben.