Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 II 219



90 II 219

26. Urteil der II. Zivilabteilung vom 15. Mai 1964 i.S. W. gegen M. und
deren Kind R.P.M. Regeste

    Vaterschaftsklage. Art. 314 Abs. 2 und Art. 8 ZGB.

    1.  Die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtes bisher offen
gelassene Frage, ob der Richter kraft Bundesrechtes verpflichtet
sei, ein von der Klagpartei oder dem Beklagten verlangtes
anthropologisch-erbbiologisches Gutachten anzuordnen, ist zu bejahen
(Erw. 1, 2 u. 3).

    2.  Schranken des Prozessrechts und des materiellen Rechtes stehen der
Anordnung des anthropologisch-erbbiologischen Gutachtens im vorliegenden
Fall nicht entgegen (Erw. 4).

    3.  Bevor das anthropologisch-erbbiologische Gutachten auf Antrag des
Beklagten angeordnet wird, sind alle übrigen Beweismittel auszuschöpfen
(Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- Am 26. Mai 1960 gebar dieledige L.M., geboren 1933, eine Tochter,
R. P. Mutter und Kind belangten W. auf Feststellung der Vaterschaft und
bestimmte Vermögensleistungen.

    W. hatte die M. im Sommer 1955 kennengelernt, sich Ende 1956
verlobt und im Frühjahr 1957 mit ihr intime Beziehungen aufgenommen. Sie
löste anfangs 1959 die Verlobung auf, näherte sich jedoch nach kurzer
Zeit wieder W. Innerhalb der vom 31. Juli bis zum 28. November 1959
dauernden kritischen Zeit kam es zwischen den beiden am 23. August 1959
zum Geschlechtsverkehr. Schwanger geworden, verlobte sie sich mit W. ein
zweites Mal an Weihnachten 1959. Auch die zweite Verlobung wurde aufgelöst.

    B.- Der Beklagte erhob gegenüber den Klageparteien Einrede
gemäss Art. 314 Abs. 2 ZGB. Vor Bezirksgericht sagte der wegen seiner
Beziehungen zur Erstklägerin einvernommene F. falsch aus; die Erstklägerin
selbst verschwieg wichtige Begebenheiten. Aus einer anschliessenden
Strafuntersuchung ging dann hervor, dass die Kindsmutter und F., die
sich bei einem Kuraufenthalt in Degersheim-Rüti begegnet waren, auch nach
dieser Begegnung noch in Verbindung blieben: Am 5. Juli 1959 folgte die
Erstklägerin F. ins Hotel Vorderer Sternen am Bellevueplatz in Zürich. Auf
seinem Zimmer umarmte F. sie und ersuchte um Geschlechtsverkehr. Sie
verhielt sich ablehnend und verliess ihn nach wenigen Minuten. Am
8. September 1959 zogen sich beide im Hotel Krone in Adliswil in ein
Doppelzimmer zurück und legten sich, nachdem er Rock und Hose, sie ihre
Jupe, ausgezogen hatte, auf die Betten. Er umarmte sie und gab ihr einen
Kuss; weitere Annäherungen und Geschlechtsverkehr will sie abgelehnt haben;
nach einer halben Stunde verliessen sie das Zimmer und die Erstklägerin
fuhr mit einem Taxi nach Hause. Sie erklärten vor Gericht und in der
Strafuntersuchung übereinstimmend, nie miteinander intime Beziehungen
unterhalten zu haben.

    Das Bezirksgericht nahm an, ein Mehrverkehr der Erstklägerin mit
F. sei nicht nachgewiesen. Es berücksichtigte ein serologisches Gutachten,
welches den Beklagten als Vater nicht ausschloss, sowie ein Gutachten
über den Reifegrad des Kindes und hiess am 22. Mai 1963 die Klage gut.

    C.- Das Obergericht des Kantons Zürich erhöhte die Unterhaltsbeiträge
des Beklagten an das Kind von Fr. 90.- auf Fr. 120. - im Monat
und bestätigte im übrigen den Entscheid der ersten Instanz. Es
ging davon aus, Geschlechtsverkehr der Erstklägerin mit F. sei nicht
nachgewiesen und die den Beklagten treffende Vaterschaftsvermutung nicht
erschüttert. Den vom Beklagten auf dem Novawege eingebrachten Antrag,
es sei ein anthropologischerbbiologisches Gutachten einzuholen, lehnte
es mit der Begründung ab, die Voraussetzungen hiezu fehlten, weil weder
sichere Anhaltspunkte für einen Mehrverkehr der Mutter noch auffallende,
dem Kind und F. gemeinsame Merkmale dargetan seien.

    D.- Der Beklagte hat Berufung an das Bundesgericht
eingereicht und beantragt, die Streitsache sei zur Durchführung
eines anthropologisch-erbbiologischen Gutachtens an das Obergericht
zurückzuweisen. Er macht geltend, das Gutachten sei zu Unrecht verweigert
worden, da Anhaltspunkte für einen Mehrverkehr der Erstklägerin
bestünden. Eventuell sei überhaupt der Mehrverkehr der Mutter als
nachgewiesen zu betrachten. - Die Klägerinnen begehren Abweisung der
Berufung und Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Rechtsprechung des Bundesgerichtes hat bisher die Frage
offen gelassen, ob und unter welchen Voraussetzungen den Parteien
im Vaterschaftsprozess von Bundesrechts wegen ein Anspruch auf die
Durchführung eines anthropologisch-erbbiologischen Gutachtens zustehe
(vgl. BGE 87 II 286 ff.). Als taugliches Beweismittel ist es dagegen
anerkannt worden; es vermag als solches den positiven und negativen
Vaterschaftsnachweis zu erbringen (BGE 82 II 266; 87 II 72/73). Der
vorliegende Fall gibt Anlass, die von der Rechtsprechung aufgestellten
Grundsätze zu ergänzen.

Erwägung 2

    2.- Der Beklagte ist durch eine Blutuntersuchung als Vater
der Zweitklägerin nicht ausgeschlossen worden. Er beruft sich auf
Anhaltspunkte, die einen intimen Verkehr zwischen der Erstklägerin
und F. während der kritischen Zeit als möglich erscheinen lassen,
und macht geltend, wenn die Vorinstanz trotz seiner Vorbringen ein
anthropologischerbbiologisches Gutachten ablehne, verunmögliche sie,
die fehlende Abstammung des Kindes vom Beklagten darzutun, und verletze
damit Art. 8 in Verbindung mit Art. 314 Abs. 2 ZGB.

    Das anthropologisch-erbbiologische Gutachten, dessen Anordnung der
Beklagte verlangt, vermag nach dem Stand der fachwissenschaftlichen
Forschung zuverlässige, zum Beweis der Abstammung oder Nichtabstammung
geeignete Ergebnisse zu liefern. Es kann - auch in sogenannten
Einmannfällen - zu einem Entscheid führen, der mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit die Vaterschaft ausschliesst oder als
nachgewiesen annimmt (vgl. H. SCHADE in Beitzke, Hosemann, Dahr und
Schade, Vaterschaftsgutachten für die gerichtliche Praxis, 1956,
S. 103 ff., K. GERHARDT in SJZ 1959 S. 249 ff. und HARRASSER, Das
anthropologisch-erbbiologische Vaterschaftsgutachten, 1957, sowie, Der
gegenwärtige Stand des erbbiologischen Vaterschaftsgutachtens in NJW 1962,
Heft 15, S. 659 ff.). Das anthropologisch-erbbiologische Gutachten ist
wie die Blutuntersuchung durch den ihm zugeordneten Sachverhalt bestimmt,
entscheidend zur Verwirklichung des materiellen Vaterschaftsrechtes
beizutragen. Beide Gutachten vermögen nicht bloss erhebliche Zweifel
im Sinne von Art. 314 Abs. 2 ZGB zu begründen sondern die fehlende
Abstammung schlechthin zu beweisen. Das anthropologisch-erbbiologische
Gutachten, das den Beweiswert des Blutgruppengutachtens annähernd
erreichen kann, ist aus den genannten Gründen als bundesrechtliches
Beweismittel anzuerkennen. Die vom Beklagten beantragte Expertise hat
die Vorinstanz abzunehmen, gemäss der aus Art. 8 ZGB abgeleiteten Regel,
wonach jede Partei für ein erhebliches Sachvorbringen zum Beweis mit den
ihr zustehenden kantonal- oder bundesrechtlichen Mitteln zuzulassen ist
(vgl. KUMMER, Kommentar, N. 76 zu Art. 8 ZGB).

Erwägung 3

    3.- Wegen der Eigenart des anthropologisch-erbbiologischen Gutachtens
sind Bedenken gegen seine Zulassung vorgebracht worden (vgl. BGE 87
II 289). Sie rechtfertigen nicht, den bundesrechtlichen Anspruch auf
das Beweismittel zu verweigern.

    a) Die Begutachtung kann in der Regel erst durchgeführt werden, wenn
das Kind mindestens drei Jahre alt ist. Aus der Tatsache, dass Art. 308
ZGB eine Klagefrist von einem Jahr seit Geburt des Kindes vorschreibt,
lässt sich jedoch nicht ableiten, Beweismassnahmen seien unzulässig, die
den Prozess in diesem Masse verzögern. Art. 308 ZGB bezieht sich nicht
auf die Dauer des Prozesses; er bezweckt nur, den Klageberechtigten im
Interesse der Rechtssicherheit eine Frist zu setzen, innert der sie sich
entschliessen müssen, ob sie klagen wollen oder nicht.

    b) Wegen der zeitraubenden Blutgruppenuntersuchung und
Tragzeitgutachten erreicht das Kind oft das dritte Altersjahr, bevor die
letzte kantonale Instanz das Urteil erlässt. Auch im vorliegenden Fall
trifft dies zu. Das anthropologisch-erbbiologische Gutachten wird somit
keine unverhältnismässige Verlängerung der bisher üblichen Prozessdauer mit
sich bringen. Die sich aus der längern Prozessdauer ergebenden Nachteile,
insbesondere für das auf Unterhaltsleistungen angewiesene Kind, werden
durch die Dienste aufgewogen, die das Gutachten den Klageparteien und
dem Beklagten bei der Wahrheitserforschung leistet.

    c) Die neue biologische Untersuchungsmethode wird im Vergleich
zur Blutuntersuchung weniger oft zu sicheren Ergebnissen führen; es
gewinnt bei ihr zudem - anders als beim Blutgutachten - unter Umständen
die persönliche Meinung der Sachverständigen Gewicht. Nachdem aber die
Tauglichkeit des Gutachtens feststeht, kann es als Beweismittel nicht
abgelehnt werden. Es bleibt dem Richter vorbehalten, seine Schlüssigkeit
im Einzelfalle zu würdigen.

Erwägung 4

    4.- Dem bundesrechtlichen Anspruch des Beklagten, es sei das
anthropologisch-erbbiologische Gutachten anzuordnen, stehen in der hier
umstrittenen Vaterschaftssache keine Schranken des Prozessrechtes oder
des materiellen Rechtes entgegen.

    a) Einschränkende kantonale Prozessvorschriften sind nicht
behauptet. Nach den Ausführungen des Obergerichtes hat der Beklagte,
der erst in zweiter Instanz den umstrittenen Beweisantrag gestellt hat,
keine Novavorschriften des kantonalen Prozessgesetzes verletzt.

    b) Allgemeine Grundsätze des Prozessrechtes fordern, dass ein
Beweismittelantrag vom Richter zu verwerfen ist, wenn er den Antrag als
untauglich erachtet, an dem bereits feststehenden Beweisergebnis etwas zu
ändern (sog. antizipierte Beweiswürdigung), wenn der Antragsteller es an
genügender Substantiierung der zu beweisenden Umstände fehlen lässt oder
wenn das Beweismittel wider Treu und Glauben angerufen wird (s. KUMMER,
Kommentar, N. 77-80 zu Art. 8 ZGB und MERZ, Kommentar, N. 69 zu Art. 2
ZGB). Solche Hindernisse stehen jedoch dem Anspruch des Beklagten nicht
entgegen.

    c) Ob der Beklagte mit dem beantragten anthropologisch-erbbiologischen
Gutachten nur zuzulassen sei, wenn er bestimmte Anhaltspunkte nachweist,
die einen Mehrverkehr der Kindsmutter möglich erscheinen lassen, kann
offenbleiben. Derartige Anzeichen sind vorhanden, wollte man sie - anders
als bei der Blutgruppenuntersuchung - für die Beweisabnahme voraussetzen.

    Wie das Urteil des Bezirksgerichtes ausführt, traf die Erstklägerin,
nachdem sie F. in Degersheim-Sennrüti kennengelernt hatte, noch zweimal
mit ihm zusammen. Bei der zweiten Zusammenkunft vom 8. September 1959 -
also innerhalb der kritischen Zeit - folgte sie ihm aufsein Hotelzimmer,
wo er sich ihr mit der Absicht näherte, geschlechtlich zu verkehren. Damit
sind bestimmte Umstände, die für einen Mehrverkehr der Erstklägerin
sprechen, dargetan.

    Jedenfalls zu weit geht die Vorinstanz, welche die Zulassung des
Gutachtens vom Nachweis sicherer Anhaltspunkte abhängig macht. Bestünden
sichere Anzeichen für Mehrverkehr der Erstklägerin, so wäre der
Geschlechtsverkehr mit einem Dritten erwiesen, erhebliche Zweifel im Sinne
von Art. 314 Abs. 2 ZGB dargetan und die gesetzliche Vermutung von Art.
314 Abs. 1 ZGB entkräftet. Der Beklagte hätte dann keine Veranlassung,
die Durchführung der mit erheblichen Kosten verbundenen Expertise zu
beantragen.

Erwägung 5

    5.- Bevor das anthropologisch-erbbiologische Gutachten auf Antrag des
Beklagten angeordnet wird, sind alle übrigen Beweismittel auszuschöpfen,
die rascher und mit weniger grossen Kosten zu einem Vaterschaftsausschluss
führen können. Dieses Gebot ist erfüllt. Durch die Blutgruppenbestimmung
ist der Beklagte als Vater nicht ausgeschlossen worden. Auch die Ergebnisse
des Gutachtens über den Reifegrad vermögen die beantragte Expertise nicht
unerheblich zu machen.

    Wie das Gutachten des Kreisspitals Männedorf vom 29. November 1960
feststellt, war das Kind bei der Geburt reif. Als wahrscheinliche
Konzeptionstermine gelten der 26., 25. und 24. August 1959. Der
Beklagte hat zugegeben, der Erstklägerin am 23. August 1959 beigewohnt
zu haben. Dieser Zeitpunkt fällt in die mittlere Dekade mit der höchsten
Zeugungswahrscheinlichkeit von 40%. Der 8. September 1959, der Tag, an
dem die Erstklägerin in Begleitung des F. das Hotelzimmer in Adliswil
aufgesucht hat, fällt in die 1. Dekade (30. August bis 8. September)
nach der mittleren, mit der kürzeren Schwangerschaftsdauer von 262-271
Tagen und einer Konzeptionswahrscheinlichkeit von 21,86%. Wohl steht
der 8. September am Ende der Dekade und entspricht dem 262. Tag vor der
Geburt, sodass die Tageswahrscheinlichkeit nicht mehr 21,86% beträgt. Die
Konzeptionswahrscheinlichkeit in der nächsten Dekade weist aber immer
noch einen Wert von 5,65% auf. Eine Tragzeit von 262 Tagen wäre für ein
vollreifes Kind nicht abnormal kurz (vgl. BGE 69 II 285).

    Die Vaterschaft des Beklagten weist nach dem Reifegrad des Kindes eine
weit grössere Wahrscheinlichkeit auf; die Zeugung des Kindes durch F. ist
aber weder ausgeschlossen noch äusserst unwahrscheinlich (vgl. hiezu BGE
82 II 87).

Erwägung 6

    6.- Zur Begründung des Eventualantrages stellt der Beklagte die
Behauptung auf, durch die Tatsachen, welche die Vorinstanz festgestellt
habe, sei der Nachweis des Mehrverkehrs der Erstklägerin in der kritischen
Zeit geleistet und es seien erhebliche Zweifel im Sinne von Art. 314
Abs. 2 ZGB begründet worden. Diese Behauptung steht jedoch im Gegensatz
zu einer von der Vorinstanz getroffenen, der Überprüfung durch das
Bundesgericht entzogenen Feststellung. Die kantonalen Instanzenhaben
nämlich festgehalten, der Nachweis des Geschlechtsverkehrs mit einem
Dritten sei nicht geleistet.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil der II.
Zivilkammer des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 22. Oktober
1963 aufgehoben und die Sache zur Einholung des beantragten
anthropologisch-erbbiologischen Gutachtens an das Obergericht
zurückgewiesen.