Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 I 107



89 I 107

17. Urteil vom 20. März 1963 i.S. Gemeinde Speicher gegen Hohl und
Regierungsrat des Kantons Appenzell A. Rh. Regeste

    Gemeindeautonomie.

    Legitimation der Gemeinde zur staatsrechtlichen Beschwerde wegen
Verletzung der Gemeindeautonomie (Erw. 1).

    Die Gemeindeautonomie ist nur verletzt, wenn sich eine kantonale
Behörde eine Zuständigkeit anmasst, die nach kantonalem Verfassungs- oder
Gesetzesrecht der Gemeinde zusteht, nicht aber dann, wenn sie bei der ihr
zustehenden Überprüfung eines gemeinderätlichen Entscheids das in Betracht
fallende Recht unrichtig oder willkürlich auslegt oder anwendet (Erw. 2).

    Sind die Gemeinden des Kantons Appenzell A.Rh. inbezug auf die
Rechtsetzung und Rechtsanwendung im Gebiet des Bauwesens autonom? (Erw.
2).

Sachverhalt

    A.- Nach Art. 72 der KV von Appenzell A.Rh. ordnen die Gemeinden
innerhalb der Schranken der Verfassung und der Gesetzgebung ihre
Angelegenheiten selbständig. Art. 74 KV zählt unter Ziff. 1-12 die
"Obliegenheiten und Befugnisse der Einwohner- Gemeindeversammlung" auf,
darunter auch - unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Regierungsrat
- die "Aufstellung von Baureglementen im Rahmen der hierüber erlassenen
Gesetze" (Ziff. 8). Von dieser Befugnis handelt auch das Gesetz betreffend
die Berechtigung der Gemeinden zur Aufstellung von Baureglementen vom
29. April 1906 sowie der auf dieses Gesetz Bezug nehmende Art. 98
Abs. 2 des EG/ZGB vom 30. April 1911. Nach Art. 82 KV und Art. 16
EG/ZGB kann gegen die Verfügungen und Beschlüsse der Gemeindebehörden
und -versammlungen innert 14 Tagen Rekurs an den Regierungsrat ergriffen
werden.

    Die Gemeinde Speicher hat am 18. Mai 1947 ein Baureglement erlassen,
das vom Regierungsrat am 15. September 1947 genehmigt worden ist und in
Art. 9 bestimmt, dass der Gemeinderat über Gebiete, für welche er die
Aufstellung oder Abänderung eines Überbauungsplanes beschlossen hat, die
Bausperre verfügen kann; diese fällt dahin, wenn der Überbauungsplanentwurf
nicht innerhalb eines Jahres aufgelegt wird, während sie andernfalls bis
zur Genehmigung des Überbauungsplans durch den Regierungsrat bestehen
bleibt.

    B.- Die Gemeinde Speicher bemüht sich seit Jahren, die vom
Höhenweg sich bietende Rundsicht zu schützen, und hat unter anderm dazu
beigetragen, dass einige südlich des Weges gelegene Grundstücke mit einer
Bauverbotsdienstbarkeit belastet wurden, darunter auch die Paul Hohl
gehörende Parzelle Nr. 860. Hohl möchte nun dort ein Einfamilienhaus mit
Garage erstellen und liess sich dafür vom Eigentümer der benachbarten und
nicht mit dem Bauverbot belasteten Parzelle Nr. 467 die Abtretung eines
532 m2 haltenden Abschnitts versprechen. Am 1. März 1962 ersuchte Hohl
den Gemeinderat Speicher um die Bewilligung, auf diesem Abschnitt gemäss
vorgelegten Plänen ein (das Niveau des Höhenweges um 4 m überragendes)
Haus zu errichten. Der Gemeinderat beschloss am 2. März 1962, die
Baubewilligung gemäss Plänen und Situation zu erteilen unter der Bedingung,
dass der höchste Punkt der Baute nicht höher als das Strassenniveau zu
stehen komme. Hohl focht diese Bedingung durch Rekurs beim Regierungsrat
an. Dieser hob die Bedingung mit Entscheid vom 16. Mai 1962 auf, da sie
zwar im öffentlichen Interesse liege, aber weder im kantonalen Recht noch
im Gemeindebaureglement eine gesetzliche Grundlage habe.

    Nachdem Hohl mit öffentlich beurkundetem Vertrag vom 15. Juni 1962
den als Hausplatz vorgesehenen, mit seiner Parzelle Nr. 860 vereinigten
Absehnitt von Parzelle Nr. 467 gekauft hatte, ersuchte sein Architekt am
19. Juni 1962 nochmals um Erteilung der Baubewilligung.

    Inzwischen hatte der Gemeinderat am 7. Juni 1962 auf Grund von Art. 9
des Gemeindebaureglementes beschlossen, über die Parzellen Nr. 467, 622
und 884 die Bausperre zu verhängen. Gegen diesen den Grundeigentümern
sowie Hohl am 12. bzw. 17. Juli 1962 eröffneten Beschluss rekurrierte Hohl
an den Regierungsrat mit dem Begehren, die Bausperre, soweit sie seine
Parzelle Nr. 860 betreffe, aufzuheben, da sie dem Regierungsratsbeschluss
vom 16. Mai 1962 widerspreche und rechtswidrig sei. Der Gemeinderat
beantragte die Abweisung des Rekurses, indem er geltend machte, dass
es sich beim Gesuch Hohls vom 1. März 1961 nicht um ein Baugesuch,
sondern um eine "Baurechtsermittlung" gehandelt habe, dass die daraufhin
erteilte Baubewilligung daher nicht definitiv gewesen und dass die auf
Grund des Art. 9 des Gemeindebaureglements erlassene Bausperre nicht zu
beanstanden sei.

    Mit Entscheid vom 20. November 1962 hat der Regierungsrat in
Gutheissung des Rekurses Hohls dessen "bereits bewilligtes Projekt für die
Errichtung eines Einfamilienhauses mit Garage auf der Parzelle Nr. 860
von der vom Gemeinderat Speicher verhängten Bausperre ausgenommen". Zur
Begründung führte er aus: Das Bauprojekt des Rekurrenten sei am
2. März/16. Mai 1962 rechtskräftig bewilligt worden. Ein Widerruf der
Baubewilligung wäre nur möglich, wenn seit ihrer Erteilung neue erhebliche
Umstände eingetreten wären. Das behaupte der Gemeinderat aber nicht. Da
er die Revision des Gemeindebaureglements schon am 1. Dezember 1961
beschlossen habe, hätte er die Bausperre schon bei der Einreichung des
Baugesuchs Hohls anordnen können, falls sie sich als nötig erwiesen
hätte. Er habe dies nicht getan und die Baubewilligung unter einer
(vom Regierungsrat wieder aufgehobenen) Bedingung erteilt. Die Bausperre
bezwecke, die vom Regierungsrat als rechtswidrig erklärte Bedingung doch
noch durchzusetzen und rechtskräftige Entscheide zu umgehen. Ein solches
Vorgehen könne nicht geschützt werden.

    C.- Gegen diesen Entscheid des Regierungsrates hat die Gemeinde
Speicher staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Sie wirft dem Regierungsrat
Verletzung der in Art. 72 KV allgemein und in Art. 74 Ziff. 8 für das
Bauwesen gewährleisteten Gemeindeautonomie vor. Da die streitige Bausperre
ihre gesetzliche Grundlage in Art. 9 des von der Gemeinde im Rahmen ihrer
Autonomie erlassenen Gemeindebaureglementes habe und die Voraussetzungen
dieser Bestimmung erfüllt seien, sei der Regierungsrat nicht befugt,
ein Grundstück von der Bausperre wieder auszunehmen und so die Handhabung
des gemeindeautonomen Baurechts zu verunmöglichen. Die nähere Begründung
der Beschwerde ist, soweit wesentlich, den nachstehenden Erwägungen
zu entnehmen.

    D.- Der Regierungsrat des Kantons Appenzell A.Rh.  verweist auf den
angefochtenen Entscheid und bestreitet die Beschwerdelegitimation der
Gemeinde Speicher. Der Beschwerdegegner Jakob Hohl beantragt, auf die
Beschwerde nicht einzutreten, eventuell sie abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der angefochtene Entscheid, durch den der Regierungsrat
ein Bauprojekt von der vom Gemeinderat Speicher verhängten Bausperre
ausgenommen hat, trifft die Gemeinde rechtlich nicht wie eine Privatperson,
sondern in ihrer Eigenschaft als Trägerin öffentlicher Gewalt. Als
solche steht ihr das Recht zur staatsrechtlichen Beschwerde nur insoweit
zu, als sie ihre Autonomie, ihren eigenen selbständigen Wirkungskreis
gegenüber dem Staate als dem ihr übergeordneten Träger öffentlicher Gewalt
verteidigen will, d.h. geltend macht, eine staatliche Behörde habe sich
eine Entscheidungsbefugnis angemasst, die ihr nicht zustehe, oder habe
ihre Zuständigkeit formell überschritten (BGE 83 I 121 Erw. 2 und dort
angeführte frühere Urteile, insbesondere 65 I 132, 68 I 86, 70 I 76). Mit
der vorliegenden Beschwerde wird ausschliesslich eine Verletzung der
Gemeindeautonomie gerügt und kein anderes verfassungsmässiges Recht
angerufen. Die Legitimation der Beschwerdeführerin wird daher vom
Regierungsrat und vom Beschwerdegegner zu Unrecht bestritten.

Erwägung 2

    2.- Die Gemeindeautonomie bedeutet die Zuständigkeit der Gemeinde zur
selbständigen Erfüllung gewisser öffentlicher Aufgaben. Eine Gemeinde ist
insoweit autonom, als ihr durch Verfassung oder Gesetz freies Ermessen
in Rechtsetzung und Verwaltung eingeräumt ist und sie dieses Ermessen
frei von staatlicher Kontrolle betätigen darf (BGE 83 I 123/24, 84 I 230;
KIRCHHOFER, Legitimation zum staatsrechtlichen Rekurs, ZSR 1935 S. 175/77;
GIACOMETTI, Staatsrecht der schweiz. Kantone S. 75).

    a) Die Beschwerdeführerin geht davon aus, dass die Befugnis zur
Rechtsetzung auf dem Gebiete des Bauwesens den Gemeinden nicht durch ein
kantonales Gesetz delegiert worden sei, sondern unmittelbar auf Grund
der KV zustehe. In der Tat nennt Art. 74 KV bei den "Obliegenheiten und
Befugnissen" der Einwohner-Gemeindeversammlungen auch die "Aufstellung von
Baureglementen im Rahmen der hierüber erlassenen Gesetze" (Ziff. 8). Daraus
folgt aber nicht ohne weiteres, dass der Erlass von Baureglementen zum
eigenen Wirkungskreis der Gemeinde gehöre, da Art. 74 KV auch Befugnisse
erwähnt, die zweifellos zum übertragenen Wirkungskreis gehören, wie der
"Erlass von Ausführungsreglementen in den von der Gesetzgebung vorgesehenen
Fällen" (Ziff. 10). Dazu kommt, dass die Gemeindebaureglemente, im
Gegensatz zu den Verordnungen und Reglementen über andere Gebiete der
Gemeindeverwaltung (Ziff. 7), nach Art. 74 Abs. 2 KV der Genehmigung
des Regierungsrates unterliegen und dass diese Genehmigung nach
Art. 98 Abs. 3 EG/ZGB Gültigkeitserfordernis ist. Was insbesondere
die Sicherung von Landschaften und Aussichtspunkten betrifft, so wird
die Aufstellung von Vorschriften hierüber in Art. 98 Abs. 1 EG/ZGB
dem Kanton übertragen und in Abs. 2 bei der Umschreibung des Inhalts
der Gemeindebaureglemente nicht erwähnt. Ob und inwieweit die Gemeinden
auf dem Gebiete des Bauwesens inbezug auf die Rechtsetzung autonom sind,
braucht indes vorliegend nicht entschieden zu werden, da der Regierungsrat
im angefochtenen Entscheid weder eine von der Beschwerdeführerin erlassene
Bestimmung eines Baureglements aufgehoben noch einer solchen Bestimmung
die Anerkennung versagt, sondern eine auf Grund einer solchen Bestimmung
erlassene Verfügung des Gemeinderates teilweise aufgehoben hat. Streitig
ist somit nicht die Autonomie im Bereich der Rechtsetzung, sondern in
demjenigen der Rechtsanwendung.

    b) Über den Umfang der Autonomie in diesem Bereich enthält die
Beschwerde keine näheren Ausführungen. Die Beschwerdeführerin scheint
davon auszugehen, dass aus der von ihr beanspruchten Autonomie inbezug auf
die Rechtsetzung ohne weiteres die Autonomie inbezug auf die Anwendung
des von ihr autonom gesetzten Rechtes folge. Das ist jedoch nicht der
Fall. Es ist durchaus möglich, dass die Autonomie der Gemeinden auf
einem Gebiete inbezug auf die Rechtsetzung weiter ist als inbezug auf
die Rechtsanwendung (vgl. inbezug auf die Autonomie der bündnerischen
Gemeinde auf dem Gebiete des Steuerwesens das nicht veröffentl. Urteil vom
4. Oktober 1961 i.S. Gemeinde Poschiavo Erw. 2), wenn auch das Gegenteil
häufiger sein mag (vgl. GIACOMETTI, aaO S. 80 Anm. 31). Ob und inwieweit
die Gemeinden im Kanton Appenzell A.Rh. auf dem Gebiete des Bauwesens
autonom sind, beurteilt sich daher für den Bereich der Rechtsanwendung
unabhängig vom Umfang ihrer Rechtsetzungsautonomie auf diesem Gebiete.

    Nach Art. 82 KV sowie Art. 16 EG/ZGB (vgl. auch Art. 52 Ziff. 9 KV)
kann gegen alle Verfügungen und Beschlüsse der Gemeindebehörden an den
Regierungsrat rekurriert werden. Dafür, dass mit diesem Rekurs lediglich
gerügt werden könnte, die angefochtenen Verfügungen verstiessen gegen
kantonales oder eidgenössisches Recht, nicht auch, dass sie auf einer
unrichtigen Auslegung und Anwendung von Gemeindereglementen beruhten,
enthalten die genannten Bestimmungen keine Anhaltspunkte, noch wird von der
Beschwerdeführerin behauptet, die Überprüfungsbefugnis des Regierungsrates
sei in diesem Sinne beschränkt. Die Beschwerdeführerin hat denn auch, als
Hohl gegen die Entscheide des Gemeinderates vom 2. März 1962 (Erteilung
der Baubewilligung unter einer Bedingung) und vom 7. Juni/17. Juli 1962
(Verhängung der Bausperre) rekurrierte, weder ausdrücklich noch dem
Sinne nach geltend gemacht, dass diese Rekurse unzulässig seien, dass
der Regierungsrat jedenfalls nicht befugt sei, die den angefochtenen
Entscheiden zugrunde liegende Anwendung des Gemeinderechts zu überprüfen,
und dass die Gutheissung der Rekurse auf einen Eingriff in ihre Autonomie
hinauslaufe. Die Beschwerde führerin hat sich vielmehr vorbehaltlos auf die
Rekurse eingelassen und sich in den Vernehmlassungen darauf- beschränkt,
ihr Vorgehen zu rechtfertigen. Ob der Regierungsrat als Rekursbehörde
die in Anwendung von Gemeindereglementen ergangenen Verfügungen nur auf
ihre Rechtmässigkeit oder auch auf ihre Zweckmässigkeit überprüfen darf,
d.h. ob ihm die Ermessenskontrolle zusteht, kann dahingestellt bleiben,
da der Regierungsrat die streitige Bausperre inbezug auf das Bauprojekt
Hohls nicht wegen Unzweckmässigkeit oder Unangemessenheit aufgehoben
hat, sondern wegen Rechtswidrigkeit, nämlich wegen Missachtung der dem
Beschwerdegegner Hohl rechtskräftig erteilten Baubewilligung. Damit hat
er seine Zuständigkeit nicht überschritten und nicht in diejenige der
Gemeinde eingegriffen.

    Die Beschwerdeführerin scheint mit IMBODEN (Gemeindeautonomie
und Rechtsstaat, Festgabe für Giacometti 1953 S. 103) der Auffassung
zu sein, dass die Gemeindeautonomie auch verletzt sei, wenn eine
kantonale Behörde bei der Anwendung von Gemeinderecht dieses unrichtig
auslege. Diese Auffassung beruht indessen auf einer Verkennung des
Wesens der Gemeindeautonomie als eines Problems der Zuständigkeit
und Befugnisse der Gemeinde und ist bereits in BGE 83 I 123 Erw. 3 mit
eingehender Begründung, auf die hier verwiesen wird, widerlegt worden. Die
Gemeindeautonomie ist, wie dort dargelegt wurde, nur verletzt, wenn sich
eine kantonale Behörde eine Zuständigkeit anmasst, die nach kantonalem
Verfassungs- oder Gesetzesrecht der Gemeinde zukommt, nicht dagegen, wenn
eine kantonale Behörde, die zur Anwendung von Gemeinderecht befugt ist,
in Ausübung ihrer Zuständigkeit dieses Recht unrichtig oder, wie in der
Beschwerde behauptet wird, in unhaltbarer Weise auslegt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.