Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 IV 3



89 IV 3

2. Urteil des Kassationshofes vom 20. Februar 1963 i.S. A und Konsorten
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau. Regeste

    1.  Art. 64 letzter Absatz StGB. Die Anwendung dieser Bestimmung
entfällt bei Abtreibungen, die nicht der ordentlichen, sondern der
zweijährigen Verjährung unterliegen.

    2.  Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 StGB. Die Anwendung dieser Bestimmung darf
bei Delikten mit kurzer Verjährung nicht allgemein ausgeschlossen werden.

Sachverhalt

    A.- A. liess sich Ende August oder im September 1959, als sie noch
nicht 19 Jahre alt war, durch eine Abtreiberin in Kreuzlingen die Frucht
abtreiben.

    B. liess sich im August 1959 einen Eingriff vornehmen, der den Abgang
einer zwei Monate alten Frucht bewirkte. C. hatte die Schwangere mit der
Abtreiberin zusammengebracht.

    D. liess sich im August 1959, als sie sich schwanger glaubte, eine
Seifenlösung in die Gebärmutter einspritzen, ohne dass eine Frucht abging.

    B.- Am 4. Juli 1962 verurteilte die Kriminalkammer des Kantons
Thurgau A. und B. wegen passiver Abtreibung (Art. 118 StGB) sowie C.
wegen Gehilfenschaft dazu zu je drei Monaten Gefängnis und D. wegen
untauglichen Versuches der passiven Abtreibung zu 2 1/2 Monaten Gefängnis,
in allen Fällen unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges.

    C.- Die Verurteilten führen Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen,
das Urteil des Kriminalgerichts sei wegen Nichtanwendung von Art. 64
letzter Absatz StGB aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die
Vorinstanz zurückzuweisen. A. rügt ausserdem die Nichtanwendung von Art.
100 Ziff. 1 Abs. 2 StGB.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 64 letzter Absatz StGB kann der Richter die Strafe
mildern, wenn seit der Tat verhältnismässig lange Zeit verstrichen ist
und der Täter sich während dieser Zeit wohl verhalten hat.

    Der Milderungsgrund des Ablaufs verhältnismässig langer Zeit knüpft
an den Gedanken der Verjährung an. Die heilende Kraft der Zeit, die das
Strafbedürfnis geringer werden lässt, soll auch berücksichtigt werden
können, wenn die Verfolgungsverjährung noch nicht eingetreten ist, die Tat
aber längere Zeit zurücklìegt und der Täter sich inzwischen wohl verhalten
hat (STOOSS, Motive, Allg. Teil S. 75, 82). Verhältnismässig lange Zeit
im Sinne des Art. 64 letzter Absatz ist daher nach der Rechtsprechung
verstrichen, wenn die Strafverfolgung der Verjährung nahe ist (BGE 73 IV
159). Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Falle, wo im Zeitpunkt der
gerichtlichen Beurteilung der Abtreibungen nahezu die dreijährige Frist der
absoluten Verjährung abgelaufen war, dem Buchstaben nach erfüllt. Nach
dem Sinn des Art. 64 letzter Absatz aber können zwei bis drei Jahre
nicht als verhältnismässig lange Zeit gelten, denn nach so kurzer Frist
kann von einer heilenden Wirkung der Zeit, wozu es sonst bei Verbrechen
und Vergehen zehn bzw. fünf Jahre braucht, nicht gesprochen werden. Der
Gesetzgeber hat in Art. 118 und 119 Ziff. 1 StGB die Verjährungsfrist nicht
deswegen auf zwei Jahre verkürzt, weil sich bei diesen Abtreibungen das
Strafbedürfnis rascher abschwächen würde als bei andern Verbrechen und
Vergehen, sondern um der Schwierigkeit des Beweises Rechnung zu tragen
(ZÜRCHER, Prot. 2. Exp. Kom. II 185). Der innere Grund für die Milderung
der Strafe, wie er vorliegt, wenn die ordentliche Verjährungsfrist nahezu
abgelaufen ist, trifft hier nicht zu. Die Auffassung der Kriminalkammer,
dass die Anwendung des Art. 64 letzter Absatz in solchen Abtreibungsfällen
nicht gerechtfertigt sei, kann deshalb nicht beanstandet werden.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 StGB kann der Richter gegenüber
einem Täter, der zur Zeit der Tat das 18., aber nicht das 20. Altersjahr
zurückgelegt hat, von jeder Strafe oder Massnahme absehen, wenn seit der
Tat die Hälfte der Verjährungsfrist abgelaufen ist.

    Die Kriminalkammer bemerkt zu Beginn ihrer Erwägungen, dass die Gründe,
die in Abtreibungsfällen gegen die Anwendbarkeit des Art. 64 letzter Absatz
StGB angeführt werden können, auch gegen die Anwendung von Art. 100 Ziff. 1
Abs. 2 sprächen, wenn eine Abtreibung in Frage stehe, da die zweijährige
Verjährungsfrist der Art. 118 und 119 Ziff. 1 StGB in der Mehrzahl der
Fälle zur Straflosigkeit führen würde, was nicht der Sinn des Gesetzes
sein könne. Damit verkennt die Vorinstanz, dass die Anwendbarkeit von
Art. 100 Ziff. 1 Abs. 2 im Unterschied zu Art. 64 letzter Absatz nicht vom
Ablauf verhältnismässig langer Zeit abhängt, sondern bloss voraussetzt,
dass die Hälfte der Verjährungsfrist abgelaufen ist. Da auf die Dauer der
Verjährungsfrist nichts ankommt, ist es unzulässig, die Strafbefreiung
bei Delikten mit kurzer Verjährung allgemein auszuschliessen. Trotz
dieser irrigen Auffassung kann jedoch eine Rückweisung der Sache an die
Vorinstanz unterbleiben.

    Der Richter ist, wenn die Voraussetzungen des Art. 100 Ziff. 1
Abs. 2 erfüllt sind, nicht verpflichtet, die Bestimmung anzuwenden,
sondern er kann die Strafbefreiung ablehnen, wenn sie ihm nach den
Umständen des einzelnen Falles nicht gerechtfertigt erscheint. Unter
diesem Gesichtspunkt darf der Umstand, dass die begangene Straftat nicht
der ordentlichen, sondern einer verkürzten Verjährungsfrist unterliegt,
berücksichtigt werden, aus der Überlegung, dass in solchen Fällen weniger
Veranlassung besteht, von einer Strafe abzusehen. Die Vorinstanz hätte
daher die kurze Dauer der Verjährung bei der Entscheidung darüber, ob von
Strafe abgesehen werden soll, in Betracht ziehen können. Auf Grund dieser
und der weitern Erwägungen der Vorinstanz, nach denen sie die Ausfällung
einer Strafe auch wegen der Schwere der verübten Tat und zum Schutze
der Verurteilten vor neuen ähnlichen Verfehlungen für notwendig hält,
bleibt die Ablehnung der Strafbefreiung im Rahmen des zulässigen Ermessens.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.