Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 IV 185



89 IV 185

37. Urteil des Kassationshofes vom 31. Oktober 1963 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen Honauer. Regeste

    Art. 137 Ziff. 1, Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Wer in einem
Selbstbedienungsladen zum Kaufe angebotene Ware in der Absicht
unrechtmässiger Bereicherung an sich nimmt, veruntreut sie nicht, sondern
stiehlt sie.

Sachverhalt

    A.- Frau Honauer nahm vom Januar 1959 bis am 12. Oktober 1962 in
mehreren Selbstbedienungsläden unter zahlreichen Malen Lebensmittel und
andere Waren im Gesamtwert von etwa Fr. 1537 bis 1617 an sich, in der
Absicht, sie nicht zu zahlen, und verliess damit jeweilen den Laden,
ohne den Preis zu erlegen.

    B.- Das Bezirksgericht Zürich erklärte Frau Honauer des gewerbsmässigen
Diebstahls im Sinne von Art. 137 Ziff. 1 und 2 StGB schuldig und
verurteilte sie zu vier Monaten Gefängnis. Den bedingten Aufschub der
Strafe lehnte es ab.

    Auf Berufung der Verurteilten, die den Schuldspruch nicht anfocht,
aber die Herabsetzung der Strafe und den bedingten Aufschub des Vollzuges
beantragte, würdigte das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 21.
Juni 1963 die Taten als wiederholte und fortgesetzte Veruntreuung im
Sinne von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB und verurteilte Frau Honauer zu
75 Tagen Gefängnis, ohne den Vollzug bedingt aufzuschieben. Es setzte die
Strafe herab, weil nach dem im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten die
Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten leicht vermindert sei, die Handlungen
nunmehr nach dem milderen Tatbestand der Veruntreuung gewürdigt würden
und die Gewerbsmässigkeit entfalle.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt
Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, das oberinstanzliche Urteil
aufzuheben und das Obergericht anzuweisen, Frau Honauer des wiederholten
Diebstahls im Sinne von Art. 137 Ziff. 1 StGB schuldig zu sprechen.

    D.- Frau Honauer stellt keinen Antrag. Sie nimmt an, "dass das
Obergericht nach meinem Fall gehandelt hat".

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Dem Diebstahl gemäss Art. 137 Ziff. 1 StGB und der Veruntreuung
im Sinne des Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ist gemeinsam, dass der Täter
sich oder einen andern durch Aneignung einer fremden beweglichen Sache
unrechtmässig bereichern will (vgl. BGE 85 IV 18 ff.). Einen Diebstahl
begeht, wer die Sache jemandem wegnimmt. Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB setzt
dagegen voraus, dass sie dem Täter im Zeitpunkt der Aneignung anvertraut
sei. Der Gegensatz liegt also im Wegnehmen zwecks Aneignung einer nicht
anvertrauten Sache einerseits, im Aneignen einer anvertrauten anderseits.

    Weitere Unterschiede bestehen nicht. Insbesondere geht die Vorinstanz
fehl, wenn sie die Heimlichkeit als wesentliches Merkmal des Wegnehmens
und damit des Diebstahls erachtet. Die meisten Diebstähle werden freilich
heimlich begangen, weil der Täter sich vor einer Strafverfolgung schützen
will. Aber nötig ist das nicht. Das Wegnehmen der Sache vor den Augen
des Inhabers des Gewahrsams oder Dritter kann höchstens Anzeichen für
das Fehlen der Absicht unrechtmässiger Bereicherung sein. Das ist es aber
nicht schlechthin. Der Täter kann z.B. hoffen, er werde nicht beobachtet
oder der Zuschauende erkenne seine Bereicherungsabsicht nicht. Ist diese
nachgewiesen, so trifft trotz der Begehung in Anwesenheit und vor den Augen
des Inhabers des Gewahrsams oder Dritter die Bestimmung über Diebstahl
zu. Den gleichen Sinn hat nach der Auffassung des Bundesgerichtshofes §
242 des deutschen Strafgesetzbuches (Entscheidungen des Bundesgerichtshofes
in Strafsachen, Bd. 16 S. 273 f.).

Erwägung 2

    2.- Das Anvertrauen setzt nicht voraus, dass der Inhaber des
Gewahrsams dem andern die Sache hinreiche. Er kann sie aufstellen mit der
ausdrücklichen oder stillschweigenden Ermächtigung, dass irgendwer sie
wegnehme. Sie kann also dem, der von dieser Ermächtigung Gebrauch macht,
anvertraut sein, obschon er sie "weggenommen" hat. Dem Obergericht ist
deshalb zuzugeben, dass die Begründung des Gewahrsams des Vertrauensnehmers
und die Wegnahme der Sache zeitlich zusammenfallen können. Besser ist es,
zu sagen, dass das Anvertrauen und das Wegnehmen nicht notwendigerweise
gegensätzliche Begriffe sind, sondern jenes durch dieses zustandekommen
kann.

    Das bedeutet aber nicht, dass jedesmal dann, wenn der Eigentümer das
Wegnehmen der Sache zum Zwecke der Begründung eines Vertrauensverhältnisses
gestattet, Diebstahl ausgeschlossen sei. Es muss im einzelnen Falle
untersucht werden, ob der Täter die Sache in der Absicht behändigt,
das Verttrauensverhältnis zu begründen, das dem Inhaber des Gewahrsams
vorschwebt, oder ob er sie wegnimmt, um sich oder einen andern damit
unrechtmässig zu bereichern. Der Inhaber des Gewahrsams gestattet die
Wegnahme der Sache nicht schlechthin. Er will, dass das vorausgesetzte
Vertrauensverhältnis zustandekomme. Nur das erlaubt er, nicht die Wegnahme
zum Zwecke der unrechtmässigen Bereicherung. Wer die Sache zu diesem
Zwecke an sich nimmt, handelt bewusst gegen den Willen des andern, lehnt
das Angebot der Begründung eines Vertrauensverhältnisses ab und begeht
daher einen Diebstahl.

Erwägung 3

    3.- Die in einem Selbstbedienungsladen aufgelegten Waren sind, für
jedermann erkennbar, zur Besichtigung und zum Kaufe, und nur zu diesen
Zwecken, angeboten. Jedermann darf sie an sich nehmen, aber nur, damit
er sie prüfe und, falls er sie behalten will, an der Kasse vorweise und
bezahle. Ob ihm die Ware, wenn er diese Absicht hat, auf dem Weg von
der Behändigung bis zur Kasse "anvertraut" ist, kann dahingestellt
bleiben. Jedenfalls ist sie ihm nicht anvertraut, wenn er sie in
der Absicht an sich nimmt, sie nicht vorzuweisen, sondern sich oder
einen Dritten damit zu bereichern. Denn zu diesem Zwecke erlaubt ihm
der Geschäftsinhaber die Wegnahme nicht. Wer die Ware in der Absicht
unrechtmässiger Bereicherung wegnimmt, veruntreut sie daher nicht,
sondern stiehlt sie. Diese Meinung wird auch im Schrifttum vertreten
(VON RECHENBERG, SJZ 50 12 Spalte rechts).

    Das Bezirksgericht führt aus, es sei ausgeschlossen, dass die
Angeklagte jedesmal von neuem, d.h. erst beim jeweiligen Betreten des
Ladens, den Entschluss gefasst habe, Waren mitlaufen zu lassen; dies zeige
sich schon im Umstand, dass sie die Taten beging, um trotz zu niedrig
bemessenen Haushaltungsgeldes die Kosten des Haushaltes bestreiten zu
können; dieser Notlage sei sie sich jederzeit bewusst gewesen und aus ihr
heraus habe sie die Diebstähle regelmässig und mit Vorbedacht begangen;
ihr Wille, das Verbrechen zur Verdienstquelle zu machen, sei erstellt;
auch die Bereitschaft, gegen unbestimmt viele zu handeln, wo immer sich
passende Gelegenheit biete, sei nachgewiesen. Mit diesen Ausführungen legt
das Bezirksgericht dar, dass die Beschwerdegegnerin gewerbsmässig gehandelt
habe. Dem Obergericht stellte sich die Frage der Gewerbsmässigkeit nicht,
weil es die Taten als Veruntreuung würdigte. Dennoch müssen die in den
erwähnten Ausführungen enthaltenen tatsächlichen Feststellungen als von
ihm übernommen gelten, hat es doch sein Urteil ausdrücklich "auf Grund der
tatsächlichen Ergebnisse des Urteils des Bezirksgerichtes" gefällt. Deshalb
ist davon auszugehen, dass die Beschwerdegegnerin jeweilen sogar schon vor
dem Betreten des Ladens die Absicht hatte'"Waren mitlaufen zu lassen",
sie also nicht zu bezahlen. Folglich hatte sie diese Absicht auch bei
der Behändigung der Waren. Es kann deshalb nicht davon die Rede sein,
dass sie ein Vertrauensverhältnis begründet habe, als sie diese an sich
nahm. Da ihr die Sachen nicht anvertraut waren, hat sie sich durch die
Aneignung des Diebstahls, nicht der Veruntreuung schuldig gemacht.

Erwägung 4

    4.- Unter diesen Umständen kommt nichts darauf an, ob die Waren schon
dadurch als "weggenommen" zu gelten hatten, dass die Beschwerdegegnerin
sie im Laden an sich nahm, oder erst dadurch, dass sie sie an der Kasse
vorbeischmuggelte. Es braucht auch nicht entschieden zu werden, ob der
Kunde, der die Ware in der Absicht an sich nimmt, sie zu bezahlen, diese
Absicht dann aber aufgibt, bevor oder während er an der Kasse vorbeigeht,
des Diebstahls schuldig ist. Offen bleiben kann auch, ob im Vorbeigehen
an der Kasse ohne Vorlegung und Bezahlung der Ware ein Betrug läge.

Erwägung 5

    5.- Gewisse Waren werden den Kunden auch im Selbstbedienungsladen
von Angestellten übergeben, z.B. Fleisch. Der Kunde nimmt sie bei diesem
Anlass nicht weg, stiehlt sie also nicht.

    Nach welcher Bestimmung der Kunde zu bestrafen ist, wenn er schon bei
der Übernahme der Sache beabsichtigt, sie nicht an der Kasse vorzuweisen
und zu bezahlen, oder wenn er einen solchen Entschluss erst nach der
Übernahme fasst und ihn beim Vorbeigehen an der Kasse ausführt, braucht
nicht untersucht zu werden. Es wird von keiner Seite behauptet, dass
unter den Waren, welche die Beschwerdegegnerin ohne Bezahlung aus den
Geschäften schmuggelte, sich auch solche befunden haben, die ihr von
einem Angestellten überreicht worden seien.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der II.
Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 21. Juni 1963
aufgehoben und die Sache zur Verurteilung der Beschwerdegegnerin wegen
Diebstahls an die Vorinstanz zurückgewiesen.