Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 II 67



89 II 67

13. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. Februar 1963
i.S. V. gegen G. und deren Kind Y.G. Regeste

    Vaterschaftsklage. Art. 314 Abs. 1 und 2 ZGB. Entkräftung der wegen
Verkehrs der Mutter mit einem Dritten erhobenen Einrede durch den Nachweis,
dass dessen Vaterschaft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
ausgeschlossen ist. Bestätigung des kantonalen Urteils, das diesen
Nachweis bejaht auf Grund eines serologischen Gutachtens, wonach beim
gegenwärtigen Stande der Forschung (abweichend von der dem Falle von
BGE 84 II 669 ff. zu Grunde liegenden Begutachtung) die Vaterschaft
sich auf Grund der Bestimmung der A - Untergruppen A1 und A2 - unter
gewissen im vorliegenden Falle nicht Platz greifenden Vorbehalten -
mit dem erforderlichen Grade der Sicherheit ausschliessen lässt.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

    Der Beklagte hält die Einrede des unzüchtigen Lebenswandels der
Klägerin 1 (Art. 315 ZGB) nicht aufrecht, ist aber nach wie vor der
Ansicht, die Klage müsse nach Art. 314 Abs. 2 ZGB wegen des nachgewiesenen
Verkehrs der Klägerin 1 mit einem Dritten, F. E., abgewiesen werden. Dessen
Vaterschaft lasse sich nicht, wie es der Experte und das Obergericht
annehmen, mit rechtlich genügender Sicherheit ausschliessen. Ob die
gesetzlichen Beweisanforderungen erfüllt seien, habe das Bundesgericht als
Rechtsfrage nachzuprüfen. Darüber habe der Experte und der Tatsachenrichter
keine das Bundesgericht bindende tatsächliche Feststellung treffen
können. Nun sei seinerzeit ein bloss auf der Bestimmung der A- Untergruppen
des ABO-Systems beruhender Vaterschaftsausschluss als nicht genügend
beweiskräftig erachtet worden (BGE 84 II 669 ff.). Seither habe sich
nichts ereignet, was eine andere Bewertung rechtfertigen würde.

    a) Bei nachgewiesenem, in die kritische Zeit fallendem Mehrverkehr
kann die Vaterschaftsklage nur zugesprochen werden, wenn der Dritte
mit äusserster, an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Vater
auszuschliessen ist. Für diesen Ausschluss des Dritten gelten die gleichen
strengen Anforderungen wie für den Ausschluss des Beklagten selbst,
dessen Vaterschaft nach Art. 314 Abs. 1 ZGB zu vermuten ist (vgl. BGE 82
II 265 ff.). An dieser Rechtsprechung hat das Bundesgericht gegenüber
abweichenden Ansichten (vgl. MERZ in ZbJV 94 S. 17 ff.) festgehalten
(BGE 84 II 676). Die Vermutung der Vaterschaft des Beklagten lebt also
nur dann wieder auf, wenn der Dritte (F. E.) mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit als Vater des Kindes Y. G. ausgeschlossen werden kann.

    b) Davon geht nicht nur das Obergericht, sondern auch der von ihm
beauftragte, mit den gesetzlichen Beweisanforderungen vertraute Experte
Dr. A. Hässig aus, dessen Fachkunde ausser Zweifel steht und übrigens
auch vom Beklagten nicht in Zweifel gezogen wird. Das Gutachten kommt
eben zum Schlusse, der Dritte F. E. sei (einzig) auf Grund der Bestimmung
der A- Untergruppen A1 und A2 - unter der Voraussetzung einer sicher
erwiesenen Mutterschaft der Klägerin 1 - "mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit" als Vater der Klägerin 2 auszuschliessen. Den
Darlegungen des Experten ist zu entnehmen, dass den Beteiligten neue
Blutproben entnommen wurden. Die A1/A2-Bestimmungen wurden mit mehreren
absorbierenden B-Seren und - neu gegenüber früher - mit einem Extrakt von
Dolichos biflorus vorgenommen. Das Ergebnis war eindeutig. Es ergaben
sich keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Intermediärform. Bei
der Würdigung des Beweiswertes eines A- Untergruppen-Ausschlusses
hebt der Experte hervor, ein Blutgruppensystem dürfe forensisch nur
verwertet werden, wenn sein Erbgang sicher feststehe und die serologische
Untersuchungstechnik gestatte, Fehlbestimmungen praktisch unmöglich zu
machen. Neuerdings verwende man für die Differenzierung der beiden
Untergruppen der Blutgruppe A häufig gewisse Pflanzenextrakte,
z.B. solche von Dolichos biflorus-Samen, welche spezifisch mit
A1-Blutkörperchen reagieren und dadurch auf einfachste Weise eine sichere
A-Untergruppendifferenzierung erlaubten. Die Absorptionsversuche würden,
seitdem die spezifischen Pflanzenextrakte zur Verfügung stünden, nur mehr
in besondern Fällen zur Sicherung der A-Untergruppen-Diagnose herangezogen,
im Sinn einer Bestätigungsreaktion. Die Zuordnung der Blutgruppen gelinge
heute in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle einwandfrei. Wo dies nicht
zutreffe, erfolge die Zuordnung zur Gruppe der Intermediärformen. Wenn
man sich davor hüte, Intermediärformen und A2B-Blutproben (zu letztern
wird eine besondere Erklärung gegeben) willkürlich zu klassieren, so
seien nach seiner Überzeugung bei Bestätigung der Untersuchungsergebnisse
durch einen erfahrenen Zweituntersucher Fehlbestimmungen nicht häufiger
als bei forensischen MN-, Rhesusfaktor- oder Kellbestimmungen. Einem lege
artis untersuchten A1A2-Ausschluss sei, mit der erwähnten Einschränkung,
im Vaterschaftsprozess und im Prozess auf Anfechtung der Ehelichkeit das
Prädikat der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zuzuerkennen. In
den weitern Ausführungen weist der Experte auf die übereinstimmende
Beurteilung durch andere Blutgruppenexperten hin (Skandinavier;
Dr. E. Hardmeier, Zürich). Im vorliegenden Falle seien alle Voraussetzungen
für eine einwandfreie Bestimmung gegeben.

    c) Welchen Grad der Zuverlässigkeit die Ergebnisse einer
naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethode bieten können und
welcher Sicherheitsgrad im gegebenen Einzelfall erreicht sei, ist eine
naturwissenschaftliche Frage, die der Sachverständige zu beantworten hat.
Gewiss steht es dem Tatsachenrichter zu, den Expertenbefund auf seine
Schlüssigkeit zu prüfen, soweit er dazu in der Lage ist. Übernimmt aber das
kantonale Gericht die Schlussfolgerung des Gutachtens, der zu beweisende
Sachverhalt sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegeben,
so kann das Bundesgericht nur nachprüfen, ob es angesichts der Grundlagen,
auf die sich dieser Schluss stützt, vertretbar sei, von einer derartigen
Wahrscheinlichkeit zu sprechen, oder ob dieser Beurteilung des Grades
der Zuverlässigkeit der Untersuchungsergebnisse eine Verkennung des
Begriffes der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit und damit ein
Irrtum über die gesetzlichen Anforderungen an den zu leistenden Beweis
zu Grunde liegen müsse (vgl. BGE 87 II 71 Erw. 3).

    Das vorliegende Beweisergebnis, wie es das Obergericht auf Grund des
Sachverständigenbefundes feststellt, lässt sich unter diesem rechtlichen
Gesichtspunkte nicht beanstanden. Wie das Obergericht zutreffend bemerkt,
stand die Zuverlässigkeit des A-Untergruppenausschlusses schon 1958
"auf der Schwelle der forensischen Verwertbarkeit" (vgl. die Hinweise
auf ein Urteil des deutschen Bundesgerichtshofes vom 17. Dezember
1953 und auf Gutachten des Dr. E. Hardmeier vom 23. Dezember 1949 und
19. Januar 1951 in BGE 84 II 674 in Verbindung mit BGE 78 II 312/13). Mit
dem vorliegenden eingehend begründeten Gutachten vom 26. März 1962 hat
Dr. A. Hässig den früher (vgl. BGE 84 II 672/73) eingenommenen Standpunkt,
den A-Untergruppen-Ausschlüssen komme "vorläufig" bloss das Prädikat einer
"erheblichen bis sehr erheblichen" Wahrscheinlichkeit zu, aufgegeben
und dieser Art des Ausschlusses nunmehr den oben umschriebenen höhern,
rechtlich zum Ausschluss der Vaterschaft genügenden Grad der Sicherheit
zuerkannt "auf Grund des heutigen Standes der Blutserologie und Genetik
der A-Untergruppen". Damit ist diese Ausschlussmethode - und zwar für sich
allein, ohne Kombination mit andern Ausschlussfaktoren (wozu vgl. BGE
78 II 316) - forensisch verwertbar geworden. Hervorzuheben sind die
Voraussetzungen und Vorbehalte, an die der Experte seinen grundsätzlichen
Befund knüpft:

    "Fälle, bei denen die A-Untergruppenzugehörigkeit der beteiligten
Individuen nicht eindeutig festgelegt werden kann, bei denen also eine
Intermediärform festgestellt wird, dürfen forensisch nicht verwertet
werden.

    "Fälle, bei denen der Ausschluss darauf beruht, dass eine der
beteiligten Personen der Gruppe A2B angehört, sind wegen der erwähnten
Hemmwirkung der Blutgruppe B auf die Ausprägung der Blutgruppe A mit
Zurückhaltung zu beurteilen; es sollte ihnen lediglich das Prädikat der
"erheblichen bis sehr erheblichen Wahrscheinlichkeit" zuerkannt werden.

    "Fälle, bei denen der Ausschluss darauf beruht, dass das Kind die
A-Untergruppe A2 aufweist, sind wegen der Möglichkeit einer verzögerten
Reifung der A-Eigenschaft ebenfalls mit Zurückhaltung zu beurteilen. Es
ist zu empfehlen, in solchen Fällen die Untersuchung zu Beginn des zweiten
Lebensjahres des Kindes zu wiederholen."

    Hier liegt indessen nach Feststellung des Experten keiner dieser
Fälle vor, und die Untersuchung ist zweifellos in fachgerechter Weise
vorgenommen worden. Es lässt sich nicht bemängeln, dass der Experte den
A-Untergruppen-Ausschlüssen einen höhern Grad von Sicherheit zuerkennt
als vor einigen Jahren. Diese veränderte Stellungnahme beruht auf
den Fortschritten der wissenschaftlichen Erkenntnis, wie sie dank
der Verbesserung der Forschungsmittel erzielt worden sind. Der
Fortschritt der Wissenschaft darf nicht bloss, sondern soll auch in
der Gutachtertätigkeit seinen Niederschlag finden (vgl. HUMMEL, Die
medizinische Vaterschaftsbegutachtung mit biostatistischem Beweis, 1961,
S. 48 Mitte). Die Rechtsprechung hat der Entwicklung und Vervollkommnung
der Grundlagen naturwissenschaftlicher Begutachtung zu folgen. Dass
der A-Untergruppen-Ausschluss nun den vom Experten dargelegten höhern
Beweiswert erlangt hat, ist zu beachten, auch wenn die Höherbewertung
dieses Beweises sich einzig auf die Wirkungen eines die Untersuchung
erleichternden und die Ergebnisse sicherer gestaltenden Pflanzenextraktes
stützt. Zu einer Ergänzung der Expertise mit Rücksicht auf die vom
Beklagten aufgeworfenen Zweifelsfragen besteht von Bundesrechts wegen keine
Veranlassung, nachdem der entscheidende Ausschlussbeweis gemäss rechtlich
einwandfreier Feststellung des Obergerichts erbracht ist. Infolgedessen
erweist sich der betreffende Mehrverkehr als bedeutungslos, und die
Vermutung der Vaterschaft des Beklagten ist daher nicht entkräftet.