Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 III 72



89 III 72

16. Entscheid vom 8. November 1963 i.S. Garage Moderne SA Regeste

    1.  Ist das Retentionsrecht, das ein Vermieter oder Verpächter als
Dritter in einer gegen den Schuldner von anderer Seite angehobenen
Betreibung auf Pfändung geltend macht, durch die Rechtsprechung aus
zureichenden Gründen vom Deckungsprinzip des Art. 126 SchKG ausgenommen
worden? (Erw. 1).

    2.  Sind in einer Betreibung auf Pfändung Gegenstände verwertet
worden, an denen Pfandrechte bestehen, so ist den Pfandgläubigern nur
der aus diesen Gegenständen erzielte Reinerlös, nach Abzug der auf sie
entfallenden Verwertungs- und Verteilungskosten, zuzuweisen. - Art. 144
Abs. 3 und 4, sinngemässe Anwendung von Art. 262 Abs. 2 SchKG. (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- In der Betreibung Nr. 26111 (Baumgartner gegen Widlake) für
Fr. 200. - nebst Zins liess das Betreibungsamt St. Gallen ein in der
Garage Moderne SA in Territet stehendes Automobil Vauxhall durch das
Betreibungsamt Montreux pfänden. An diesem auf Fr. 1000. - geschätzten
Fahrzeug machte die erwähnte Garageunternehmung ein "Pfandrecht"
für Reparaturen und Bestandteile im Forderungsbetrage von Fr. 153.35
und ein Retentionsrecht für die Garagebenutzung von monatlich Fr. 45.-
seit 9. Februar 1963 geltend. Am 20. Juni 1963 ersteigerte sie selbst
den Wagen für Fr. 400.--; ihre vorzugsberechtigten Ansprüche waren
in der Steigerungsankündigung auf Fr. 378.35 beziffert worden (die
erwähnten Fr. 153.35 und eine Garagemiete für fünf Monate im Betrag von
Fr. 225.--). Diese Ansprüche blieben im Widerspruchsverfahren unbestritten.

    B.- In der Abrechnung vom 13. August 1963 brachte das Betreibungsamt
St. Gallen vom Zuschlagspreis von
                  Fr. 400. -

    die Verwertungskosten in Abzug, betragend:

    a) diejenigen des Betreibungsamtes

    Montreux      Fr. 77.95

    b) die eigenen        "  44.35        Fr. 122.30

    und überwies der Garage Moderne SA den

    Restbetrag von                Fr. 277.70

    C.- Mit rechtzeitig eingereichter Beschwerde verlangte die Garage
Moderne SA die Zuweisung des ganzen Betrages ihrer durch Pfand-
bzw. Retentionsrecht gesicherten Forderungen von Fr. 378.35. Sie hält
dafür, die Verwertungskosten seien, soweit durch den Überschuss von
Fr. 21.65 nicht gedeckt, vom betreibenden Gläubiger zu tragen.

    D.- Beschwerde und Rekurs wurden in den kantonalen Instanzen
abgewiesen. Der Entscheid der obern kantonalen Aufsichtsbehörde vom
26. September 1963 geht davon aus, dass die "durch Faustpfand" gesicherte
Forderung der Rekurrentin für Reparaturen und Bestandteile von Fr. 153.35
auch nach Abzug der Verwertungskosten voll gedeckt sei, dass dagegen für
die "Mietzinsforderung" von Fr. 225.-- nach ständiger Rechtsprechung das
Deckungsprinzip des Art. 126 SchKG nicht gelte. Somit habe der Zuschlag zum
Preise von Fr. 400.-- erfolgen dürfen ohne Rücksicht darauf, ob auch diese
zweite Forderung durch den Reinerlös gedeckt sei. Nach Art. 144 Abs. 3
SchKG habe das Betreibungsamt dem Roherlös die sämtlichen Verwertungskosten
vorweg entnehmen dürfen.

    E.- Diesen Entscheid hat die Beschwerdeführerin an das Bundesgericht
weitergezogen. Sie hält am Beschwerdebegehren fest. Zur Begründung führt
sie aus, ihren beiden Forderungen komme in gleicher Weise der Vorrang vor
den Forderungen des betreibenden Gläubigers zu. Es gehe nicht an, sie für
die zweite Forderung als mitbetreibend zu betrachten und infolgedessen
an den Verwertungskosten teilnehmen zu lassen. Das führe zum unhaltbaren
Ergebnis, dass beide Forderungen mit diesen Kosten belastet würden. Im
übrigen seien die "frais de garde" gar nicht Mietzinse, wie denn kein
Mietvertrag abgeschlossen worden sei. Die Aufbewahrung des Wagens in
der Garage der Rekurrentin sei einfach eine Nebenwirkung ("accessoire")
des Retentionsrechtes für den Werklohn. Von der Pfändung an habe die
Rekurrentin den Gewahrsam übrigens kraft dieser amtlichen Verfügung
ausgeübt. Handle es sich somit nicht um Mietzins, so müsse die Regel des
Art. 126 SchKG voll und ganz zur Geltung kommen. Infolgedessen sei ihr
der ganze Betrag ihrer Forderungen aus dem Verwertungsergebnis zuzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 37 Abs. 2 SchKG begreift der Ausdruck "Faustpfand" auch
das Retentionsrecht. Das gilt wie für das Retentionsrecht des Art. 895 ZGB
so auch für das Retentionsrecht des Vermieters und des Verpächters nach
Art. 272 und Art. 286 Abs. 3 OR. Art. 898 Abs. 1 ZGB gibt dem in jenem
ersten Sinne Retentionsberechtigten ausdrücklich das Recht, die Sache
wie ein Faustpfand zu verwerten, und nach Art. 283 Abs. 3 SchKG wird auch
das Retentionsrecht der zweiten Art durch Betreibung auf Pfandverwertung
geltend gemacht. Indessen hat die Praxis hinsichtlich des Retentionsrechts
des Vermieters oder Verpächters eine gewisse Ausnahme Platz greifen
lassen bei Geltendmachung als Drittanspruch in einer von anderer Seite
gegen den Mieter oder Pächter angehobenen Betreibung: In diesem Falle
soll nämlich das Deckungsprinzip des Art. 126 SchKG nicht angewendet
werden, sondern die Verwertung ohne Rücksicht darauf geschehen können,
ob die durch das Retentionsrecht gesicherten Forderungen des Vermieters
oder Verpächters gedeckt sind oder nicht. So hat bereits der Bundesrat
am 13. März 1894 entschieden mit der Begründung, da der Vermieter oder
Verpächter sein Retentionsrecht auf dem Betreibungswege zu realisieren
habe, sei er in jenem Falle jedenfalls für verfallenen Miet- oder Pachtzins
als mitbetreibend anzusehen; daher entfalle das Deckungsprinzip, während
das pfandähnliche Vorzugsrecht als solches zu berücksichtigen sei. Bei
Verteilung des Erlöses sei daher in folgender Reihenfolge vorzugehen:
In erster Linie seien die Kosten der Verwertung und Verteilung zu decken
(Art. 144 Abs. 3 SchKG), dann die retentionsgesicherten Forderungen (soweit
möglich) und zuletzt die Forderungen der pfändenden Gläubiger (soweit auf
sie noch etwas entfalle). Das Bundesgericht ist dieser Betrachtungsweise
beigetreten (BGE 42 III 221). Es hat ferner entschieden, der Streit über
ein solches Retentionsrecht sei erst nach Verwertung der angesprochenen
Gegenstände auszutragen, weil sich der Zeitraum des Retentionsschutzes
vorher noch gar nicht umgrenzen lasse (BGE 54 III 5 ff.). Und hieran
anknüpfend hat das Bundesgericht jene Ausnahme vom Deckungsprinzip auf
das Retentionsrecht für laufenden Miet- oder Pachtzins ausgedehnt und
sie in neuer Weise begründet: Weil das Widerspruchsverfahren über ein
Retentionsrecht solcher Art erst nach geschehener Verwertung eingeleitet
werden darf, ist bei der Verwertung noch gänzlich ungewiss, ob und in
welchem Umfang ein solches Retentionsrecht besteht; somit kann dieses
Recht für die Bestimmung des Mindest-Zuschlagspreises schlechterdings
keine Rolle spielen (BGE 65 III 6 ff.).

    Die Rekurrentin zieht die Begründetheit dieser im Gesetze
nicht vorgesehenen, von der Praxis jedoch aus den erwähnten Gründen
anerkannten Ausnahme vom Deckungsprinzip in Zweifel, ohne sich damit
des nähern auseinanderzusetzen. Dieses Problem kann hier auf sich
beruhen bleiben, weil der Zuschlag zu Fr. 400.-- auch bei Anwendung des
Deckungsprinzips hätte erfolgen können; denn dieser Preis überstieg beide
retentionsgesicherten Forderungen. Übrigens hat die Rekurrentin - als
Erwerberin des Wagens an der Steigerung - die Verwertung als solche nicht
angefochten. Unter diesen Umständen ist es auch ohne Belang, ob das für
die zweite Forderung geltend gemachte Retentionsrecht überhaupt auf einem
Mietverhältnis oder vielmehr wie dasjenige für die Werklohnforderung auf
Art. 895 ZGB beruhe. Laut der Pfändungsurkunde hatte die Rekurrentin eine
"location" von Fr. 45.- monatlich geltend gemacht, während sie sich später
(im Schreiben vom 20. Juli 1963) auf ein einheitliches (auf Art. 895 ZGB
gestütztes) Retentionsrecht für beide Forderungen berief. Wie es sich
auch mit der Rechtsgrundlage dieses Anspruchs verhalten mag, ist bei der
Verteilung des Erlöses das im vollen Umfang anerkannte Retentionsrecht
für beide Forderungen zu berücksichtigen.

Erwägung 2

    2.- Bei der Verteilung des Reinerlöses nach Art. 144 Abs. 3 SchKG
bleiben die retentionsgesicherten Forderungen teilweise ungedeckt. Die
Rekurrentin glaubt dies angesichts ihres Vorzugsrechtes nicht hinnehmen
zu müssen. Sie hält dafür, die Regel des Art. 144 Abs. 3 SchKG, wonach
die Kosten der Verwertung und der Verteilung vorab aus dem Erlöse zu
decken sind, dürfe nicht zu ihrem Nachteil angewendet werden. Mit Recht
haben jedoch die Vorinstanzen die auf dieser Norm beruhende Abrechnung
des Betreibungsamtes bestätigt. Auch wenn man die Rekurrentin nicht
als mitbetreibende Gläuberin (im Sinne der erwähnten Rechtsprechung)
betrachtet, gehört sie zu den gemäss Art. 144 Abs. 4 SchKG an der
Verteilung des Erlöses "beteiligten" Gläubigern, da ihr Retentionsrecht
eben bei der Zwangsverwertung zu einem in bar zu erlegenden Preis
realisiert worden ist (vgl. JAEGER, N. 5 zu Art. 144 SchKG; BLUMENSTEIN,
Handbuch, S. 482; FRITZSCHE, SchKRecht I S. 270). Nach dieser Vorschrift
kommt zur Verteilung unter die beteiligten Gläubiger nur der Reinerlös
(ebenso in der Betreibung auf Pfandverwertung nach Art. 157 SchKG und
Art. 113 VZG, entgegen der Darstellung der Rekurrentin). Freilich erwähnt
das Gesetz in Art. 144 die Pfandgläubiger nicht ausdrücklich, und es
erhebt sich denn auch die Frage, inwieweit der Abzug der Verwertungs-
und Verteilungskosten zu deren Lasten gehen dürfe, da sie doch nur am
Erlös aus den Pfand- bzw. Retentionsgegenständen beteiligt sind. Mit Recht
beantwortet JAEGER (N. 4 zu Art. 144 SchKG) diese Frage mit dem Hinweis
auf die im Konkurs geltende Regel des Art. 262 Abs. 2 SchKG, welche die
Stellung der Pfandgläubiger ins Auge fasst. Danach werden auf den Erlös
von Pfandgegenständen nur die Kosten ihrer Verwaltung und Verwertung
verlegt. So ist es auch zu halten, wenn in einer Betreibung auf Pfändung
Dritten verpfändete Gegenstände verwertet worden sind. Die Rekurrentin
hat also bloss Anspruch auf den aus ihrem Pfand erzielten Reinerlös,
wobei indessen nur die Kosten der Verwertung dieses Gegenstandes und der
Verteilung des darauf entfallenden Erlöses abgezogen werden dürfen. Mit
diesen Grundsätzen steht die vorliegende Abrechnung im Einklang. Es war
nichts anderes als der von der Rekurrentin retinierte Wagen gepfändet,
und die angefochtene Abrechnung umfasst nicht etwa Kosten früherer
Verfahrensstadien, sondern bezieht sich nur auf die Verwertung und
Verteilung, wie sich aus den Akten ergibt und die Vorinstanzen - übrigens
ohne Widerspruch der Rekurrentin - feststellen.

Entscheid:

Demnach erkennt die Schuldbetreibungs- u. Konkurskammer:

    Der Rekurs wird abgewiesen.