Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 I 224



88 I 224

38. Auszug au dem Urteil vom 31. Oktober 1962 i.S. Schärli und
Mitbeteiligte gegen Regierungsrat des Kantons Obwalden. Regeste

    Art. 4 BV. Voraussetzungen für den Widerruf oder die Abänderung einer
Baubewilligung nach Beginn der Bauarbeiten.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Der Kanton Obwalden besitzt kein Baugesetz; er verfügt jedoch
namentlich im EG ZGB über einzelne privat- und öffentlichrechtliche
Bestimmungen, die das Bauen betreffen. Art. 132 Abs. 2 dieses Gesetzes
ermächtigt den Regierungsrat, "zum Schutze und zur Erhaltung von
Altertümern, Naturdenkmälern, Bäumen und seltenen Pflanzen, zur Sicherung
der Landschafts- und Ortschaftsbilder und Aussichtspunkte vor Verunstaltung
im Verordnungswege die nötigen Verfügungen zu treffen". Gestützt darauf
hat der Regierungsrat am 8. November 1932 eine Verordnung über den Natur-
und Heimatschutz und die Erhaltung von Altertümern und Kunstdenkmälern
erlassen. Gemäss Art. 1 der Verordnung geniessen "in der freien Natur
befindliche Gegenstände, denen ein wissenschaftliches Interesse oder
ein bedeutender Schönheitswert zukommt," den staatlichen Schutz. Dieser
erstreckt sich insbesondere auch auf Orts- und Landschaftsbilder. Art. 2
der Verordnung untersagt es, die in Art. 1 genannten Gegenstände ohne
Bewilligung der zuständigen Behörde zu beseitigen, zu verunstalten oder
in ihrer Wirkung zu beeinträchtigen.

    Weitere Vorschriften über das Bauen sind verschiedenen Polizeigesetzen
zu entnehmen. So hat der Grundeigentümer nach Art. 55 Abs. 5 der kantonalen
Strassenverordnung vom 14. September 1935 vor Inangriffnahme von Neu-
und Umbauten an öffentlichen Strassen ein Baugespann aufzustellen und
ein Baugesuch einzureichen. Mit dem Bau darf erst nach Erledigung des
Gesuchs begonnen werden.

    Neben die kantonalen treten die gemeindlichen Vorschriften über
das Bauwesen. Nach Art. 133 EG ZGB sind die Gemeinden berechtigt,
Bebauungspläne und baupolizeiliche Vorschriften aufzustellen. Die Gemeinde
Engelberg besass indes zu der hier massgebenden Zeit keine Bauordnung.

    B.- Schärli, End und Birrer entschlossen sich als Käufer einer
Parzelle an der Alten Gasse in Engelberg zum Bau eines Hauses mit acht
Dreizimmerwohnungen, das über einem Sockelgeschoss vier Stockwerke aufweist
und durch ein Flachdach abgeschlossen wird. Am 1. März 1962 unterbreiteten
sie dem Gemeinderat von Engelberg ein Baugesuch mit Plänen. Der Gemeinderat
gab zwar seinem Missbehagen über das Projekt Ausdruck; er sah aber keine
Möglichkeit, sich dem Bauvorhaben zu widersetzen. Mit Verfügung vom 9. März
1962 verhielt er die Bauherrschaft zur Errichtung eines Baugespanns;
unter dieser Voraussetzung und unter der Bedingung, dass die Anordnungen
über die Ableitung des Abwassers und die feuerpolizeilichen Vorschriften
eingehalten würden, werde die Baubewilligung im Sinne von Art. 55 Abs. 5
der kantonalen Strassenverordnung erteilt. Der Gemeinderat behalte
sich jedoch den Widerruf der Baubewilligung vor, falls das Baugespann
"unvorhergesehene, den Interessen der Öffentlichkeit zuwiderlaufende
Abweichungen" aufzeigen sollte.

    Diese Verfügung wurde der kantonalen Polizeidirektion und dem
kantonalen Baudepartement schriftlich mitgeteilt. Die Bauherrschaft
erstellte das vorgeschriebene Baugespann. Der Gemeinderat sah sich nicht
veranlasst, auf Grund dieser Darstellung des Projekts die Baubewilligung
zu widerrufen. Die Bauarbeiten wurden alsbald aufgenommen und rasch
vorangetrieben. Anfangs Mai 1962 waren das Sockelgeschoss sowie zwei
Stockwerke betoniert; das Mauerwerk des dritten Stockwerks war weit
fortgeschritten.

    In der zweiten Hälfte des Monats April 1962 war aus Kreisen des
Fremdenverkehrs vergeblich versucht worden, die Bauherrschaft zu bewegen,
auf ein Stockwerk zu verzichten und ein Giebeldach zu erstellen. Ein
Vertreter dieser Kreise wandte sich darauf an den Regierungsrat mit dem
Begehren um einstweilige Einstellung der Bauarbeiten und Anwendung der
Heimatschutzvorschriften. Der Regierungsrat ordnete am 3. Mai 1962 die
vorläufige Einstellung der Bauarbeiten an. Er fasste am 12. Juni 1962
endgültig über die Angelegenheit Beschluss. In Disp. 1 seines Entscheids
verfügte er, dass über dem Sockelgeschoss nur drei Stockwerke gebaut
werden dürften; der Abschluss sei nach Wahl der Bauherrschaft als Flachdach
auszugestalten oder als Giebeldach mit der gleichen Neigung wie das Dach
des Nachbarhauses. In der Begründung wird ausgeführt, der Regierungsrat
sei in Übereinstimmung mit dem fachmännischen Urteil der Vertreter des
Heimatschutzes der Ansicht, der Neubau würde, in der projektierten Form
ausgeführt, das Orts- und Landschaftsbild beeinträchtigen Dass das Ortsbild
bereits durch eine Reihe unschöner Bauten erheblich beeinträchtigt sei,
schliesse Bestrebungen zum Schutze eines begrenzten, noch erhaltenswürdigen
Gebiets im Umkreis des Kurparks nicht aus.

    C.- Schärli, End und Birrer führen staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung des Art. 4 BV mit dem Antrag, Disp. 1 des Beschlusses des
Regierungsrats sei aufzuheben. Der Regierungsrat schliesst auf Abweisung
der Beschwerde. Eine Instruktionskommission des Bundesgerichts hat den
Neubau und verschiedene Vergleichsobjekte in Engelberg in Augenschein
genommen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Wie das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung erkannt hat,
erfordern der zwingende Charakter des öffentlichen Rechts und die Natur
der öffentlichen Interessen, dass ein Verwaltungsakt, der dem Gesetz
nicht oder nicht mehr entspricht, nicht unabänderlich ist. Andererseits
kann es ein Gebot der Rechtssicherheit sein, dass eine Verfügung, welche
eine Rechtslage festgestellt oder begründet hat, nicht nachträglich
wieder in Frage gestellt werde. Ob ein Verwaltungsakt von der Behörde
zurückgenommen oder abgeändert werden kann, hängt daher, soweit darüber
nicht positive gesetzliche Bestimmungen bestehen, von einer Abwägung der
beiden sich gegenüberstehenden Gesichtspunkte ab: des Gebots der richtigen
Durchführung des objektiven Rechts auf der einen und der Anforderungen der
Rechtssicherheit auf der andern Seite. Das Postulat der Rechtssicherheit
geht dabei dann vor, wenn durch den Verwaltungsakt subjektive Rechte
zugunsten bestimmter Personen begründet werden, ferner wenn die Verfügung
auf Grund eines Einsprache- und Ermittlungsverfahrens ergangen ist, dessen
Aufgabe in der allseitigen Prüfung der öffentlichen Interessen und ihrer
Abwägung gegenüber den entgegengesetzten Privatinteressen besteht, oder
endlich, wenn der Private von der ihm durch die Verfügung eingeräumten
Befugnis bereits Gebrauch gemacht hat (BGE 79 I 6 b mit Verweisungen;
87 I 511).

    Nach dem Gesagten ist ein Widerruf der einmal erteilten Baubewilligung
nach dem Beginn der Bauarbeiten zwar nicht schlechthin ausgeschlossen;
es sind ihm aber enge Grenzen gesetzt. Hat der Bauherr im guten Glauben
zu bauen begonnen, so darf die Behörde gemäss der verfassungsmässigen
Eigentumsgarantie mit Rücksicht auf die Anforderungen der Rechtssicherheit
und nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit von Verwaltungsakten
nur dann auf die Baubewilligung zurückkommen, wenn diese in besonders
schwerwiegender Weise gegen das materielle Recht verstösst und damit
wichtige öffentliche Interessen verletzt (ZBl 1960 S. 594 Erw. 2);
ein solcher Widerruf darf zudem in der Regel nur gegen angemessene
Entschädigung erfolgen (vgl. MÜLLER und FEHR, Das Baupolizeirecht in
der Schweiz, S. 20; ZIMMERLIN, Bauordnung der Stadt Aarau, N. 6-8 zu §
13 und die dort genannte Lehre).

Erwägung 2

    2.- Der Kanton Obwalden besitzt kein Baugesetz und die Gemeinde
Engelberg verfügte über keine Bauordnung, auf Grund derer die Behörden
ein Baugesuch in umfassender Weise prüfen konnten. Der Gemeinderat von
Engelberg konnte sich den Beschwerdeführern gegenüber lediglich über
die strassenpolizeiliche Zulässigkeit des Neubaus aussprechen. Die so
gefasste Baubewilligung wurde allen Ämtern zugestellt, welche für die
Einhaltung der weiteren polizeilichen Vorschriften über das Bauen zu sorgen
haben. Nach Ablauf einer gewissen Frist, welche jene Ämter zur Prüfung der
Angelegenheit benötigten, durften die Beschwerdeführer deshalb trotz des
Fehlens einer entsprechenden umfassenden Bescheinigung damit rechnen, dass
ihr Bauvorhaben nicht nachträglich noch neuen baupolizeilichen Hindernissen
begegnen werde. Insbesondere hatten sie von Seiten der mit dem Natur-
und Heimatschutz betrauten Behörden keine Einwendungen mehr zu befürchten,
da der Gemeinderat die Baubewilligung dem kantonalen Baudepartement mit
dem ausdrücklichen Ersuchen zugestellt hatte, die Planunterlagen auch der
kantonalen Natur- und Heimatschutzkommission zu unterbreiten. Wenn die
Beschwerdeführer im Vertrauen darauf mit den Bauarbeiten begannen, dann
erwuchs ihnen damit das Recht, den Bau gemäss den der Behörde vorgelegten
Plänen zu vollenden.

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführer kamen bei der Vorbereitung der Planung zum
Ergebnis, eine normale Rendite lasse sich bei tragbaren Mietzinsen nur
erzielen, wenn auf dem teuren Bauland acht Dreizimmerwohnungen erstellt
würden. Sie verteilten diese Wohnungen auf vier Stockwerke. Wäre vor
Baubeginn gegen die Höhe des Bauvorhabens Einsprache erhoben worden, so
hätte die Stockwerkszahl bei entsprechender Vergrösserung des Grundrisses
ohne Einbusse an Wohnfläche vermindert werden können. Als der Regierungsrat
am 3. Mai 1962 die vorläufige Einstellung der Bauarbeiten befahl, waren
diese schon weit fortgeschritten; ausser dem Sockelgeschoss standen
bereits zwei Stockwerke. Es war nicht mehr möglich, für den Raum, der
infolge der von den Behörden verlangten Herabsetzung der Bauhöhe verloren
gehen sollte, durch eine Umgestaltung des Grundrisses Ersatz zu schaffen.

    Die Voraussetzungen für die Anwendung der Natur- und
Heimatschutzbestimmungen waren demnach im Zeitpunkt, da der Regierungsrat
sich der Sache annahm, wesentlich andere als vor Baubeginn. Angesichts der
bedeutenden materiellen Interessen, die auf dem Spiele standen, konnten
die Behörden nur mehr im Falle eines eigentlichen Notstandes in das Recht
der Beschwerdeführer auf plangemässe Vollendung des Neubaus eingreifen. Ein
solcher Fall ist dann anzunehmen, wenn ein Orts- oder Landschaftsbild von
"bedeutendem Schönheitswert" (Art. 1 der Heimatschutzverordnung) durch
ein in Ausführung begriffenes Bauwerk in nicht wiedergutzumachender Weise
verunstaltet wird.

    Das trifft hier offensichtlich nicht zu. Das Kurparkviertel wird in
wesentlichen Teilen durch unschöne und schlecht aufeinander abgestimmte
Bauten beherrscht, die zur Hauptsache aus der Jahrhundertwende stammen und
nichts mit den herkömmlichen Bauformen der Talschaft gemein haben. Die
Verhältnisse gestalten sich somit wesentlich anders als im Falle Matter
(BGE 82 I 102 ff.), auf den sich der Regierungsrat beruft. Auf einen
Schönheitswert können einzig die wenigen noch unverbauten Plätze, wie
insbesondere der Kurpark, Anspruch erheben. Die Alte Gasse, an welcher
der Neubau steht, ist entgegen dem, was ihr Name erwarten liesse, in
ihrem unteren Abschnitt nicht von alten Häusern gesäumt; sie zeichnet
sich durch nichts von vielen ähnlichen Strassen halb ländlichen, halb
vorstädtischen Charakters aus. Obschon der Neubau in Grösse und Form
von den Nachbarhäusern absticht, fällt er als an sich gut durchdachter
Baukörper nicht derart aus dem Rahmen der bestehenden Überbauung, dass
im Ernste von einer Verunstaltung gesprochen werden könnte. Zwischen den
Neubau und den Kurpark schieben sich zwei bestehende Häuser. Zwar tritt
von einem Teil des Parkes aus der Neubau hinter der Randbepflanzung in
der Lücke zwischen jenen Häusern in Erscheinung, doch wird der Ausblick
in diese Richtung von einem überhöht gelegenen unschönen alten Hotelbau
beherrscht, so dass die wenigen sichtbaren Wandflächen des Neubaus kaum
Beachtung finden. Entsprechendes gilt für den Blick von der viel begangenen
Dorfstrasse aus. Der Neubau wird von dieser Hauptverkehrsader durch zwei
Bauplätze getrennt, die in den nächsten Jahren überbaut werden dürften;
bis dahin wird das Bild durch die in Strassennähe stehenden Bäume bestimmt
und nicht durch den Bau der Beschwerdeführer.

    Soweit in jenem Viertel überhaupt von einem schutzwürdigen Ortsbild
die Rede sein kann, wird dieses mithin durch den Neubau nicht ernstlich
beeinträchtigt. Es lässt sich darum schlechthin nicht vertreten, unter
Berufung auf Vorschriften des Heimatschutzes nachträglich in die Rechtslage
der Beschwerdeführer einzugreifen. Der angefochtene Beschluss ist in
dieser Beziehung mit der (in der Beschwerde allerdings nicht ausdrücklich
angerufenen) Eigentumsgarantie, den Anforderungen der Rechtssicherheit und
dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit von Verwaltungsakten unvereinbar;
er ist insofern verfassungswidrig.

    Wohl besteht ein dringendes Bedürfnis, das Bauen auch in Gegenden,
die keinen besonderen Schönheits- oder Altertumswert haben, in geregelte
Bahnen zu lenken. Wie das Bundesgericht schon bei früherer Gelegenheit
(vgl. Urteil vom 26. April 1961 i.S. Jenni) betont hat, ist das aber
nicht Aufgabe der kantonalen Heimatschutzbestimmungen, sondern der
Bauvorschriften der Gemeinden. Gehen die kantonalen Instanzen dazu
über, beim Fehlen kommunaler Bauvorschriften die Bestimmungen der
Heimatschutzverordnung auch da in die Lücke treten zu lassen, wo diese
dem Wesen der Sache nach nicht Platz greifen können, so schwächen sie
damit den Willen der Gemeinden, selber für Ordnung zu sorgen. Das wird auf
lange Sicht die Bestrebungen des Natur- und Heimatschutzes nicht fördern,
sondern ihnen eher schaden.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und Ziff. 1 des Beschlusses des
Regierungsrates des Kantons Obwalden vom 12. Juni 1962 wird aufgehoben.