Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 I 159



88 I 159

27. Urteil vom 17. Oktober 1962 i.S. N. gegen N. und Kantonsgericht Zug.
Regeste

    Art. 61 BV. Einrede der abgeurteilten Sache.

    Tragweite der Garantie des Art. 61 BV. Begriff des Zivilurteils
(Erw. 2).

    Einrede der abgeurteilten Sache im Ehescheidungsprozess.

    -  Abgrenzung zwischen Bundes- und kantonalem Recht. Verhältnis
zwischen Berufung und staatsrechtlicher Beschwerde (Erw. 3).

    - Materielle Rechtskraft der Verfügung, mit welcher eine
Scheidungsklage wegen Rückzugs abgeschrieben wird, insbesondere wenn der
Rückzug erfolgte, bevor die Klage begründet wurde (Erw. 4, 5).

Sachverhalt

    A.- Die Eheleute N., Bürger von Genf, heirateten einander am 16. Juni
1945 und nahmen Wohnung in Zürich, wo der Ehemann für eine Fabrik in
G. (Württemberg) tätig war und die Ehefrau einen selbständigen Beruf
ausübte. Eine weitere Wohnung stand ihnen in G. zur Verfügung.

    a) Am 1. Oktober 1959 reichte der Ehemann beim Bezirksgericht Zürich
Klage auf Scheidung der Ehe ein. Am 12. Januar 1960, zwei Tage vor der
auf 14. Januar angesetzten Hauptverhandlung, zog er die Klage wieder
zurück mit der Erklärung:

    "Die Beklagte hat anlässlich der letzten Verhandlung die Zuständigkeit
des hiesigen Gerichtes in Zweifel gezogen. Der Kläger hat sich daher
entschlossen, die Klage hierorts zurückzuziehen und sie in Stuttgart
anhängig zu machen."

    Die Ehefrau ersuchte daraufhin das Bezirksgericht, den Prozess an Hand
zu behalten, eventuell dem Kläger eine Frist anzusetzen, um zu erklären,
ob er vorbehaltlos von der Klage Abstand nehme und damit das Nichtbestehen
eines Scheidungsgrundes anerkenne oder den Prozess in Zürich fortführen
wolle.

    Mit Beschluss vom 16. Februar 1960 schrieb das Bezirksgericht Zürich
"den Prozess als durch Rückzug erledigt" ab. Es nahm an, die Erklärung
des Klägers vom 12. Januar 1960 lasse keine andere Deutung zu, als dass er
die Klage zurückziehe. Der Prozess müsse daher abgeschrieben werden. Für
die Prüfung der Frage, welche Rechtswirkung diesem Rückzug sonst noch
zukommen könnte, bestehe infolgedessen weder Anlass noch Möglichkeit.

    b) Im März 1960 hob der Ehemann bei dem für G.  zuständigen Landgericht
Heilbronn Scheidungsklage an, während die Ehefrau in Zürich ein Gesuch
um Eheschutzmassnahmen stellte. Der Ehemann bestritt die Zuständigkeit
der Zürcher Gerichte wegen der in Heilbronn angehobenen Klage, wurde
aber abgewiesen, zuletzt durch Urteil des Bundesgerichtes vom 13.
September 1960 mit der Begründung, dass die Ehefrau in Zürich einen
selbständigen Wohnsitz habe und dass daher die in Heilbronn angehobene
Scheidungsklage nach Art. 3 des schweiz./deutschen Vollstreckungsabkommens
in Verbindung mit Art. 7 g Abs. 3 NAG nicht zulässig sei (BGE 86 II 303
ff.). Dieser Entscheid veranlasste den Ehemann, die Klage in Heilbronn
am 14. Februar 1961 zurückzuziehen.

    c) Am 17. Mai 1962 reichte der Ehemann, der sich inzwischen in Zug
niedergelassen hatte, beim dortigen Kantonsgericht Klage ein mit dem
Begehren, die Ehe der Parteien nach Art. 138, eventuell Art. 142 ZGB
zu scheiden. Die Ehefrau bestritt mit Eingabe vom 18. Juni 1962 die
örtliche Zuständigkeit des angerufenen Richters, und erhob wegen der
in Zürich angehobenen und wieder zurückgezogenen Klage die Einrede der
abgeurteilten Sache.

    Das Kantonsgericht Zug führte ein Beweisverfahren über die
Zuständigkeitsfrage durch und wies dann mit Beschluss vom 6. Juli 1962
die Einreden der örtlichen Unzuständigkeit und der abgeurteilten Sache
ab, die letztere im wesentlichen aus folgenden Erwägungen: Mit der
Begründung, die der Kläger dem am 12. Januar 1960 erklärten Rückzug
seiner Scheidungsklage beim Bezirksgericht Zürich gegeben habe, habe er
eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass er die Klage wegen fehlerhafter
Einleitung zum Zwecke der Verbesserung und sofortigen Wiedereinbringung
(§ 127 Ziff. 4 Satz 2 zürch. ZPO) zurückgezogen habe. Jedenfalls gehe aus
der Formulierung der Rückzugserklärung unzweifelhaft hervor, dass der
Kläger keinesfalls an einen Verzicht auf seinen Klageanspruch dachte,
sondern die Klage zurückziehen wollte, um sie in Stuttgart, dessen
Zuständigkeit ihm eher gegeben zu sein schien, wieder einzureichen. Es
hiesse den Formalismus auf die Spitze treiben, wenn man dem Kläger sein
Klagerecht absprechen wollte, nur weil er schrieb, die Beklagte habe die
Zuständigkeit Zürich "in Zweifel gezogen", und nicht ausdrücklich sagte,
er halte diesen Zweifel für begründet. Die Einrede der abgeurteilten Sache
müsste aber auch dann abgewiesen werden, wenn der Klagerückzug nicht
"wegen fehlerhafter Einleitung" erfolgt wäre. Der Kläger stütze die
Zuger Klage nicht nur auf die bereits mit der zurückgezogenen Zürcher
Klage geltend gemachten Tatsachen, sondern berufe sich auf zahlreiche
neue Tatsachen, nämlich darauf, dass seit Einreichung der Zürcher Klage
drei Jahre vergangen seien, dass die Parteien während dieser Zeit getrennt
lebten und ununterbrochen mit Erbitterung gegeneinander prozessierten und
dass die Beklagte kürzlich ein Strafverfahren gegen den Kläger eingeleitet
habe. Wenn sich eine Scheidungsklage aber auf neue Tatsachen stütze, so
könne die Rechtskraft des ersten Urteils bzw. Erledigungsbeschlusses nicht
mehr eingreifen, sofern den neuen Tatsachen eine gewisse Erheblichkeit
im Rahmen des Gesamttatbestandes zukomme, was hier zweifellos zutreffe.

    B.- Mit des staatsrechtlichen Beschwerde beantragt Frau N., den
Beschluss des Kantonsgerichts Zug vom 6. Juli 1962 aufzuheben und die Sache
an dieses zurückzuweisen. Sie macht Verletzung des Art. 61 BV geltend und
bringt vor: Die Annahme des Kantonsgerichts, dass der Beschwerdegegner
die in Zürich angehobene Scheidungsklage bloss im Sinne von § 127 Ziff. 4
Satz 2 zürch. ZPO angebrachtermassen zurückgezogen habe und daher keine
res iudicata vorliege, sei unzutreffend, da der Beschwerdegegner die
Zuständigkeit des Zürcher Richters nicht in guten Treuen habe bezweifeln
können; er habe eine Wohnsitzverlegung nach G. nur vorgespiegelt, um
ein deutsches Scheidungsforum zu schaffen. Davon abgesehen komme es
überhaupt nicht darauf an, was er beim Rückzug gedacht habe, denn die
Rechtswirkungen einer Prozesshandlung träten "unbekümmert darum ein, ob
sie gewollt seien oder nicht" (BGE 87 I 71). Unzutreffend sei ferner
die Annahme des Kantonsgerichts, dass den vom Beschwerdegegner in der
Zuger Klage vorgebrachten, seit dem Klagerückzug eingetretenen Tatsachen
eine gewisse Erheblichkeit im Rahmen des Gesamttatbestandes zukomme, da
diese Tatsachen dem Beschwerdegegner zum Verschulden anzurechnen seien
und daher einen Scheidungsanspruch nicht zu begründen vermöchten.

    C.- Das Kantonsgericht Zug und der Beschwerdegegner N.  beantragen die
Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales.)

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 61 BV sollen die rechtskräftigen Zivilurteile, die
in einem Kanton gefällt worden sind, in der ganzen Schweiz vollzogen
werden. Daraus folgt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts,
dass die Kantone die in andern Kantonen ergangenen rechtskräftigen
Zivilurteile nicht nur zu vollstrecken, sondern auch in allen andern
Beziehungen, so insbesondere hinsichtlich der Einrede der abgeurteilten
Sache, grundsätzlich wie die Entscheidungen der eigenen Gerichte zu
beachten haben (BGE 71 I 26 Erw. 4, 87 I 66 lit. a). Als Zivilurteil
gilt dabei nicht nur der Entscheid über einen zwischen den Parteien
streitig gebliebenen Anspruch, sondern auch die Verfügung, mit der eine
Klage infolge Anerkennung, Rückzugs oder Vergleichs abgeschrieben wird
(BGE 74 I 134 Erw. 2, 87 I 67 lit. b). Die vorliegende Beschwerde,
mit der beanstandet wird, dass das Kantonsgericht die auf Grund des
Abschreibungsbeschlusses des Bezirksgerichts Zürich vom 16. Februar
1960 erhobene Einrede der abgeurteilten Sache abgewiesen und damit
Art. 61 BV verletzt habe, ist daher an sich zulässig und konnte, da
die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 61 BV die
Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht voraussetzt (Art. 86
Abs. 2 OG), unmittelbar im Anschluss an den Beschluss des Kantonsgerichts
vom 6. Juli 1962 erhoben werden.

Erwägung 3

    3.- Das Eintreten auf die Beschwerde kann auch nicht etwa deshalb
abgelehnt werden, weil die behauptete Rechtsverletzung jetzt oder
im Anschluss an das Endurteil mit der Berufung beim Bundesgericht
gerügt werden kann (Art. 84 Abs. 2 OG). Die Einrede der abgeurteilten
Sache untersteht nicht in ihrem ganzen Umfang dem Bundesrecht,
sondern grundsätzlich dem kantonalen Recht. Aus dem Bundesprivatrecht
folgt zwar nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts, dass in einem
Prozess über einen bundesrechtlichen Anspruch ein früheres Urteil nur
dann als verbindlich erkannt werden darf, wenn dieser Prozess und das
frühere Urteil die gleichen Parteien und den gleichen Streitgegenstand
betreffen. Dagegen hindert das Bundesrecht (von Art. 61 BV abgesehen) den
kantonalen Richter nicht, einen bundesrechtlichen Anspruch, der bereits
Gegenstand eines rechtskräftigen Urteils bildet, in einem Verfahren
zwischen den gleichen Parteien neuerdings zu beurteilen. Mit der Berufung
kann daher nur geltend gemacht werden, die Einrede der abgeurteilten Sache
sei zu Unrecht geschützt worden; dass sie, wie vorliegend behauptet wird,
zu Unrecht verworfen worden sei, kann dagegen nur mit staatsrechtlicher
Beschwerde gerügt werden (BGE 75 II 290 und 78 II 401 ff. sowie die dort
erwähnten früheren Urteile, BGE 81 II 146/7, 83 II 267, 85 II 59).

    Das hier über die Einrede der abgeurteilten Sache und über das
Verhältnis zwischen Berufung und staatsrechtlicher Beschwerde Gesagte
gilt grundsätzlich auch für den Ehescheidungsprozess. Zwar ist nach
der Rechtsprechung eine neue Klage aus dem gleichen Scheidungsgrund
zuzulassen, wenn damit neben den früher beurteilten neue erhebliche
Tatsachen geltend gemacht werden, wobei es sich sowohl um erst nach
Abschluss des ersten Prozesses eingetretene als auch um schon früher
vorhandene und bekannt gewesene, aber in jenem Prozess aus irgendeinem
Grunde nicht geltend gemachte Tatsachen handeln kann (BGE 78 II 403 Erw. 2
und 85 II 59 Erw. 2). Das ändert jedoch nichts daran, dass mit der Berufung
nur geltend gemacht werden kann, das kantonale Gericht habe die Einrede der
abgeurteilten Sache zu Unrecht geschützt. Die von der Beschwerdeführerin
erhobene Rüge, das Kantonsgericht habe es zu Unrecht abgelehnt, die
vom Bezirksgericht Zürich wegen Klagerückzugs erfolgte Abschreibung
des Prozesses unter dem Gesichtspunkt der materiellen Rechtskraft einem
jene Klage abweisenden Urteil gleichzustellen, kann daher nur mit der
staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung des Art. 61 BV geltend
gemacht werden.

Erwägung 4

    4.- Das Kantonsgericht hat diese Gleichstellung in erster Linie deshalb
abgelehnt, weil der Beschwerdegegner die Klage in Zürich wegen Zweifeln an
der örtlichen Zuständigkeit zurückgezogen habe, um sie sofort an dem von
ihm als zuständig erachteten Orte wieder einzureichen. Dass der Kläger
mit dem Rückzug nicht auf den Scheidungsanspruch, sondern lediglich auf
den zunächst in Anspruch genommenen Gerichtsstand verzichten wollte,
kann nach dem Wortlaut und Sinn der Rückzugserklärung nicht zweifelhaft
sein. Fragen kann sich nur, ob die Zürcher Gerichte wirklich unzuständig
waren, ob der Beschwerdegegner nach Zürcher Prozessrecht befugt war, die
Klage auch im Falle der Zuständigkeit angebrachtermassen zurückzuziehen,
und gegebenenfalls, welche Rechtswirkungen einem unbefugten Rückzug
zukommen. Diese im Abschreibungsbeschluss des Bezirksgerichts Zürich offen
gelassenen Fragen können auch hier offen bleiben, da der angefochtene
Entscheid selbst dann nicht gegen Art. 61 BV verstösst, wenn nach
Zürcher Prozessrecht anzunehmen ist, der Beschwerdegegner habe die Klage
vorbehaltlos zurückgezogen und damit auf die materielle Beurteilung
verzichtet.

Erwägung 5

    5.- Soweit die in Zug eingereichte Scheidungsklage mit Tatsachen
begründet wird, die erst nach dem Rückzug der Zürcher Klage eingetreten
sind, erweist sich die Einrede der abgeurteilten Sache von vornherein als
unbegründet. Der Einwand der Beschwerdeführerin, dass es sich dabei um
Tatsachen handle, welche dem Beschwerdegegner als Verschulden anzurechnen
seien und daher die Scheidung nicht zu rechtfertigen vermögen, ist nicht
zu hören. Darüber, ob neue Tatsachen für sich allein oder zusammen mit
früheren zur Begründung des Scheidungsbegehrens tauglich sind (vgl. 78
II 403, 85 II 59), ist bei der materiellen Beurteilung der Klage zu
befinden. Zur Abweisung der Einrede der abgeurteilten Sache genügt die
Feststellung, dass es sich um neue, nach Abschluss des früheren Verfahrens
eingetretene Tatsachen handelt.

    Die Einrede der abgeurteilten Sache ist aber auch unbegründet, soweit
die in Zug eingereichte Klage mit Tatsachen begründet wird, die vor dem
Rückzug der Zürcher Klage vorhanden und bekannt gewesen sind. Solche
Tatsachen sind, wie bereits in Erw. 3 ausgeführt, nach der Rechtsprechung
der II. Zivilabteilung im späteren Verfahren zu berücksichtigen, wenn
sie im früheren Verfahren aus irgendeinem Grunde nicht geltend gemacht
worden sind (BGE 78 II 403/4, 85 II 59/60). Dies trifft aber für alle
mit der Zuger Klage geltend gemachten früheren Tatsachen zu, da der
Beschwerdegegner die Zürcher Klage vor der Hauptverhandlung, in welcher
er das Scheidungsbegehren mündlich zu begründen und den Sachverhalt
darzulegen hatte (§§ 128 Ziff. 2, 141 und 250 zürch. ZPO), zurückgezogen
hat. Unter diesen Umständen muss die Einrede der abgeurteilten Sache
scheitern. Bei der Beurteilung der Frage, ob man es in einem früheren
und in einem späteren Prozess mit dem gleichen Scheidungsanspruch zu
tun habe und ob daher die Einrede der abgeurteilten Sache begründet
sei, kommt es darauf an, welche Tatsachen in den beiden Prozessen zur
Begründung der Klage wirklich vorgebracht worden sind, nicht auf die,
welche zu diesem Zwecke geltend gemacht werden konnten (BGE 85 II 59 oben
und 60 Mitte). Ein Vergleich der Vorbringen im gegenwärtigen Verfahren
mit den Vorbringen zur Begründung einer zurückgezogenen Klage (wie er
z.B. im nicht veröffentlichten Urteil der II. Zivilabteilung vom 18. Mai
1961 i.S. Eheleute Baumgartner vorgenommen wurde) ist aber unmöglich,
wenn die frühere Klage in einem Verfahrensstadium zurückgezogen wurde,
in welchem noch keine oder doch keine den damaligen Scheidungsanspruch
genügend individualisierenden Tatsachen vorgebracht wurden (vgl. BÜHLER,
Das Ehescheidungsverfahren, ZSR 1955 S. 428a Anm. 17, wo angenommen wird,
dass in diesem Falle der Grundsatz "ne bis in idem" bzw. die Einrede der
abgeurteilten Sache versage).

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.