Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 IV 69



88 IV 69

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. April 1962
i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 312 StGB. Ein kantonaler Armeninspektor, der zu Unrecht
Bedürftigkeitsausweise zum Bezuge von Armenbilletten ausstellt, verletzt
wohl seine Amtspflicht, missbraucht seine Amtsgewalt aber nicht.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A. - X. hatte sich als kantonaler Armeninspektor mit der Unterstützung
der Familie Z. zu befassen. Als Frau Z. schwanger wurde, entschloss sie
sich im Einvernehmen mit X., die Schwangerschaft im Sinne des Art. 120
StGB unterbrechen zu lassen. Sie begab sich zu diesem Zwecke von Aarau
nach Chur und Zürich, wo sie jeweils einen Arzt aufsuchte; X. stellte
ihr für diese Reisen Transportgutscheine zum Bezuge von Armenbilletten aus.

    B.- Am 11. Dezember 1961 erklärte das Obergericht des Kantons Aargau
als Berufungsinstanz X. des fortgesetzten Amtsmissbrauchs im Sinne des
Art. 312 StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren
Gefängnisstrafe von zehn Tagen.

    C.- X. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung,
eventuell zur Ausfällung einer blossen Busse zurückzuweisen.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erklärt, auf
Gegenbemerkung zu verzichten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 312 StGB wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit
Gefängnis bestraft, wer als Mitglied einer Behörde oder als Beamter seine
Amtsgewalt missbraucht, um sich oder einem andern einen unrechtmässigen
Vorteil zu verschaffen oder einem andern einen Nachteil zuzufügen.

    Wie der Kassationshof in BGE 76 IV 286 ausgeführt hat, geht diese
Bestimmung weniger weit als Art. 53 lit. f des Bundesgesetzes über das
Bundesstrafrecht vom 4. Februar 1853 gegangen war, der einen allgemeinen
Tatbestand der vorsätzlichen Verletzung der Amtspflicht enthielt. Art. 312
StGB erfasst nicht jede Verletzung der Amtspflicht, entgegen dem deutschen
Randtitel nicht einmal jeden Missbrauch des Amtes, mag der Täter auch
sich oder einem andern einen unrechtmässigen Vorteil verschaffen oder
einem andern einen Nachteil zufügen wollen. Die Bestimmung verlangt
vielmehr, dass die in der erwähnten Absicht vorgenommene Tat in einem
Missbrauch der Amtsgewalt bestehe. Die Einschränkung der Strafbarkeit
gegenüber dem frühern Bundesstrafrecht wird besonders deutlich in der
Strafandrohung. Während nach der Bestimmung aus dem Jahre 1853, die
übrigens bloss für eidgenössische, nicht aber für kantonale Amtspersonen
galt, einfache Amtspflichtverletzungen nur mit Busse bestraft wurden,
bedroht Art. 312 StGB die Verletzung einer Amtspflicht durch Missbrauch
der Amtsgewalt in jedem Falle mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder
mit Gefängnis. Das kann nur heissen, dass der Gesetzgeber nicht jede
noch so geringfügige Missachtung der Amtspflicht als Amtsmissbrauch
bestraft wissen will; es ist vielmehr offensichtlich, dass er nur
"einzelne Arten... besonders wichtiger Amtspflichtverletzung" (Botschaft
S. 65), also solche, die durch besondere Merkmale gekennzeichnet sind,
dem Strafgesetzbuch unterstellen, im übrigen aber die Ahndung von
Amtspflichtverletzungen dem Disziplinarrecht und, soweit es sich um
kantonale Amtspersonen handelt, dem Übertretungsstrafrecht der Kantone
(Art. 335 StGB) überlassen wollte. Die nach Art. 312 StGB strafbare
Amtspflichtverletzung zeichnet sich abgesehen von der Absicht, sich
oder einem anderen einen unrechtmässigen Vorteil zu verschaffen oder
einem andern einen Nachteil zuzufügen, dadurch aus, dass der Täter seine
Amtsgewalt missbraucht. Ein solcher Missbrauch ist nach der angeführten
Rechtsprechung nur anzunehmen, wenn das Mitglied der Behörde oder der
Beamte die Machtbefugnisse, die ihm sein Amt verleiht, unrechtmässig
anwendet, d.h. kraft seines Amtes verfügt oder zwingt, wo es nicht
geschehen darf.

    Das hat X. dadurch, dass er Frau Z. zwei Bedürftigkeitsausweise
zum Bezuge von Armenbilletten nach Chur und Zürich ausstellte, nicht
getan. Freilich war der Bahnbeamte der Billetausgabestelle Aarau gegen
Vorlage der Ausweise jeweils gehalten, Frau Z. ein Billet zum halben
Preise abzugeben. Hiezu verpflichtet war der Beamte jedoch kraft der im
Tarif der schweizerischen Transportunternehmungen enthaltenen Bestimmungen
über Fahrvergünstigungen im Personenverkehr, nicht weil er der Amtsgewalt
des kantonalen Armeninspektors unterworfen gewesen wäre; denn der
Armeninspektor hat dem Bahnbeamten gegenüber keinerlei Befehls- oder
Weisungsbefugnisse. Nur ein missbrauch von Machtbefugnissen aber, welche
das kennzeichnende Merkmal der Amtsgewalt sind, würde den Beschwerdeführer
nach unbestrittener Meinung von Lehre und Rechtsprechung der Strafandrohung
des Art. 312 StGB aussetzen (vgl. Komm. THORMANN/OVERBECK, Note 3 zu
Art. 312; HAFTER, Bes. Teil II S. 831; SCHWANDER, Nr. 778; PETRZILKA,
Zürcher Erläuterungen zum StGB S. 439). Was X. vorgeworfen wird, war
eine Verletzung seiner Amtspflicht, nicht Missbrauch der Amtsgewalt;
er ist daher von der Anschuldigung des Amtsmissbrauches freizusprechen.

Erwägung 2

    2.- .....

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts des Kantons Aargau vom 11. Dezember 1961 aufgehoben und
die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz
zurückgewiesen.