Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 IV 42



88 IV 42

13. Entscheid der Anklagekammer vom 13. Februar 1962 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt gegen Justizdirektion des
Kantons Appenzell A. Rh. Regeste

    Art. 263 BStP.

    Von der gesetzlichen Norm abweichende Bestimmung des Gerichtsstandes
aus triftigen Gründen. Konkludente Anerkennung der Zuständigkeit durch
Vornahme von Untersuchungshandlungen während einer verhältnismässig langen
Zeit als triftiger Grund.

Sachverhalt

    A.- Schweizer wird einer grossen Zahl verschiedener
strafbarer Handlungen (Veruntreuungen, Betrüge, Urkundenfälschungen)
beschuldigt. Allein von der Firma ElectroNovelty in Lugano wurde gegen ihn
unter anderem wegen 15 Veruntreuungen, begangen in den Kantonen Appenzell
A. Rh., Aargau, Basel-Stadt, Bern und Luzern, Strafanzeige erstattet.

    Die erste Anzeige wurde am 6. Juni 1959 wegen Betruges von Ernst Alder
beim Polizeiamt Herisau eingereicht. Als das Verhöramt von Appenzell
A. Rh. im August 1959 vernahm, dass die Firma Electro-Novelty gegen
Schweizer in Basel Anzeige erstattet hatte, übermittelte es zwischen
dem 13. August und dem 12. Oktober 1959 die Akten des Falles Alder
der Staatsanwaltschaft von Basel-Stadt. Schweizer, der sich damals in
der Deutschen Bundesrepublik aufhielt, konnte erst nach längerer Zeit
ausfindig gemacht und schliesslich am 10. August 1961 in Heilbronn
verhaftet werden. Der von der Staatsanwaltschaft von Basel-Stadt im
Hinblick auf die Auslieferung erlassene Verhaftbefehl erwähnt auch den
von Alder zur Anzeige gebrachten Betrug. Die Auslieferung Schweizers an
die Basler Behörden erfolgte am 16. November 1961.

    Am 18. Januar 1962 wandte sich die Staatsanwaltschaft von Basel-Stadt
an das Verhöramt Trogen mit dem Begehren um Übernahme des Verfahrens,
was die Behörden des Kantons Appenzell A. Rh. ablehnten.

    B.- Mit Eingabe vom 31. Januar 1962 ersucht die Basler
Staatsanwaltschaft die Anklagekammer des Bundesgerichtes um Festsetzung
des Gerichtsstandes im Kanton Appenzell A. Rh. Die Justizdirektion dieses
Kantons beantragt demgegenüber, es seien die Behörden von Basel-Stadt
weiterhin mit der Sache zu befassen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die beteiligten Behörden sind sich darüber einig, dass nach der
gesetzlichen Norm (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) die Zuständigkeit der
Appenzeller Behörden gegeben ist. Streit besteht lediglich mit Bezug auf
die Frage, ob aus Zweckmässigkeitsgründen von der gesetzlichen Ordnung
abzugehen und der Gerichtsstand in Basel-Stadt statt im Kanton Appenzell
A. Rh. festzulegen sei.

Erwägung 2

    2.- Beim Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen kann
die Anklagekammer des Bundesgerichtes die Zuständigkeit anders als in
Art. 350 StGB bestimmen (Art. 263 BStP). In ständiger Rechtsprechung
hat sie indessen von dieser Befugnis nur Gebrauch gemacht, wenn triftige
Gründe es geboten (BGE 86 IV 63 und dort angeführte Entscheidungen).

    Die Justizdirektion des Kantons Appenzell A. Rh. stellt sich auf
den Standpunkt, die Behörden von Basel-Stadt hätten ihre Zuständigkeit
anerkannt; obschon sie bereits im Jahre 1959 die Übernahme des
Verfahrens hätten ablehnen können und müssen, hätten sie die Sache an
die Hand genommen und mit der Durchführung der Untersuchung ihre eigene
Zuständigkeit bestimmt.

    Eine ausdrückliche Anerkennung des basel-städtischen Gerichtsstandes
ist gegenüber den Behörden von Appenzell A. Rh. nie erfolgt. Zwar trifft
zu, dass der Kanton Basel-Stadt ein Auslieferungsverfahren eingeleitet hat,
in welches auch der von Alder zur Anzeige gebrachte Betrug miteinbezogen
war. Die Basler Behörden hatten jedoch die Pflicht, alle strafbaren
Handlungen, die ihres Wissens dem Beschuldigten vorgeworfen wurden und
als Auslieferungsdelikte in Betracht kamen, im Auslieferungsgesuch oder
in dem diesem beigefügten Haftbefehl zu nennen. Auch kann ihnen nicht
entgegenhalten werden, dass sie, als sie von der Verhaftung Schweizers
erfuhren, sich unverzüglich um dessen Auslieferung bemühten, ohne
zunächst noch die Gerichtsstandsfrage zur Entscheidung zu stellen. In
diesem Zeitpunkt war rasches Handeln geboten.

    Dagegen hätte die Staatsanwaltschaft von Basel-Stadt zuvor genügend
Zeit gehabt, um die Frage der Zuständigkeit endgültig zu klären. Zwischen
dem Tage, an dem sie die Akten zum Betrugsfall Alder erhielt, und dem
Eingang der Nachricht von der Verhaftung Schweizers liegen beinahe zwei
Jahre. Dabei war für sie bereits im Oktober 1959 erkennbar, dass die
Strafuntersuchung zuerst in Herisau angehoben wurde. Ihre Auffassung,
dass Schweizer zuerst zu den einzelnen Fällen einvernommen werden musste,
bevor überhaupt über den Gerichtsstand verhandelt werden konnte, steht
in Widerspruch zu dem von der Anklagekammer in ständiger Rechtsprechung
verfolgten Grundsatz, dass für die Bestimmung des Gerichtsstandes
nicht die vom Beschuldigten begangenen, sondern die ihm vorgeworfenen
strafbaren Handlungen massgebend sind (statt vieler BGE 74 IV 125). Unter
diesem Gesichtspunkte aber waren die Aussagen, die Schweizer machen
konnte, unerheblich und rechtfertigten keinesfalls einen Aufschub
der Zuständigkeitsfrage. Dazu kommt, dass sich die Gesuchstellerin im
Falle Alder selber nicht darauf beschränkte, die Auslieferung Schweizers
abzuwarten, um diesen hierüber einvernehmen zu können. Vielmehr hat sie
sich dreimal, nämlich am 13. Oktober 1959 sowie am 18. und 28. Dezember
1961, mit dem Verletzten telephonisch in Verbindung gesetzt, um von ihm
bestimmte Auskünfte zu erhalten oder ihn zur Einreichung von Belegen
einzuladen. Überdies teilte sie Alder auf dessen Anfrage betreffend den
Stand der Untersuchung am 23. September 1961 unter anderem folgendes mit:

    "Zur gegebenen Zeit wird der Verfahrensleiter noch an Sie gelangen,
um zu erfahren, ob Sie im hängigen Verfahren gegen den Angeschuldigten
eine Entschädigungsforderung geltend zu machen gedenken oder nicht,
bzw. in welcher Höhe."

    Inwiefern all diese Momente für die Staatsanwaltschaft von Basel-Stadt
von Interesse hätten sein sollen, wenn sie sich zur Behandlung des Falles
nicht für zuständig gehalten hätte, ist nicht zu sehen. Es kann deshalb
begründeterweise gesagt werden, die Gesuchstellerin habe durch eine Reihe
von Handlungen konkludent ihre Zuständigkeit anerkannt (vgl. auch BGE
85 IV 210 E. 3). Ihr Verhalten in der Zeit vom Oktober 1959 bis Dezember
1961 stellt einen triftigen Grund dar, von Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
abzuweichen und es bei dem Stand der Dinge bewenden zu lassen, der durch
die stillschweigende Anerkennung ihrer Zuständigkeit geschaffen wurde.

Entscheid:

Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Die Behörden des Kantons Basel-Stadt werden berechtigt und verpflichtet
erklärt, Schweizer für alle ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen
zu verfolgen und zu beurteilen.