Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 IV 145



88 IV 145

36. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. November 1962
i.S. Burkhalter und Kaufmann gegen Lorenzi und Reischmann. Regeste

    Art. 179 Abs. 2 StGB.

    1.  Unter den Begriff der Ausnützung fällt jede auf Erlangung
irgendeines, auch nicht notwendigerweise pekuniären Vorteils gerichtete
Benutzung der durch Offnen der Schrift erlangten Kenntnis. (Erw. 3 a).

    2.  Das Öffnen der Schrift, das aus generellem Auftrag oder mit
Duldung der Geschäftsleitung durch einen Untergebenen erfolgt, ist dem
verantwortlichen Vorgesetzten, der die ihm aus der geöffneten Schrift
bekanntgewordenen Tatsachen verbreitet oder ausnützt, anzurechnen, wie
wenn er es selber vorgenommen hätte (Erw. 3 b).

Sachverhalt

    A.- Lorenzi und Reischmann traten 1960 aus der Firma Supramar AG in
Luzern, die sich mit der Entwicklung und Konstruktion von Tragflügelbooten
beschäftigt und bei der sie bis dahin als Angestellte tätig gewesen
waren, aus. Sie gründeten unter der Bezeichnung "Lorenzi und Reischmann,
Ingenieurbüro für Tragflügelboote" ein Konkurrenzunternehmen, wovon
die Supramar AG spätestens im Verlaufe des Monats Mai 1960 Kenntnis
erhielt. Als in der Folge die Post vier vom 1. Juni und 21. Juli 1960
datierte und für Lorenzi und Reischmann bestimmte Geschäftsbriefe
versehentlich der Supramar AG zustellte, wurden diese vom damaligen
kaufmännischen Geschäftsführer der Supramar AG, Burkhalter, geöffnet und
nach Rücksprache mit dem Delegierten des Verwaltungsrates, Kaufmann,
auf dessen Weisung hin fotokopiert, um sie in einer gegen Lorenzi und
Reischmann in Aussicht genommenen Strafanzeige verwenden zu können. Die
Originale der betreffenden Briefe wurden teils an die Absender
zurückgeschickt, teils zurückbehalten.

    Das Amtsgericht Luzern-Stadt verurteilte am 9. Februar 1962 Burkhalter
und Kaufmann wegen wiederholter Verletzung des Schriftgeheimnisses
(Art. 179 Abs. 1 und 2 StGB) zu je Fr. 100.-- Busse.

    C.- Burkhalter und Kaufmann führen Nichtigkeitsbeschwerde mit dem
Antrag, das Urteil des Amtsgerichtes sei aufzuheben und die Sache zu
ihrer Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Lorenzi und Reischmann beantragen Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Anwendung von Art. 179 Abs. 2 StGB auf den vorliegenden Fall
ist nicht zu beanstanden.

    a) Nach dem angefochtenen Urteil hat Burkhalter die weder für ihn noch
seine Arbeitgeberfirma bestimmten Briefe nicht nur unberechtigterweise
geöffnet, sondern auch zu Prozesszwecken fotokopieren lassen. Damit hat
er Tatsachen, die durch Öffnen der Briefe zu seiner Kenntnis gelangten,
im Sinne von Art. 179 Abs. 2 StGB ausgenützt. Denn mit der Vorinstanz
und dem Schrifttum ist anzunehmen, dass jede auf Erlangung irgendeines,
auch nicht notwendigerweise pekuniären Vorteils gerichtete Benutzung
der durch Öffnen der Schrift erlangten Kenntnis unter den Begriff der
Ausnützung fällt (HAFTER, Lehrbuch, Bes. Teil, I S. 213, III 2; LOGOZ,
Kommentar, S. 262, B lit. a). Wer deshalb, wie der Beschwerdeführer, eine
solche Kenntnis zur Verbesserung seiner Beweislage im Prozess ausnützt,
erstrebt damit einen Vorteil (vgl. BGE 83 IV 82 Nr. 21).

    b) Mit Bezug auf Kaufmann stellt das Amtsgericht fest, dieser habe
spätestens Ende Mai 1960 gewusst, dass für das Ingenieurbüro Lorenzi und
Reischmann bestimmte Postsendungen bei der Supramar AG abgegeben wurden,
und Burkhalter habe die Sache mit Kaufmann besprochen, worauf dieser
die Weisung erteilt habe, die Briefe zu fotokopieren, um sie in einem
Strafverfahren gegen die Beschwerdegegner zu verwenden.

    Kaufmann hat danach die fraglichen Briefe nicht eigenhändig geöffnet,
wohl aber deren Öffnung veranlasst oder mindestens geduldet. Denn
als Delegierter des Verwaltungsrates der Supramar AG kannte er die
Organisation seines Betriebes und wusste er insbesondere, dass die Post
auf der Kanzlei geöffnet wurde. Obwohl er spätestens Ende Mai 1960 und
damit vor Eingang der fraglichen vier Briefe (diese sind vom 1. Juni
bzw. 21. Juli 1960 datiert) Kenntnis davon hatte, dass für Lorenzi
und Reischmann bestimmte Postsendungen aus Versehen der Supramar AG
zugestellt wurden, hat er es nicht nur unterlassen, der Kanzlei das Öffnen
solcher Briefe zu verbieten, sondern vielmehr Burkhalter als Vorsteher
der Kanzlei noch die Weisung erteilt, die Sendungen zu fotokopieren,
um Beweismaterial gegen die Beschwerdegegner zu sammeln. Damit hat
Kaufmann den Tatbestand des Art. 179 Abs. 2 StGB erfüllt. Zwar ist nach
dem Gesetzeswortlaut, insbesondere nach seiner französischen Fassung
("celui qui, ayant pris connaissance de certains faits en ouvrant un pli
ou colis fermé qui ne lui était pas destiné, aura divulgué ces faits ou
en aura tiré profit") als Täter nur strafbar, wer die Schrift, vor der
Ausnützung selber geöffnet hat (s. auch Prot. II. ExpKo Bd. III S. 101
und Bd. VII S. 12 und 64/65). Darauf kann indessen nicht entscheidend
abgestellt werden. Denn bei rein grammatikalischer Auslegung der genannten
Bestimmung würde Missbräuchen Tür und Tor geöffnet, indem diesfalls das
Gesetz in der Weise leicht umgangen werden könnte, dass das Öffnen der
Schrift bewusst einem Dritten überlassen würde. Wo dieser Dritte auf
vorsätzliche Veranlassung des andern handelte, wäre der Hintermann wohl
als Anstifter und bei Gutgläubigkeit des Dritten sogar als mittelbarer
Täter erfassbar. Dort jedoch, wo es an diesen Voraussetzungen fehlte,
und das dürfte in der Mehrzahl der Fälle zutreffen, bliebe das Verbreiten
oder Ausnützen der in der Schrift enthaltenen Tatsachen straflos. So
müsste in grösseren Unternehmen mit starker Arbeitsteilung, wo häufig
untergeordneten Angestellten die Öffnung der eingehenden Post obliegt,
die Ausnützung fremder Schriftgeheimnisse durch die leitenden Stellen
ungestraft bleiben, weil diese die Schrift nicht eigenhändig geöffnet
hatten. Ein wirksamer Schutz des Schriftgeheimnisses ist daher in
solchen Fällen nur gewährleistet, wenn das Öffnen der Schrift, das aus
generellem Auftrag oder mit Duldung der Geschäftsleitung durch einen
Untergebenen erfolgte, dem verantwortlichen Vorgesetzten, der die ihm aus
der geöffneten Schrift bekanntgewordenen Tatsachen im Sinne von Art. 179
Abs. 2 StGB verbreitet oder ausnützt, angerechnet wird, wie wenn er es
selber vorgenommen hätte. Hat demnach Kaufmann infolge seiner leitenden
Stellung innerhalb der Supramar AG für das von ihm zumindest geduldete
Öffnen der fremden Briefe durch die Kanzlei einzustehen wie für eigenes
Handeln, so wurde er von der Vorinstanz mit Recht nach Art. 179 Abs. 2
StGB bestraft.