Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 IV 107



88 IV 107

29. Urteil des Kassationshofes vom 22. Oktober 1962 i.S. Jordan gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 238 StGB. Adäquater Kausalzusammenhang. Die Rechtserheblichkeit
eines zu einem Bahnunfall führenden fehlerhaften Verhaltens wird durch
andere mitwirkende Ursachen (Verschulden Dritter, Versagen technischer
Sicherungen) nicht ausgeschlossen, wenn nicht ganz aussergewöhnliche
Umstände vorliegen. Keine solchen Umstände waren hier, dass der
Lokomotivführer das geschlossene Ausfahrsignal nicht beachtete und die
automatische Bremsanlage unwirksam war.

Sachverhalt

    A.- (Zusammengefasst.) Am 21. Juni 1961 wollte Betriebsbeamter Jordan
den fahrplanmässig verkehrenden, nur aus einer Lokomotive bestehenden
Zug 5832 Biel-Lyss auf der Station Brügg anhalten und vom Gleis 2,
auf dem er einfuhr, auf Gleis 3 umsetzen, um die Kreuzung mit dem
Güterzug 5827 Lyss-Biel zu ermöglichen. Er gab zu diesem Zwecke dem
Führer der einfahrenden Lokomotive, Simon, durch Armschwenken Zeichen
zum Vorfahren und rief ihm gleichzeitig zu, er solle über die Weiche
1 auf Gleis 3 zurückfahren. Simon verstand jedoch die Zurufe nicht und
schloss aus den Handzeichen Jordans, dass er zur Weiterfahrt aufgefordert
werde. Da er seine Aufmerksamkeit auf den Betriebsbeamten gerichtet hatte,
übersah er das wegen einer Kurve erst auf kurze Entfernung sichtbare,
geschlossene Ausfahrsignal und fuhr Richtung Busswil weiter. Zudem sprach
die automatische Zugsicherung, da die Signumanlage defekt war, beim
Überfahren des geschlossenen Ausfahrsignals nicht an. Kurz darauf kam es
zwischen der Lokomotive 5832 und dem von Busswil entgegenkommenden Güterzug
trotz der beidseits eingeleiteten Schnellbremsung zum Zusammenstoss,
der Sachschaden zur Folge hatte.

    B.- Das Obergericht des Kantons Bern erklärte am 25.  Januar 1962
Jordan der fahrlässigen Störung des Eisenbahnverkehrs schuldig und
verurteilte ihn in Anwendung von Art. 238 Abs. 2 StGB zu einer Busse von
Fr. 50.-.

    C.- Jordan beantragt mit der Nichtigkeitsbeschwerde, er sei
freizusprechen. Er bestreitet, dass sein reglementswidriges Verhalten
adäquate Ursache des Zugszusammenstosses gewesen sei.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Es war in der Fahrordnung vorgesehen, dass der Zug 5832 in
Brügg einen bedingten Halt zu machen hatte. Simon war daher im Sinne
von Ziff. 4730 des Fahrdienstreglements vom 20. Mai 1951 auf den
ausserordentlichen Halt vorbereitet. Für diesen Fall bestimmt Ziff.
4731 des Fahrdienstreglements, dass die ausserordentliche Haltstation
den Zug durch Handsignale mit roter Flagge oder rotem Licht und durch
das Ausfahrsignal anzuhalten hat. Anstatt das Haltezeichen mit der
roten Flagge zu geben, versuchte der Beschwerdeführer durch zweideutiges
Armschwenken und durch Zurufe, die für Simon unverständlich waren, den Zug
anzuhalten. Er hat demnach in Missachtung der erwähnten Dienstvorschrift
nicht die Vorsicht angewendet, zu der er verpflichtet war, weshalb ihm
Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist.

Erwägung 2

    2.- Nach der Feststellung der Vorinstanz hätte Simon den Zug
angehalten, wenn das Haltsignal mit roter Flagge gegeben worden wäre. Damit
steht verbindlich fest, dass die Unterlassung des Beschwerdeführers
eine der natürlichen Ursachen des Zugszusammenstosses war. Dieser
Kausalzusammenhang war auch rechtlich erheblich, wenn die Pflichtwidrigkeit
des Beschwerdeführers nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge geeignet war,
einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen oder zu begünstigen. Ob
daneben noch andere Ursachen, z.B. pflichtwidriges Verhalten Dritter,
technische Fehler, zum Erfolgseintritt beigetragen haben, ist insoweit
unerheblich, als diese Mitursachen nach allgemeiner Erfahrung nicht
ausserhalb normalen Geschehens liegen (BGE 86 IV 155 ff., 87 IV 65, 159).

    Es liegt in der Natur der Sache, dass der Eisenbahnbetrieb,
insbesondere der Zugsverkehr, Leib und Leben von Menschen erheblichen
Gefahren aussetzt, die im Falle der Verwirklichung umso schwerwiegender
sind, als regelmässig zahlreiche Personen betroffen werden. Um diesen
Gefahren zu begegnen und Unfälle nach Möglichkeit zu verhüten, werden
von den Bahnbehörden umfassende Sicherungsvorkehren verschiedener Art
getroffen, sei es durch den Einbau technischer Einrichtungen, sei es
durch den Erlass von Vorschriften, die das Verhalten des Bahnpersonals und
dasjenige der Benützer regeln. Im vorliegenden Falle diente der Sicherung
des ausserordentlichen Haltes das Handzeichen des Stationsbeamten,
das Ausfahrsignal und schliesslich die automatische Bremsanlage beim
Überfahren des geschlossenen Ausfahrsignals. Wenn die massgebenden
Behörden zur Gewährleistung eines bestimmten Vorganges sich nicht mit
einer einzigen Sicherungsmassnahme begnügen, sondern zugleich mehrere
anordnen, so deshalb, weil die Erfahrung lehrt, dass immer wieder mit
der Möglichkeit menschlichen Versagens gerechnet werden muss und auch auf
technische Einrichtungen kein unbedingter Verlass ist. Damit ist bereits
gesagt, dass der Ausfall einer der im Bahnverkehr vorgesehenen Sicherungen
grundsätzlich kein so aussergewöhnliches Ereignis darstellt, dass es nach
allgemeiner Erfahrung nicht hätte erwartet werden können. Wenn nicht ganz
aussergewöhnliche Umstände vorliegen, kann sich daher derjenige, der zu
einem Bahnunfall beiträgt, strafrechtlich nicht auf die von einem andern
gesetzte Mitursache berufen, um die Rechtserheblichkeit seines eigenen
Verhaltens auszuschliessen.

    Die Nichtbeachtung des geschlossenen Ausfahrsignals durch Simon
und das Nichtfunktionieren der automatischen Bremsanlage liegen nach
dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht ausserhalb normalen Geschehens,
sodass der vom Beschwerdeführer begangene Fehler als adäquate Ursache des
nachfolgenden Zugszusammenstosses erscheint. Da für die Beurteilung der
Rechtserheblichkeit des Kausalzusammenhanges objektive Gesichtspunkte,
die allgemeine Lebenserfahrung und nicht die Vorstellungen des Täters,
massgebend sind, kommt es nicht darauf an, ob der Beschwerdeführer
die Nachlässigkeit des Lokomotivführers und das technische Versagen der
automatischen Bremse habe voraussehen können oder nicht (BGE 86 IV 156/7,
87 IV 160, 87 II 127/8).

    Die Beschwerde wirft Simon übrigens zu Unrecht vor, dieser habe
auch Ziff. 76 des Reglements über den Rangierdienst verletzt, indem
er sich nicht über die Bedeutung des Armschwenkens und der Zurufe des
Beschwerdeführers erkundigt habe. Die Bestimmungen dieses Reglements
beziehen sich gemäss Ziff. 2 nur auf den eigentlichen Rangierdienst,
nicht aber auf die Ein-, Aus- und Durchfahrten der Züge, sodass die
angerufene Bestimmung der Ziff. 76 hier nicht anwendbar ist.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.