Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 II 386



88 II 386

54. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabtellung vom 18. September 1962
i.S. Patricia-Stiftung gegen Klaproth. Regeste

    Unentgeltliche Rechtspflege, Art. 152 OG, kann von juristischen
Personen nicht beansprucht werden.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Art. 152 OG bestimmt, dass "einer bedürftigen Partei, deren
Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint, ..... Befreiung von der
Bezahlung der Gerichtskosten..." gewährt werden kann.

    Auf Grund dieser Bestimmung können nach der Ansicht von BIRCHMEIER
(Art. 152 OG N. 4 S. 522) sowohl natürliche als auch juristische
Personen das Armenrecht beanspruchen. GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht
(2. Aufl. S. 380 Anm. 25 c), nahm demgegenüber vorerst den Standpunkt
ein, einer juristischen Person könne die unentgeltliche Rechtspflege nicht
bewilligt werden. In dem 1961 erschienenen 1. Supplement zur 2. Auflage
seines Werkes (S. 46) änderte er dagegen seine Meinung dahin ab, dass die
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege möglich sein sollte, wenn
sowohl die juristische Person, als auch ihre Mitglieder mittellos seien.

    Aus der schweizerischen Literatur sind sodann noch zwei Beiträge
zur streitigen Frage zu erwähnen, die beide in der Zeitschrift "Die
Schweizerische Aktiengesellschaft" (SAG) erschienen sind: SONTAG, "Kann
den Handelsgesellschaften des schweizerischen Obligationenrechts das
Armenrecht bewilligt werden?" (SAG 21, 1948/9, S. 94 f.), verneint dies
für die AG F. VON STEIGER, "Kann einer juristischen Person das Armenrecht
erteilt werden?" (SAG 23, 1950/51, S. 161 f.) bezeichnet es als fraglich,
"ob man grundsätzlich die juristischen Personen von der Erteilung des
Armenrechts ausschliessen kann, zumal der Grundsatz der Gleichheit vor dem
Gesetz sich auch auf juristische Personen erstreckt (BURCKHARDT, Komm. zur
BV 3. Aufl. S. 35)". In seinem Werke "Das Recht der Aktiengesellschaft
in der Schweiz" (2. Aufl. S. 33) bezeichnet VON STEIGER es als fraglich,
ob der Aktiengesellschaft das Armenrecht erteilt werden könne.

    Das Bundesgericht hat sich sur streitigen Frage noch nie ausgesprochen;
wenn Armenrechtsgesuche juristischer Personen abgelehnt wurden,
so geschah dies jeweils wegen Aussichtslosigkeit des Rechtsmittels
oder weil der Nachweis der Bedürftigkeit nicht als erbracht angesehen
wurde. Dagegen hat das Bundesgericht die Frage, ob eine Konkursmasse das
Armenrecht beanspruchen könne, die mit dem vorliegenden Problem gewisse
Berührungspunkte aufweist, in BGE 61 III 170 verneint.

Erwägung 3

    3.- Als Prozessparteien können sowohl natürliche wie juristische
Personen auftreten. Art. 152 OG spricht nun zwar schlechthin von einer
"bedürftigen Partei", bzw. im französischen Text von einer "partie qui est
dans le besoin"; er beschränkt also das Institut des Armenrechts nicht
ausdrücklich auf natürliche Personen. Aus den Ausdrücken "bedürftig",
bzw. "dans le besoin", muss aber geschlossen werden, dass hiefür nur
natürliche Personen in Betracht kommen. Denn "bedürftig" ist sprachlich
gleichbedeutend mit "arm". Gleich verhält es sich mit der französischen
Wendung "dans le besoin", in welcher der Begriff "besoin" im Sinne von
"indigence", gebraucht wird (QUILLET, Dictionnaire de la Langue Française,
1948, S. 196).

    In der Bundesgesetzgebung findet sich das Wort "Bedürftigkeit"
in Art. 152 Abs. 2 ZGB, wonach ein schuldloser Ehegatte, der durch
die Scheidung "in grosse Bedürftigkeit" gerät ("qui tomberait dans le
besoin"), gegenüber dem andern Anspruch auf einen Unterhaltsbeitrag
erheben kann. Ferner bestimmt Art. 329 Abs. 1 ZGB, der die
Verwandtenunterstützungspflicht ordnet, dass diese auf die Leistung
gehe, "die zum Lebensunterhalt des Bedürftigen erforderlich" ist ("aux
prestations nécessaires à l'entretien du demandeur"). Es ist klar,
dass in den Art. 152 und 329 ZGB das Wort nur mit Bezug auf natürliche
Personen verwendet wird.

    Das Gleiche muss aber auch für Art. 152 OG gelten. Die Ausdrücke
"bedürftig" und "arm" weisen nämlich in dem hier gegebenen Zusammenhang
eine rein menschliche, an das Mitgefühl appellierende Tönung auf;
sie beziehen sich auf einen Zustand, dem durch Wohltaten, auch
Rechtswohltaten, bis zu einem gewissen Grade abgeholfen werden kann. Das
fällt für juristische Personen ausser Betracht, da sie reine Rechtsgebilde
darstellen, die nicht eines Unterhaltes für sich und für Familienangehörige
bedürfen. Man kann deshalb wohl von bedürftigen Menschen, nicht aber
von bedürftigen juristischen Personen, wie Aktiengesellschaften oder
Stiftungen, sprechen. Solche können nur zahlungsunfähig, überschuldet,
illiquid sein. Die Folgen, die ein solcher Zustand für die juristische
Person nach sich zieht, sind durch das Gesetz geregelt: Über die
überschuldete AG ist gemäss Art. 725 Abs. 4 OR der Konkurs zu eröffnen;
die Stiftung, die über keine Mittel mehr verfügt, ist kraft Gesetzes
wegen Unerreichbarkeit ihres Zweckes aufzuheben (Art. 88 ZGB).

    Als der Gesetzgeber in Art. 152 OG die Voraussetzungen des Armenrechts
formulierte, dachte er ohne Zweifel nie daran, dass auch juristische
Personen derselben teilhaftig werden sollten. Der Gedanke, der ihm
vorschwebte, war vielmehr offenbar der, dass der arme Mann so gut wie
der reiche vor Gericht sein Recht solle verfolgen können und daran nicht
durch Kosten- und Vorschussvorschriften gehindert werden dürfe. Es gaben
also Überlegungen den Ausschlag, die auf dem Begriff der Rechtsgleichheit
beruhten, wie denn auch der bundesrechtliche Anspruch auf das Armenrecht
in der Rechtsprechung der staatsrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts
aus dem in Art. 4 BV aufgestellten Individualrecht der Rechtsgleichheit
abgeleitet worden ist (BGE 57 I 343 Erw. 2, 69 I 159 Erw. 1, 85 I 207
Erw. 1, 87 I 106 Erw. 4). Es geht jedoch nicht an, sich auf Art. 4 BV
auch zugunsten einer juristischen Person in ihrem Verhältnis gegenüber
der natürlichen berufen zu wollen, wo es sich, wie gerade hier, um eine
Frage handelt, bezüglich deren die Behandlung natürlicher und juristischer
Personen nicht die gleiche sein kann. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit
verlangt nur, dass Gleiches gleich behandelt werden müsse, nicht aber
auch Ungleiches (BGE 86 I 279 Erw. 3).

    Auf die Verhältnisse der weiteren Beteiligten, wie Aktionäre,
Vereinsmitglieder usw., kann entgegen der Meinung von GULDENER (Supplement
I S. 46) nichts ankommen. Diese können gar nicht als "Beteiligte" in
Betracht fallen, weil es sich nicht um ihren Prozess handelt, sondern
um einen solchen der juristischen Person. Sie können weder zur Leistung
von Kosten noch von Vorschüssen verhalten werden, wie sich besonders
deutlich für die AG aus Art. 680 Abs. 1 OR ergibt. Das gilt aber auch für
Stiftungen: Weder der Stifter, noch die Mitglieder des Stiftungsrates
noch die Destinatäre, die allenfalls als "weitere Beteiligte" in Frage
kämen, können kostenpflichtig erklärt werden, weshalb für die Befreiung
von Gerichtskosten ihre Bedürftigkeit keine Rolle spielen kann.

Erwägung 4

    4.- Den Armenrechtsanspruch trotz der allgemeinen Fassung von Art. 152
OG auf natürliche Personen zu beschränken, drängt sich um so mehr auf,
als auch in den kantonalen Prozessordnungen die Voraussetzungen für
das Armenrecht meist in einer Weise formuliert sind, die keinen andern
Schluss zulassen.

    So bestimmt z.B. die zürch. ZPO in § 81, die unentgeltliche
Rechtspflege könne Parteien bewilligt werden, "welche die Mittel
nicht besitzen, um neben dem Lebensunterhalt für sich und die Ihrigen
die Prozesskosten aufzubringen". Aus diesem Wortlaut wird allgemein
abgeleitet, dass die unentgeltliche Rechtspflege nur physischen, nicht
dagegen auch juristischen Personen gewährt werden könne (Kommentar
STRÄULI/HAUSER, N. 5 zu § 81).

    Ähnlich lautet Art. 77 der Berner ZPO, wonach das.Armenrecht verlangen
kann, "wer ... ohne Beschränkung des notwendigen Lebensunterhaltes für
sich und seine Familie" die Kosten eines Prozesses nicht zu bestreiten
vermag. Dazu führt der Kommentar LEUCH (3. Aufl. N. 2 S. 110) aus, diese
Voraussetzung sei einzig auf physische Personen zugeschnitten und daher die
Bewilligung der Unentgeltlichkeit an juristische Personen ausgeschlossen.

    Die St. Galler ZPO, Art. 156, stimmt im Wortlaut weitgehend mit
Art. 77 bern. ZPO überein. Trotzdem vertritt der Kommentar LUTZ, Art. 156
N. 3, unter Hinweis auf § 114 Abs. 4 der deutschen ZPO die Meinung,
einer juristischen Person oder andern Gemeinschaft könne das Armenrecht
bewilligt werden, wenn die zur Führung eines Prozesses erforderlichen
Mittel weder von ihnen noch von den an der Führung des Prozesses
wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können.

    Dieser Hinweis auf § 114 der dZPO erweist sich jedoch als nicht
stichhaltig. Nach § 114 Abs. 1 kann das Armenrecht beanspruchen, "wer
ausserstande ist, ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie
notwendigen Unterhalts die Kosten des Prozesses zu bestreiten". Die
Rechtsprechung (z.B. RGZ 112 Nr. 25, S. 108) folgerte aus diesem
Wortlaut, für eine juristische Person, wie eine AG, sei die Bewilligung
des Armenrechts schlechthin ausgeschlossen, da die in § 114 ZPO dafür
aufgestellten Voraussetzungen bei ihr niemals vorliegen könnten.

    Die Kommentare zur dZPO waren dagegen geteilter Meinung. So vertrat
der Kommentar SYDOW-BUSCH UND KRANTz, 16. Aufl. (1920), N. 2 zu § 114,
S. 154, die Ansicht das Armenrecht stehe nur physischen, nicht juristischen
Personen zu.

    Den gleichen Standpunkt nahmen bezüglich der AG die Kommentare zum
Handelsgesetzbuch ein, so z.B. STAUB, 12./13. Aufl. (1926), HGB § 210
Anm. 13 a, und DÜRINGER/HACHENBURG, 3. Aufl. (1934), III/1 § 210 Anm. 8).

    Auch STEIN/JONAS, dZPO, 14. Aufl. (1928) I S. 391 anerkannte, dass
durch die Betonung des Unterhalts in § 114 das Armenrecht auf natürliche
Personen beschränkt, bei juristischen Personen dagegen ausgeschlossen sei;
diese gesetzliche Regelung wird jedoch "als wenig zweckmässig" bezeichnet.

    ROSENBERG, Lehrbuch des deutschen Zivilprozessrechts, 3. Aufl. (1931)
vertritt dagegen (§ 82 Ziff. 2 b) die Ansicht, die Bewilligung des
Armenrechts sei nicht nur für physische Personen zulässig, obwohl das
Gesetz nach seinem Wortlaut diese allein im Auge habe, sondern wegen
Gleichheit des Grundes auch für eine juristische Person und andere
parteifähige Gebilde.

    Durch Bekanntmachung vom 8. November 1933 (Reichsgesetzblatt 1933
I S. 821) wurde dann nachträglich dem § 114 dZPO ein Abs. 4 angefügt,
welcher lautet:

    "Einer inländischen juristischen Person kann bei Vorliegen der im
Abs. 1 bezeichneten Voraussetzungen das Armenrecht bewilligt werden,
wenn die zur Führung des Prozesses erforderlichen Mittel weder von ihr
noch von den an der Führung des Prozesses wirtschaftlich Beteiligten
aufgebracht werden können und die Unterlassung der Rechtsverfolgung oder
Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde."

    Der Umstand, dass der deutsche Gesetzgeber von 1933 es für nötig
fand, zum bisherigen Text des § 114 einen neuen Absatz aufzustellen, um
auch juristischen Personen die Erlangung des Armenrechts zu ermöglichen,
beweist aber schlüssig, dass er mit der in der Rechtsprechung und in
der Literatur vorherrschenden Auffassung diese Möglichkeit auf Grund des
früheren Gesetzeswortlauts nicht als gegeben erachtete.

Erwägung 5

    5.- Auf Grund der vorstehenden Erwägungen ergibt sich somit, dass
eine juristische Person die unentgeltliche Rechtspflege gemäss Art. 152
OG nicht beanspruchen kann.