Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 II 329



88 II 329

45. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 12. Juli 1962
i.S. Eheleute V. Regeste

    Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte zur Scheidung von
(ungarischen) Flüchtlingen mit Wohnsitz in der Schweiz.

Auszug aus den Erwägungen:

    Nach Art. 7 h NAG kann ein ausländischer Ehegatte, der in der Schweiz
wohnt, eine Scheidungsklage beim Richter seines Wohnsitzes anbringen,
wenn er nachweist, dass nach Gesetz oder Gerichtsgebrauch seiner Heimat
der geltend gemachte Scheidungsgrund zugelassen und der schweizerische
Gerichtsstand anerkannt ist. Dass letzteres im vorliegenden Falle
zutreffe, nimmt die Vorinstanz selber nicht an. Nach einem Bescheid
der Justizabteilung des Eidg. Justiz- und Polizeidepartements vom
26. Mai 1958 (Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden 1958 Nr. 39 I)
kann denn auch für Ungarn der Nachweis der Anerkennung des schweizerischen
Gerichtsstandes nicht erbracht werden, da nach einem ungarischen Gesetz vom
28. Dezember 1952 die ungarischen Gerichte für die Scheidung ungarischer
Staatsangehöriger ausschliesslich zuständig sind.

    Das internationale Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom
28. Juli 1951 bestimmt in Art. 12 Abs. 1, die personenrechtliche Stellung
eines Flüchtlings richte sich nach dem Gesetz seines Wohnsitzlandes. Nach
der bundesrätlichen Botschaft vom 9. Juli 1954 bezieht sich diese
Bestimmung auf die personenrechtliche Stellung im weitesten Sinne,
insbesondere auch auf die Frage der

    Ehescheidung (BBl 1954 II S. 75/76). Wenn beide Ehegatten Flüchtlinge
im Sinne des Abkommens sind, kann also ein Scheidungsprozess am
schweizerischen Wohnsitz des klagenden Ehegatten in Anwendung des
schweizerischen Rechts durchgeführt werden, ohne dass nachzuweisen wäre,
dass das Heimatrecht den geltend gemachten Scheidungsgrund zulässt und
den schweizerischen Gerichtsstand anerkennt (vgl. die eben angeführte
Stelle der bundesrätlichen Botschaft und den erwähnten Bescheid der
Justizabteilung).

    Damit eine Person als Flüchtling im Sinne des Abkommens gelten kann,
ist nach dessen Art. 1, von einem hier nicht in Betracht kommenden Falle
abgesehen, u.a. erforderlich, dass sie sich "auf Grund von Ereignissen,
die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind", ausserhalb ihres Heimatlandes
befindet. Dies trifft für die Parteien nicht zu, da sie erst durch die
Ereignisse in Ungarn vom Herbst 1956 zur Flucht bestimmt worden sind. Ob
die wegen dieser Ereignisse geflüchteten Ungarn in der Schweiz trotz dem
entgegenstehenden Wortlaut von Art. 1 ohne weiteres in jeder Beziehung als
Flüchtlinge im Sinne des Abkommens zu gelten haben, wie das Eidg. Justiz-
und Polizeidepartement dies nach seinen von der Vorinstanz angerufenen,
nicht bei den Akten liegenden Schreiben vom 18. Juni und 16. Juli 1957
in Sachen K. anzunehmen scheint, kann dahingestellt bleiben. Zur
Vermeidung einer Rechtsverweigerung müsste nämlich der Klägerin,
die als Flüchtling im Gegensatz zu andern im Ausland lebenden Ungarn
nicht die Möglichkeit hat, in ihrem Heimatland einen Scheidungsprozess
durchzuführen, gestattet werden, an ihrem schweizerischen Wohnsitz gegen
den ebenfalls in der Schweiz wohnhaften Ehemann auf Scheidung zu klagen,
selbst wenn Art. 12 des Abkommens im vorliegenden Falle formell nicht
anwendbar wäre (vgl. ALEXANDER in Schweiz. Jahrbuch für internationales
Recht, Bd. VI, 1949, S. 249 vor Ziff. 2; Bescheid der Justizabteilung an
das aargauische Obergericht vom 12. November 1954, SJZ 1954 S. 383/84;
Bescheide der gleichen Instanz vom 10. Juli 1957 und 10. Juli 1958,
Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden 1957 Nr. 65 Erw. 3, 1958 Nr. 39
II, wo die Möglichkeit, einem Flüchtling einen Notgerichtsstand in der
Schweiz zu gewähren, sogar für den Fall erwogen wurde, dass der andere
Ehegatte noch im Heimatstaate wohnt, dieser aber dem Flüchtling keinen
Rechtsschutz gewährt). Zu prüfen, ob das Heimatrecht wenigstens den
geltend gemachten Scheidungsgrund zulasse, ist in einem solchen Falle
zwecklos, da schon mangels Anerkennung des schweizerischen Gerichtsstandes
nicht mit der Anerkennung des Urteils durch den Heimatstaat gerechnet
werden kann. (Nach dem ungarischen Gesetz über die Ehe, die Familie und
Vormundschaft von 1952/1957 ist im übrigen die Scheidung allgemein "bei
Vorliegen eines ernsten und triftigen Grundes" zulässig; vgl. BERGMANN,
Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, 3. Aufl., Bd. V, Abschnitt
Ungarn, S. 13). Soweit Art. 12 des Abkommens von 1951 eine Abweichung
von Art. 7 h NAG vorsieht, ordnet er also etwas an, was kraft eines
ungeschriebenen schweizerischen Rechtssatzes ohnehin gelten muss.