Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 III 12



88 III 12

3. Entscheid vom 2. Februar 1962 i.S. Moor. Regeste

    Widerruf von Verfügungen. Das Betreibungs- oder Konkursamt kann eine
von ihm erlassene Verfügung nur während der Beschwerdefrist widerrufen,
es wäre denn, sie sei nichtig.

    Die Zustellung einer Betreibungsurkunde an eine Person, die nicht
berechtigt ist, sie für den Schuldner entgegenzunehmen, ist nicht
schlechthin nichtig. Voraussetzungen, unter denen eine solche Zustellung
wirksam wird.

    Zustellung an eine betriebene Aktiengesellschaft.  Zunächst muss
die Zustellung an ein Mitglied der Verwaltung oder einen Prokuristen
versucht werden (Art. 65 Abs. 1 Ziff. 2 SchKG). Nur wenn ein solcher
Vertreter der Gesellschaft in dem Lokal, wo er seine Tätigkeit für diese
auszuüben pflegt, nicht angetroffen wird, darf die Zustellung an einen
andern, im gleich Lokal tätigen Angestellten erfolgen (Verdeutlichung
der Rechtsprechung zu Art. 65 Abs. 2 SchKG).

Sachverhalt

    A.- Am 19. Juni 1961 stellte Ralph R. Moor beim Betreibungsamt Zürich
1 ein Betreibungsbegehren für eine Forderung aus Kreditschädigung und
Ehrverletzung von Fr. 100'000 nebst Zins, worin als Schuldnerin angegeben
war: "AG für Presseerzeugnisse, Administration, Bahnhofstrasse 69, Zürich 1
(Verlag der Tageszeitung BLICK)." Der vom Betreibungsamt am 20. Juni 1961
erlassene Zahlungsbefehl enthielt die gleiche Schuldnerbezeichnung mit der
Abweichung, dass die Angabe "Bahnhofstrasse 69, Zürich 1" durch die Angabe
"Bahnhofstrasse 69/Büro Dr. Hugo Gut Verw.R.Präs." ersetzt war. Der
mit der Zustellung beauftragte Verwaltungsangestellte Hermann Widmer
begab sich am 20. Juni 1961 in das Haus Bahnhofstrasse 69 und betrat
im ersten Stock das Büro, dessen Eingangstüre die Aufschriften "AG für
Presseerzeugnisse, Administration" und "Ringier-Verlag, Verlagsbüro"
trug. Dort traf er weder Dr. Gut noch ein anderes Mitglied der Verwaltung
oder einen Prokuristen der Schuldnerin. Er übergab den Zahlungsbefehl
gemäss Zustellungsbescheinigung an "Herrn (Walter) Stocker, Angestellten
der Betriebenen, zu deren Handen." Das Büro an der Bahnhofstrasse sandte
den Zahlungsbefehl sogleich an Dr. Hugo Gut, Löwenstrasse 11, Zürich 1,
der dort eine Steuerrechts- und Treuhandpraxis betreibt, doch erhielt
dieser infolge eines Versehens seiner Sekretärin erst am 4. Juli 1961 davon
Kenntnis. Am 6. Juli 1961 liess die Schuldnerin dem Betreibungsamt durch
einen Anwalt mitteilen, der Zahlungsbefehl sei unrichtig zugestellt worden,
da sich ihr Domizil gemäss Handelsregister an der Löwenstrasse 11 befinde;
vorsorglich erhebe sie Rechtsvorschlag. Daraufhin hob das Betreibungsamt
mit Verfügung vom 7. Juli 1961 die Zustellung vom 20. Juni 1961 auf und
stellte Dr. Gut zu Handen der Schuldnerin einen neuen Zahlungsbefehl zu,
gegen den gleichen Tags Rechtsvorschlag erhoben wurde.

    B.- Die Beschwerde, mit welcher der Gläubiger die Aufhebung dieser
Massnahmen und die Wiederinkraftsetzung des am 20. Juni 1961 zugestellten,
gemäss Gläubigerdoppel innert der darauf folgenden zehn Tage nicht
mit Rechtsvorschlag belegten Zahlungsbefehls verlangte, ist am 29.
August 1961 von der untern und am 12. Januar 1962 nach Durchführung eines
einlässlichen Beweisverfahrens auch von der kantonalen Aufsichtsbehörde
abgewiesen worden.

    C.- Mit dem vorliegenden Rekurs an das Bundesgericht erneuert der
Gläubiger sein Beschwerdebegehren.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Kommt das Betreibungs- oder Konkursamt zur Überzeugung, dass
eine von ihm getroffene Verfügung gesetzwidrig oder den Verhältnissen
nicht angemessen sei, so kann es sie gemäss ständiger Rechtsprechung des
Bundesgerichtes selber aufheben, solange sie noch nicht rechtskräftig
geworden, d.h. die Beschwerdefrist des Art. 17 Abs. 2 SchKG noch
nicht abgelaufen ist (BGE 22 S. 697; Entscheid vom 19. November 1903
i.S. Oberhäusli, Archiv für Schuldbetreibung und Konkurs 8 Nr. 26 S. 73;
BGE 29 I 555, 30 I 422, 32 I 732 = Sep. ausg. 6 S. 279, 7 S. 162, 9
S. 314; BGE 67 III 163, 76 III 88/89, 78 III 23 u. 51). Der Widerruf
ist in einem solchen Falle formell einwandfrei, doch bleibt der dadurch
beschwerten Partei die Möglichkeit, durch Beschwerde geltend zu machen,
er sei materiell nicht gerechtfertigt (BGE 22 S. 698 und zit. Entscheid
i.S. Oberhäusli, Archiv 8 S. 75/76). Nach Ablauf der Beschwerdefrist ist
ein Widerruf dagegen aus verfahrensrechtlichen Gründen (wegen Eintritts
der Rechtskraft der betreffenden Verfügung) unzulässig, es wäre denn,
die Verfügung sei schlechthin nichtig und habe daher nicht rechtskräftig
werden können (BGE 78 III 51).

    Die Zustellung einer Betreibungsurkunde an eine Person, die nicht
berechtigt war, sie für den Schuldner entgegenzunehmen, wird wirksam,
wenn die Urkunde tatsächlich gleichwohl dem Schuldner (bzw. im Falle
der Betreibung einer Aktiengesellschaft einem Mitglied der Verwaltung im
Sinne von Art. 65 Ziff. 2 SchKG oder einem Prokuristen) zugeht und der
Schuldner (bzw. die betriebene Aktiengesellschaft) binnen zehn Tagen
von da an gegen die vorschriftswidrige Zustellung keine Beschwerde
einreicht. Erfolgt, was hier nicht zutrifft, die Übergabe an den
Schuldner (bzw. an ein Mitglied der Verwaltung oder einen Prokuristen)
so zeitig, dass der bei der Zustellung unterlaufene Fehler den Schuldner
(bzw. die Aktiengesellschaft) in der Wahrung seiner (ihrer) Rechte nicht
behindert, so ist eine Anfechtung der Zustellung mangels eines rechtlich
beachtlichen Interesses überhaupt ausgeschlossen (BGE 61 III 158). Die
Vorinstanz hat daher mit Recht angenommen, die streitige Zustellung sei
auch unter der Voraussetzung, dass sie fehlerhaft war, nicht schlechthin
nichtig. Das Betreibungsamt konnte sie deshalb nicht zu beliebiger Zeit
wieder aufheben. Vielmehr durfte es dies am 7. Juli 1961 nur tun, wenn
damals die Beschwerdefrist noch lief, und dies war nur dann der Fall,
wenn die dem Verwaltungsratspräsidenten der Schuldnerin am 4. Juli 1961 zur
Kenntnis gelangte Zustellung vom 20. Juni gegen Art. 65 SchKG verstiess und
daher mindestens einstweilen wirkungslos war. War jene Zustellung dagegen
in Ordnung, so muss die Schuldnerin sich die Annahme gefallen lassen,
dass sie davon schon am 20. Juni 1961 im Sinne von Art. 17 Abs. 2 SchKG
Kenntnis erhalten habe. Die Beschwerdefrist war also in diesem Fall am
7. Juli 1961 bereits abgelaufen und ein Widerruf der Zustellung folglich
nicht mehr zulässig. Der Entscheid darüber, ob das Betreibungsamt formell
berechtigt gewesen sei, die streitige Zustellung aufzuheben, hängt somit
davon ab, wie diese Verfügung materiell zu beurteilen sei.

    2. Art. 65 SchKG bestimmt in Abs. 1 und 2:

    "Ist die Betreibung gegen eine juristische Person oder eine
Gesellschaft gerichtet, so erfolgt die Zustellung an den Vertreter
derselben. Als solcher gilt:

    1. .....

    2. für eine Aktiengesellschaft, eine Genossenschaft oder einen im
Handelsregister eingetragenen Verein jedes Mitglied der Verwaltung oder
des Vorstandes, sowie jeder Prokurist;

    3. .....

    4. .....

    Werden die genannten Personen in ihrem Geschäftslokale (à leur bureau,
in ufficio) nicht angetroffen, so kann die Zustellung auch an einen andern
Beamten oder Angestellten erfolgen."

    Nach dieser Bestimmung muss im Falle der Betreibung gegen
eine Aktiengesellschaft zunächst versucht werden, die für diese
bestimmten Betreibungsurkunden einem Mitglied der Verwaltung oder einem
Prokuristen zuzustellen. Die Zustellung an einen andern Angestellten (sog.
Ersatzzustellung) ist gemäss Abs. 2 dieser Bestimmung nur unter der dort
genannten Bedingung statthaft.

    Im Bedingungssatze: "Wenn die gennanten Personen in ihrem
Geschäftslokale nicht angetroffen werden" kann mit dem Geschäftslokale nach
dem deutschen und französischen Text sprachlich nur das Geschäftslokal der
betreffenden Person gemeint sein. Unter dem Geschäftslokal eines Mitglieds
der Verwaltung oder eines Prokuristen der betriebenen Aktiengesellschft
ist aber im Rahmen von Art. 65 SchKG, der die Zustellung von
Betreibungsurkunden an betriebene juristische Personen und Gesellschaften
regelt, vernünftigerweise nicht ein Lokal zu verstehen, in welchem der
betreffende Vertreter der Aktiengesellschaft lediglich seine eigenen
Geschäfte (oder diejenigen Dritter) betreibt, sondern das Lokal, in welchem
er seinen Geschäften als Mitglied der Verwaltung oder als Prokurist der
betriebenen Gesellschaft obliegt. Mit dieser Verdeutlichung ist an BGE 57
III 48 und 72 III 72 festzuhalten, wo gesagt wurde, das Geschäftslokal, von
dem in Art. 65 Abs. 2 SchKG die Rede ist, sei dasjenige der Unternehmung
(der betriebenen juristischen Person oder Gesellschaft) selber, nicht das
eigene Geschäftslokal eines Mitgliedes der Verwaltung. Die Vorinstanz hat
also (in Übereinstimmung mit F. v. STEIGER, Zur Frage der Zustellung von
Betreibungsurkunden, welche für eine Aktiengesellschaft bestimmt sind, in
der Zeitschrift "Die Schweiz. Aktiengesellschaft", 1931/32, S. 50 ff.) zu
Recht angenommen, als Geschäftslokal im Sinne von Art. 65 Abs. 2 könne bei
einer Aktiengesellschaft nicht einfach jede Räumlichkeit angesehen werden,
in der sich irgendein Teil des technischen Betriebs oder des Verkehrs
mit den Kunden abwickelt, sondern in Betracht komme nur ein Lokal, in
welchem ein Mitglied der Verwaltung oder wenigstens ein Prokurist seine
Tätigkeit für die Gesellschaft ausübt bzw. auszuüben pflegt.

    Diese Auslegung wird auch durch die ratio legis gefordert. Art. 65
SchKG will nach Möglichkeit dafür sorgen, dass die für eine betriebene
juristische Person oder Gesellschaft bestimmten Betreibungsurkunden in die
Hände der natürlichen Personen gelangen, die in der Betreibungssache für
sie handeln können. Darum sieht Art. 65 Abs. 1 für den Fall der Betreibung
einer Aktiengesellschft die Zustellung an ein Mitglied der Verwaltung
oder einen Prokuristen vor. Um die Aufgabe des Betreibungsamtes nicht
übermässig zu erschweren und um untragbare Verzögerungen zu vermeiden,
lässt Art. 65 Abs. 2 ausnahmsweise die Zustellung an einen (andern)
Angestellten zu, der bei der Wahrung der Interessen der Betriebenen nur
eine Hilfsfunktion ausüben, d.h. die Urkunde an die zum Handeln berufenen
Personen weiterleiten kann. Wenn diese Ausnahme nicht zur Regel werden und
die Verwirklichung des erwähnten Zwecks nicht zu sehr gefährdet werden
soll, darf die Zustellung an einen solchen untergeordneten Angestellten
der betriebenen Gesellschaft aber nur erfolgen, nachdem die Zustellung an
ein Mitglied der Verwaltung oder an einen Prokuristen in demjenigen Lokal
erfolglos versucht worden ist, wo das betreffende Verwaltungsmitglied bzw.
der betreffende Prokurist seine Tätigkeit für die Gesellschaft auszuüben
pflegt (und daher normalerweise anzutreffen ist). Aus dem gleichen
Grunde kommt für die Ersatzzustellung nur ein Angestellter in Betracht,
der in den gleichen Räumlichkeiten wie der in Frage stehende Vertreter
der Gesellschaft arbeitet und deshalb ohne weiteres in der Lage ist
und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht versäumen wird, die Urkunde
unverzüglich an diesen weiterzuleiten, so dass dieser bei seiner Rückkehr
ins Geschäftslokal davon Kenntnis erhält.

Erwägung 3

    3.- Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, die gemäss
Art. 81 und 63 Abs. 2 OG für das Bundesgericht verbindlich sind, waren
diese Voraussetzungen im vorliegenden Falle bei der Zustellung vom 20. Juni
1961 nicht erfüllt. Im Büro an der Bahnhofstrasse 69 pflegt weder ein
Mitglied der Verwaltung noch ein Prokurist der AG für Presseerzeugnisse
tätig zu sein. Der Verwaltungsratspräsident, der sein Büro an der
Löwenstrasse 11 hat, war erst einmal in jenen Räumen, und Verwaltungsrat
Heinrich Brunner (der im Hauptamt Generaldirektor und Mitglied des
Verwaltungsrats der Verlagsanstalt Ringier & Co. AG in Zofingen ist)
erscheint dort nur gelegentlich. Das Büro an der Bahnhofstrasse kann
daher nicht als Geschäftslokal im Sinne von Art. 65 Abs. 2 SchKG gelten,
und der Umstand, dass der zustellende Beamte dort weder ein Mitglied der
Verwaltung noch einen Prokuristen antraf, erlaubte ihm folglich nicht, den
Zahlungsbefehl dem dort befindlichen Angestellten Stocker auszuhändigen
(wogegen hierfür kein Hindernis gewesen wäre, dass Stocker formell nicht
von der AG für Presseerzeugnisse, sondern vom Ringierverlag angestellt
worden ist; vgl. BGE 72 III 78 ff.).

    Hieran ändert nichts, dass der Verwaltungsratspräsident das im Büro
an der Bahnhofstrasse tätige Personal angewiesen hatte, Zahlungsbefehle
und ähnliche Urkunden an ihn weiterzuleiten. Diese interne Weisung, die
aus begreiflicher Vorsicht erlassen worden war, gab dem Betreibungsamt
nicht das Recht, anders vorzugehen, als Art. 65 SchKG es vorschreibt.

    Ebenso ist unerheblich, dass die Adressangabe im Betreibungsbegehren
den Angaben in der Zeitung "Blick" entsprach. Diese Angaben, die in
erster Linie zur Verwendung im normalen Geschäftsverkehr zwischen dem
Publikum und der Zeitungsadministration (namentlich im Abonnementsverkehr)
bestimmt sind, können für die Zustellung von Betreibungsurkunden nicht
ohne weiteres massgebend sein und entbanden das Betreibungsamt so wenig
wie die erwähnte Weisung des Verwaltungsratspräsidenten von der Befolgung
der gesetzlichen Vorschriften über die Zustellung solcher Urkunden.

    Dadurch, dass das Büro an der Bahnhofstrasse den Zahlungsbefehl
sogleich an den Verwaltungsratspräsidenten weitersandte, wäre die
fehlerhafte Zustellung vom 20. Juni 1961 höchstens dann unanfechtbar
geworden, wenn der Verwaltungsratspräsident den Zahlungsbefehl hierauf
tatsächlich sofort erhalten hätte (vgl. BGE 61 III 158), was nach den
Feststellungen der Vorinstanz nicht der Fall war.

    Das Betreibungsamt war. also formell und materiell berechtigt, die
Zustellung vom 20. Juni 1961 zu widerrufen. Dass die Schuldnerin innert
zehn Tagen von dieser Zustellung an keinen Rechtsvorschlag erhoben hat,
kann ihr nicht schaden, weil diese Zustellung fehlerhaft war und deswegen
aufgehoben worden ist.

    Der Gläubiger hätte die fehlerhafte Zustellung vermeiden können,
wenn er das Ragionenbuch konsultiert hätte, wo als Geschäftslokal der
betriebenen Gesellschaft entsprechend den Angaben im Handelsregister das
Büro des Verwaltungsratspräsidenten Dr. Gut an der Löwenstrasse 11 genannt
ist. Hier hätte die Zustellung in Abwesenheit von Dr. Gut ohne weiteres
an einen Angestellten seines Büros erfolgen können (BGE 72 III 71 ff.).

Entscheid:

Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:

    Der Rekurs wird abgewiesen.