Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 I 103



85 I 103

17. Auszug aus dem Urteil vom 20. Mai 1959 i.S. Kanton Zürich gegen
Kanton Solothurn. Regeste

    Interkantonale Rechtshilfe in Strafsachen.

    Die Kantone sind grundsätzlich verpflichtet, einander auch in
kantonalen Strafsachen Rechtshilfe zu leisten (Erw. 2 und 3).

    Umfang dieser Rechtshilfepflicht. Anwendung auf die Beschlagnahme in
einem Strafverfahren wegen Steuerbetrugs (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Im Frühjahr 1957 eröffnete die Bezirksanwaltschaft Zürich gegen
die verantwortlichen Organe der B. AG Zürich eine Strafuntersuchung wegen
Steuerbetrugs (§ 192 des zürch. Steuergesetzes vom 8. Juli 1951). Die
Untersuchung ergab Anzeichen dafür, dass die Organe der Bank X. in
Solothurn sich durch Ausstellung inhaltlich unwahrer Belege der
Gehilfenschaft zu Steuerbetrug schuldig gemacht haben. Am 2. Dezember
1957 ersuchte die Bezirrksanwaltschaft Zürich die Staatsanwaltschaft
des Kantons Solothurn, bei der Bank X. gewisse, näher bezeichnete Akten
sowie den Inhalt allfälliger Safes zu beschlagnahmen als Beweismittel
in der Strafuntersuchung gegen die Organe der B. AG und zur Abklärung
der Frage, inwieweit die Bankleitung strafbare Handlungen begangen
habe. Sie stützte dieses Rechtshilfegesuch auf eine Gegenrechtserklärung
zwischen den Kantonen Zürich und Solothurn vom 4./18. September
1941, welche Gehilfenschaft und Begünstigung bei Steuerbetrug betraf
(Solothurner Gesetzessammlung Bd. 75 S. 304). Die Staatsanwaltschaft
des Kantons Solothurn unterbreitete das Gesuch dem Regierungsrat,
der es durch Beschluss vom 17. Januar 1958 abwies mit der Begründung,
die Gegenrechtserklärung sei mit dem Inkrafttreten des Schweizerischen
Strafgesetzbuches dahingefallen. Im gleichen Sinne äusserte sich der
Regierungsrat des Kantons Solothurn am 4. November 1958 zum Ersuchen des
Regierungsrats des Kantons Zürich, den Beschluss vom 17. Januar 1958 in
Wiedererwägung zu ziehen und die verlangte Rechtshilfe zu gewähren.

    B.- Daraufhin reichte der Regierungsrat des Kantons Zürich beim
Bundesgericht staatsrechtliche Klage ein mit den Begehren:

    1.  Es sei festzustellen, dass die Gegenrechtserklärung vom
4./18. September 1941 in Kraft steht.

    2.  Es sei der Kanton Solothurn zu verpflichten, dem Kanton
Zürich in der Strafuntersuchung gegen die Organe der B. AG wegen
Steuerbetrugs und gegen die Organe der Bank X. wegen Gehilfenschaft zu
Steuerbetrug Rechtshilfe zu gewähren, indem er die im Rechtshilfegesuch
vom 2. Dezember 1957 genannten Akten und Gegenstände beschlagnahmt und
der Bezirksanwaltschaft Zürich zur Verfügung stellt.

    3.  Eventuell sei der Kanton Solothurn zu verpflichten, nach
seiner Wahl entweder die verantwortlichen Organe der Bank X. mit den zu
beschlagnahmenden Akten wegen Beihilfe und Begünstigung zu Steuerbetrug dem
Kanton Zürich auszuliefern oder die Strafuntersuchung gegen diese Organe
selber zu übernehmen und die Akten nach Abschluss des Strafverfahrens
der Bezirksanwaltschaft Zürich zuzustellen.

    Zur Begründung von Haupt- und Eventualbegehren wird auf die
Gegenrechtserklärung vom 4./18. September 1941 verwiesen und ausgeführt,
dass und weshalb diese Erklärung weder gegen Bundesrecht noch gegen
kantonales Verfassungsrecht verstosse, immer noch in Kraft sei und den
Kanton Solothurn zur Leistung der nachgesuchten Rechtshilfe verpflichte.

    C.- Der Regierungsrat des Kantons Solothurn beantragt die Abweisung der
Klage. Er hält daran fest, dass die Gegenrechtserklärung dahingefallen sei,
weist darauf hin, dass der Steuerbetrug im Kanton Zürich ein Vergehen,
im Kanton Solothurn dagegen eine blosse Übertretung darstelle, und
erklärt, es widerspreche dem ordre public, wenn sich solothurnische
Kantonseinwohner für einen im eigenen Kanton ausschliesslich mit Busse
geahndeten Tatbestand einer Strafverfolgung im Kanton Zürich aussetzen,
wo sie mit Gefängnis bestraft werden könnten.

    Das Bundesgericht heisst das Klagebegehren Ziff. 2 gut und weist
die beiden andern Begehren als durch die Gutheissung von Klagebegehren
Ziff. 2 gegenstandslos geworden ab.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Parteien sind mit Recht darüber einig, dass eine
staatsrechtliche Streitigkeit im Sinne von Art. 83 lit. b OG vorliegt.

Erwägung 2

    2.- Wie früher Art. 150 des OG vom 22. März 1893 und dann Art. 252
BStP, so verpflichtet nun Art. 352 StGB die Kantone zur gegenseitigen
Rechtshilfe in Strafsachen. Diese durch geschriebenes Bundesrecht
begründete Rechtshilfepflicht ist jedoch, wenn man von der Vollstreckung
der auf Grund des kantonalen Übertretungsstrafrechts ergangenen Urteile
mit Bezug auf Bussen, Kosten usw. (Art. 380 StGB) absieht, beschränkt
auf Strafsachen, die nach eidgenössischem Recht zu beurteilen sind. Sie
gilt also nicht für den vorliegenden Fall, wo streitig ist, ob ein
Kanton gehalten sei, einem andern bei der Verfolgung von Tatbeständen
des in Art. 335 Ziff. 2 StGB vorbehaltenen kantonalen Steuerstrafrechts
Rechtshilfe zu leisten.

    Der Begriff der Rechtshilfe im weiteren Sinne umfasst die Auslieferung
des Angeschuldigten, die Urteilsvollstreckung und die Rechtshilfe im
engern Sinne. Unter letzterer wird die gesamte, nicht in der Auslieferung
und Urteilsvollstreckung bestehende Strafrechtshilfe verstanden. Dazu
gehören insbesondere Untersuchungshandlungen wie Fahndung nach dem Täter,
Vorladung und Einvernahme von Zeugen, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme
von Beweismitteln und andern Gegenständen (vgl. THORMANN, Die Rechtshilfe
der Kantone auf dem Gebiete des Strafrechts, ZSR 1928 S. 1a ff; TRÜB,
Die internationale Rechtshilfe im schweizerischen Strafrecht, Diss. Zürich
1950 S. 1 ff. und 83 ff.).

    Mit der vorliegenden Klage ersucht der Kanton Zürich zunächst um die
Feststellung, dass die Gegenrechtserklärung zwischen Zürich und Solothurn
vom 4./18. September 1941 noch gelte (Klagebegehren Ziff. 1). Sodann
verlangt er auf Grund dieser Gegenrechtserklärung in erster Linie, der
Kanton Solothurn sei zu verpflichten, auf seinem Gebiet befindliche Akten
und Gegenstände zu beschlagnahmen und den Zürcher Strafverfolgungsbehörden
für die Zwecke einer in Zürich geführten Strafuntersuchung zur Verfügung
zu stellen (Klagebegehren Ziff. 2). Ob sich dieses Begehren auf die
Gegenrechtserklärung stützen kann, erscheint indessen als zweifelhaft,
da die Erklärung jedenfalls nach dem Wortlaut die Anwendung des
Auslieferungsgesetzes vom 24. Juli 1852 auf eine nicht darunter fallende
Straftat ausdehnen wollte, dieses Gesetz aber nur zur Auslieferung,
nicht auch zu einer auf blosse Untersuchungshandlungen wie Beschlagnahme
beschränkten Rechtshilfe verpflichtet. Nun hat die bundesgerichtliche
Rechtsprechung aber von jeher anerkannt, dass zwischen den Kantonen
eine von besondern Vereinbarungen und Gegenrechtserklärungen unabhängige
allgemeine Rechtshilfepflicht in Strafsachen auch bei kantonalrechtlichen
Vergehen bestehe (BGE 12 S. 48, 36 I 51, 53 I 306). Da das Bundesgericht im
staatsrechtlichen Klageverfahren das Recht von Amtes wegen anzuwenden hat
(BGE 73 I 239/40), rechtfertigt es sich, zunächst zu prüfen, ob an dieser
(auch in der Klage nebenbei angerufenen) Rechtsprechung festzuhalten ist.

Erwägung 3

    3.- In BGE 36 I 51 hat das Bundesgericht mit eingehender Begründung
entschieden, dass die Kantone verpflichtet seien, einander bei allen
Untersuchungen in Strafsachen Rechtshilfe zu leisten ohne Rücksicht
darauf, ob die verfolgte Handlung auch im ersuchten Kanton strafbar
sei oder nicht. Auf den ersten Blick scheint es, dass das Urteil
diese allgemeine Rechtshilfepflicht aus Art. 1 des Bundesgesetzes vom
8. Februar 1872 betreffend die Ergänzung des Auslieferungsgesetzes
abgeleitet hat. Indessen hat das Bundesgericht nicht übersehen, dass
diese Bestimmung, welche die Kosten- und Gebührenfreiheit der Rechtshilfe
anordnet, die Rechtshilfepflicht nicht erst vorschreibt, sondern vielmehr
bereits als gegeben voraussetzt, was auch daraus geschlossen wurde,
dass schon das Konkordat vom 7. Juni 1810 über die gegenseitige Stellung
der Fehlbaren in Polizeifällen besagt, dass die Rechtshilfepflicht in
Strafsachen aus "alt-eidgenössischer Übung" hervorgegangen sei. Dem Urteil
BGE 36 I 51 liegt demnach die Annahme zugrunde, dass die interkantonale
Rechtshilfepflicht in Strafsachen auf Gewohnheitsrecht beruhe. Eine
solche gewohnheitsrechtliche Rechtshlfepflicht ist heute, nach weiteren 48
Jahren, unbedenklich zu bejahen, da die Voraussetzungen für die Entstehung
von Gewohnheitsrecht offensichtlich erfüllt sind. Die interkantonale
Rechtshilfepflicht in Strafsachen ist, wie schon 1810 festgestellt worden
ist, aus "alt-eidgenössischer Übung" hervorgegangen, besteht also seit
unvordenklicher Zeit. Die Regelmässigkeit der Übung und die ihr zugrunde
liegende Rechtsüberzeugung ergeben sich daraus, dass die Rechtshilfepflicht
während der 70-jährigen Geltungsdauer des erwähnten Gesetzes von 1872 sogar
gesetzlich festgelegt war, dass Anstände während dieser Zeit, in welcher
der Rechtshilfe in kantonalen Strafsachen keine geringe Bedeutung zukam,
äusserst selten waren und dass das Bundesgericht in den wenigen Fällen,
wo es solche Anstände zu beurteilen hatte, die Rechtshilfepflicht jeweils
anerkannt hat (BGE 12 S. 48, 36 I 51, 53 I 306). Auch die Rechtslehre
hat stets eine (meist ausdrücklich als gewohnheitsrechtlich bezeichnete)
allgemeine Rechtshilfepflicht der Kantone in Strafsachen angenommen,
und zwar sowohl vor wie nach dem Erlass und Inkrafttreten des StGB
(THORMANN, ZSR 1928 S. 17a und 19a; PILLER, aaO S. 143a; BURCKHARDT,
Komm. zur BV, 3. Aufl. 1931 S. 605; WAIBLINGER, Das Strafverfahren für
den Kanton Bern 1937, N. 2 zu Art. 25; RUCK, Schweiz. Bundesstaatsrecht
3. Aufl. 1957, S. 266). Dass diese Rechtshilfepflicht vom Inkrafttreten
des StGB und von der damit verbundenen Aufhebung des Gesetzes von 1872
(Art. 398 lit. b StGB) nicht berührt wurde, ist ohne weiteres klar, denn
dieses Gesetz betraf nur die Kosten der Rechtshilfe, zu der die Kantone
schon vorher verpflichtet waren, während das StGB, das die allgemeine
Rechtshilfepflicht für Bundesstrafsachen vorschreibt, an derjenigen für
kantonale Strafsachen nichts änderte. Das Weiterbestehen der bisher vom
Bundesgericht stets anerkannten Rechtshilfepflicht erscheint übrigens
auch als sachlich begründet. Sie hat ihren innern Grund in der engen
Verbundenheit der Kantone als Mitglieder eines Bundesstaates und in
ihrem gemeinsamen Interesse am Schutz der öffentlichen Ordnung und an
der Verfolgung strafbarer Handlungen (vgl. BGE 36 I 54 und PILLER aaO
S. 142/43a). Eine Änderung der bisherigen langjährigen Rechtsprechung
wäre ein Rückschritt, der nicht zu verantworten wäre.

Erwägung 4

    4.- Sind demnach die Kantone grundsätzlich verpflichtet, einander auch
in kantonalrechtlichen Strafsachen Rechtshilfe zu leisten, so fragt sich
weiter, ob diese Rechtshilfepflicht auch im vorliegenden Falle besteht
und sich auf die vom Kanton Zürich verlangten Massnahmen erstreckt.

    In BGE 36 I 53 Erw. 3 wurde angenommen, die Rechtshilfepflicht
gelte auch dann, wenn die verfolgte Handlung im ersuchten Kanton nicht
strafbar sei. Ob dies auch heute noch gilt, nachdem das Strafrecht
in der Schweiz weitgehend vereinheitlicht worden und den Kantonen nur
noch die Gesetzgebung über das Übertretungs- und das Steuerstrafrecht
geblieben ist (Art. 335 StGB), kann dahingestellt bleiben, da die
Tatbestände, um die es im vorliegenden Falle geht, nämlich Steuerbetrug
und Gehilfenschaft dazu, auch im Kanton Solothurn strafbar sind (§ 101
und 102 des soloth. Steuergesetzes). Der Umstand, dass der Steuerbetrug
im Kanton Solothurn nur mit Busse, im Kanton Zürich dagegen in schweren
Fällen auch mit Haft bestraft werden kann, könnte für die Frage einer
allfälligen Auslieferung eines solothurnischen Kantonseinwohners zur
Aburteilung oder Urteilsvollstreckung von Bedeutung sein, steht aber der
verlangten Beschlagnahme nicht entgegen. Aus dem in BGE 36 I 55 enthaltenen
Vorbehalt für politische und Pressevergehen lässt sich für den vorliegenden
Fall nichts ableiten, da die Gründe, aus denen diese Vergehen mit Bezug
auf die Auslieferung von jeher eine Sonderstellung eingenommen haben
(vgl. Art. 67 BV und 352 Abs. 2 und 3 StGB), beim Steuerbetrug und für
eine Untersuchungshandlung wie die Beschlagnahme nicht zutreffen. In BGE
36 I 55 wurde sodann die Frage offen gelassen, ob die Rechtshilfepflicht
auch bestehe bei Delikten, die nicht im ersuchenden Kanton begangen worden
sind. Diese Frage müsste heute nur entschieden werden, wenn der Kanton
Zürich die streitige Beschlagnahme ausschliesslich oder doch vorwiegend
im Hinblick auf die den Organen der Bank X. vorgeworfene Gehilfenschaft
zu Steuerbetrug verlangt würde. Das ist jedoch nicht der Fall; die zu
beschlagnahmenden Akten sollen vielmehr in erster Linie der Abklärung des
Steuerbetrugs dienen, den die Organe der B. AG in Zürich begangen haben
sollen. Schliesslich wurde in BGE 36 I 55 noch festgestellt, dass sich
die Rechtshilfepflicht nur auf Untersuchungshandlungen, nicht auf die
Urteilsvollstreckung beziehe. Auch dieser Vorbehalt ist im vorliegenden
Falle bedeutungslos, da der Kanton Zürich mit der Beschlagnahme lediglich
eine Untersuchungshandlung verlangt. Soweit Bussen und Kosten in Frage
kommen, folgt die Pflicht zur Urteilsvollstreckung übrigens aus dem
Konkordat vom 23. August 1912 betreffend die Gewährung gegenseitiger
Rechtshilfe zur Vollstreckung öffentlichrechtlicher Ansprüche, dem auch
der Kanton Solothurn beigetreten ist und nach dessen Art. 1 Ziff. 5 sich
die Rechtshilfepflicht auch auf "Bussen und staatliche Kostenforderungen
in Straffällen" bezieht.

Erwägung 5

    5.- (Gegenstandslosigkeit der Klagebegehren Ziff. 1 und 3).