Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 84



85 IV 84

22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 1. Mai 1959 i.S. Dönni
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 27 Abs. 1 und 2 MFG. Wann liegt gleichzeitiges Eintreffen zweier
Fahrzeuge vor, wenn der auf der Hauptstrasse Fahrende einen von rechts
aus einer Nebenstrasse Einbiegenden einholt, wann ein Fall gewöhnlichen
Überholens? Abgrenzung des Einmündungsgebietes.

Sachverhalt

    A.- In die von Emmen nach Eschenbach führende Kantonsstrasse mündet
auf offener Strecke die von rechts kommende Inwilerstrasse ein, auf der
das Vortrittsrecht durch ein Vortrittssignal (Nr. 7 SigV vom 17. Oktober
1932) zugunsten der Kantonsstrasse aufgehoben ist. Unmittelbar vor dem
Zusammentreffen der beiden Strassen teilt sich die Inwilerstrasse in
zwei getrennte Fahrbahnen, von denen die nach rechts Richtung Eschenbach
abzweigende sich spitzwinklig mit der Kantonsstrasse vereinigt. Am
5. Juni 1958 gegen 19.55 Uhr bog Dönni mit seinem Motorroller von
Inwil her mit mässiger Geschwindigkeit in die Hauptstrasse ein, um
nach Eschenbach weiter zu fahren. Als er sich bereits in der rechten
Fahrbahn der Hauptstrasse befand und korrekt rechts fuhr, wurde er von
einem Personenwagen, der von Emmen kam, eingeholt und auf der linken
Seite angefahren. Er und seine Mitfahrerin kamen dadurch zu Fall und
wurden durch den Sturz leicht verletzt. Der Führer des Personenwagens,
Lötscher, hatte den Motorroller aus Unaufmerksamkeit zu spät bemerkt.

    B.- Lötscher und Dönni wurden durch Strafmandat je zu einer
Busse von Fr. 40.- verurteilt, Lötscher wegen fahrrlässiger Störung
des öffentlichen Verkehrs nach Art. 237 Ziff. 2 StGB, Dönni wegen
Verletzung des Vortrittsrechts gemäss Art. 27 Abs. 2 MFG. Lötscher nahm
das Strafmandat an.

    Gegenüber Dönni, der Einspruch erhob, bestätigte das Amtsgericht
Hochdorf am 29. Januar 1959 die Verurteilung, mässigte aber die Busse
auf Fr. 30.-.

    C.- Dönni führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag, er sei freizusprechen. Er bestreitet, das Vortrittsrecht
verletzt zu haben, und macht geltend, der Zusammenstoss sei einzig darauf
zurückzuführen, dass Lötscher aus Unaufmerksamkeit nicht ordnungsgemäss
überholt habe.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Inwilerstrasse, an sich eine Hauptstrasse mit Vortrittsrecht,
wird durch das an der Einmündung in die Kantonsstrasse Emmen-Eschenbach
aufgestellte Vortrittssignal im Verhältnis zu dieser Hauptstrasse
Nebenstrasse im Sinne des Art. 27 Abs. 2 MFG. Der in die Kantonsstrasse
einbiegende Fahrzeugführer hat demnach den auf dieser Strasse verkehrenden
Fahrzeugen, ob sie von rechts oder von links kommen, den Vortritt zu
lassen. Voraussetzung ist auch in diesem wie im Falle des Art. 27 Abs. 1
MFG, dass das vortrittsberechtigte Fahrzeug gleichzeitig eintreffe.

    Der Beschwerdeführer irrt, wenn er glaubt, es fehle das Erfordernis der
Gleichzeitigkeit, weil er die rechte Fahrbahn der Hauptstrasse, und zwar
ausserhalb des Schnittpunktes der beiden Strassen, schon erreicht hatte,
bevor der Personenwagen Lötschers eintraf. Gleichzeitigkeit verlangt
nicht, dass zwei Fahrzeuge im gleichen Augenblick den Schnittpunkt ihrer
Fahrbahnen erreichen, noch dass sie im gleichen Zeitpunkt auf der Fläche
der sich überschneidenden Strassen eintreffen. Sie ist nach ständiger
Rechtsprechung schon gegeben, wenn das vortrittsberechtigte Fahrzeug seine
Fahrt im Einmündungsgebiet nicht gleichmässig und ungestört fortsetzen
könnte, ohne mit dem einschwenkenden zusammenzustossen oder es oder sich
zu gefährden (BGE 77 IV 220, 79 II 214, 83 IV 97). Diese Voraussetzung
ist nicht bloss erfüllt, wenn der Vortrittsberechtigte im Verlaufe
seiner Annäherung an die Einmündung genötigt ist, seine Fahrweise zu
ändern, um einen Zusammenstoss innerhalb der Überschneidungsfläche
beider Strassen zu vermeiden, sondern auch dann, wenn er es erst
im Einmündungsgebiet tun muss, um nicht unmittelbar nach diesem mit
einem Fahrzeug zusammenzustossen, das zwar noch einschwenken, mangels
genügender Beschleunigung aber keinen so grossen Abstand gewinnen
konnte, den ein später eintreffender Vortrittsberechtigter benötigt,
um seine Fahrt im Bereiche der Einmündung gleichmässig und ungestört
fortsetzen zu können (vgl. BGE 62 I 195, 64 II 324, 66 I 320, Urteil
des Kassationshofes vom 14. Januar 1955 i.S. Eisenmann). Das gilt an
eigentlichen Strassenkreuzungen und dort, wo sich zwei Strassen bloss
vereinigen (Gabelungen und Einmüdungen), in gleicher Weise. Art. 27 MFG
ordnet das Vortrittsrecht für alle Arten des Zusammentreffens von Strassen
einheitlich, und daher verträgt der Begriff der Gleichzeitigkeit keine
unterschiedliche Auslegung, je nachdem, ob der aus der Nebenstrasse
Kommende von rechts oder von links in die Fahrbahnhälfte des
Vortrittsberechtigten einbiegt oder ob er diese kreuzt. Die gegenteilige
Auffassung des Beschwerdeführers würde die Anwendung der Regeln über das
Vortrittsrecht zu sehr erschweren und zu Unsicherheit führen.

    Nicht richtig ist auch die Annahme des Beschwerdeführers, das
Einmündungsgebiet sei beim Eintreffen Lötschers frei gewesen, der
Zusammenstoss also ausserhalb der Einmündung erfolgt. Das Vortrittsrecht
steht dem Berechtigten nicht bloss an einer bestimmten Stelle der
Einmündung, z.B. im Schnittpunkt der beiden Strassenmittellinien, sondern
auf der ganzen Fläche zu, auf der sich die zusammentreffenden Strassen
überschneiden (BGE 80 IV 199). Die Ausdehnung dieser Fläche bestimmt
sich nach den beiden Punkten, in denen die Randlinien der Hauptstrasse
und der einmündenden Nebenstrasse zusammentreffen, und wo die Einmündung,
wie im vorliegenden Falle, durch Abrundung der Randlinien trichterförmig
ausgeweitet ist, stimmen diese Punkte mit der Stelle überein, wo sich
die Hauptstrasse auszuweiten beginnt, nicht mit derjenigen, wo sich die
verlängerten Randlinien bei theoretisch gleich bleibender Strassenbreite
schneiden würden. Nach dem Situationsplan, auf den die Vorinstanz
abgestellt hat, liegt die Kollisionsstelle rund 1,5 m vor dem Punkt, wo
die Hauptstrasse wieder ihre normale Breite hat, somit noch innerhalb des
Einmündungsgebietes. Damit steht eindeutig fest, dass der gleichmässig
fahrende Wagen Lötschers gleichzeitig im Sinne des Art. 27 Abs. 1 MFG
eingetroffen ist. Er hatte daher das Vortrittsrecht.

Erwägung 2

    2.- War demnach der Beschwerdeführer verpflichtet, die Hauptstrasse
dem herannahenden Wagen Lötschers frei zu geben, so liegt entgegen seiner
Ansicht nicht bloss ein Fall gewöhnlichen Überholens zweier auf der
gleichen Strasse sich bewegender Fahrzeuge vor, mag auch der Motorroller
nahe am Strassenrand gefahren und in der rechten Strassenhälfte der
erforderliche Raum zum Vorfahren vorhanden gewesen sein. Lötscher hatte als
Vortrittsberechtigter Anspruch darauf, in der gleichmässigen Fortsetzung
seiner Fahrt nicht von einem aus der Inwilerstrasse Einbiegenden
behindert zu werden. Es konnte von ihm nicht verlangt werden, dass er
seine Fahrrichtung ändere, um dem Nichtberechtigten die Fahrbahn frei
zu geben, so wenig ihm zugemutet werden durfte, seine Geschwindigkeit
zu verlangsamen. Damit soll nicht gesagt werden, dass er nach den
gegebenen Umständen unter dem Gesichtspunkt des Art. 25 Abs. 1 MFG nicht
verpflichtet gewesen wäre, aufmerksam zu sein und einen Unfall zu verhüten.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er zum Ausweichen oder zur
Herabsetzung der Geschwindigkeit gezwungen gewesen wäre und demzufolge
seine Fahrt nicht ungestört hätte fortsetzen können. Der Beschwerdeführer
hat somit dessen Vortrittsrecht verletzt. Dass er pflichtgemäss langsam
in die Hauptstrasse einbog und dieser Umstand dazu beitrug, dass er noch
innerhalb des Einmündungsgebietes vom Personenwagen eingeholt wurde,
entschuldigt ihn nicht. Er hätte nicht bloss die Entfernung des sich
nähernden Fahrzeuges abschätzen, sondern auch dessen Geschwindigkeit und
die eigene in Rechnung stellen sollen, und wenn es ungewiss war, ob er das
beabsichtigte Einschwenkungsmanöver rechtzeitig werde beendigen können,
damit zuwarten müssen.

Erwägung 3

    3.- .....

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.