Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 50



85 IV 50

14. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. Februar 1959
i.S. Kiesinger gegen Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 75 Abs. 1 lit. b MFV. Pflicht des Motorfahrzeugführers,
die beabsichtigte Richtungsänderung so frühzeitig anzuzeigen, dass es
den andern Strassenbenützern möglich ist, sich der neuen Verkehrslage
anzupassen.

Sachverhalt

    A.- Am 13. Juni 1957, etwas nach 09.00 Uhr, führte Kiesinger seinen
Personenwagen mit 35-40 km/Std. in Bern auf der 12 m breiten Belpstrasse
gegen deren Kreuzung mit der Mattenstrasse. Nachdem er an einer Traminsel
rechts vorbeigefahren war, bog er ungefähr 100 m vor der Kreuzung gegen
die Strassenmitte zu ab, um von den auf eine Länge von ca. 75 m am rechten
Strassenrand parkierten Autos einen seitlichen Abstand von 2,5-2,7 m zu
gewinnen. Auf der Höhe des letzten dieser Fahrzeuge, das ca. 25 m vor der
Kreuzung stand, stellte Kiesinger, der von Anfang an die Absicht hatte,
nach rechts in die Mattenstrasse einzubiegen, den rechten Blinker ein und
schwenkte fast gleichzeitig in verlangsamter Fahrt nach der angezeigten
Richtung ab. 13 m vor der Kreuzung stiess er mit einem ihn von rechts
überholenden Lieferungswagen zusammen, dessen Führer Pauchard schon einige
Meter nach der Traminsel auf ihn aufgeschlossen, ungefähr 25 m vor der
Kreuzung zum Vorfahren angesetzt und die Geschwindigkeit auf 45-50 km/Std.
gesteigert hatte, um geradeaus weiterzufahren. Durch den Anprall wurde
der Lieferungswagen auf das Trottoir abgedrängt, wo er auf einen eisernen
Gemüseständer stiess, der dem Stoss nachgab und eine Passantin verletzte.

    B.- Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte Kiesinger am 2. Mai
1958 wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs zu einer
bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 30.-. Es legte ihm zur Last,
gegen Art. 75 Abs. 1 lit. b MFV verstossen zu haben.

    C.- Kiesinger führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichtes sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- .....

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer hat seiner Vorsichtspflicht insofern
nicht genügt, als er vor dem Abbiegen in die Mattenstrasse den
rechten Richtungsanzeiger zu spät betätigte. Wie die Vorinstanz für
den Kassationshof verbindlich feststellt, gab er das Zeichen für die
tatsächlich beabsichtigte Fahrtrichtung erst im letzten Moment, sodass
es praktisch mit der Richtungsänderung zusammenfiel. Darin liegt ein
Verstoss gegen Art. 75 Abs. 1 lit. b MFV. Zwar schreibt diese Bestimmung
den Zeitpunkt der Zeichengabe nicht ausdrücklich vor. Allein daraus folgt
nicht, dass die Richtungsänderung erst "beim" Abbiegen anzuzeigen sei, wie
der Beschwerdeführer behauptet. Soll die Zeichengebung ihren Zweck erfüllen
und dementsprechend die übrigen Strassenbenützer über das Vorhaben des
Führers unterrichten und warnen, so muss sie vor Beginn des Manövers und
so frühzeitig einsetzen, dass die andern Verkehrsteilnehmer in der Lage
sind, darauf zweckmässig zu reagieren (vgl. BGE 79 IV 71). Die Anzeige
einer Richtungsänderung, die mit dieser zeitlich zusammenfällt oder
von ihr durch eine so kurze Zeitspanne getrennt ist, dass es den andern
Strassenbenützern unmöglich ist, sich der neuen Verkehrslage anzupassen,
genügt daher der Vorschrift des Art. 75 Abs. 1 lit. b MFV nicht. Es ist
infolgedessen ohne Belang, dass der Beschwerdeführer schon 25 m vor der
Kreuzung seine Absicht bekannt gab, nach rechts abzubiegen. Entscheidend
ist, dass er beinahe gleichzeitig mit der Zeichengabe nach rechts
abschwenkte und damit dem Führer des nachfolgenden Lieferungswagens die
Möglichkeit nahm, der durch sein (des Beschwerdeführers) plötzliches
Abbiegen geschaffenen Gefahr wirksam zu begegnen. Kiesinger hätte somit
die beabsichtigte Richtungsänderung früher anzeigen oder aber mit dem
Abbiegen noch zuwarten müssen. In jedem Fall durfte er sein Manöver nicht
ausführen, ohne sicher zu sein, dass Pauchard bei gebotener Vorsicht
seine Absicht rechtzeitig hatte erkennen können. Das will nicht heissen,
dass der Beschwerdeführer mit der Möglichkeit habe rechnen müssen, schon
auf der Höhe der am Strassenrand stationierten Wagen rechts überholt zu
werden. Davon ist auch im angefochtenen Urteil nicht die Rede. Dagegen
musste er "nach Ende der rechts parkierten Fahrzeugkolonne" ein solches
Manöver gewärtigen. Nachdem er ungefähr 100 m vor der Kreuzung nach
links gegen die Mittellinie zu abgebogen hatte, obschon die Verhältnisse
auf seiner Fahrbahn einen so grossen Abstand vom rechten Strassenrande
nicht erforderten, musste er sich sagen, seine Fahrweise könnte vom
Führer des nachfolgenden Lieferungswagens als Einspuren für ein späteres
Abschwenken nach links verstanden werden und diesen veranlassen, ihn
nach dem letzten der am Strassenrand aufgestellten Fahrzeuge rechts zu
überholen. Tatsächlich hat denn auch das Verhalten des Beschwerdeführers
bei Pauchard den Eindruck erweckt, er (Kiesinger) beabsichtige nach links
in die Mattenstrasse einzubiegen. Dem hat Kiesinger unvorsichtigerweise
nicht Rechnung getragen, als er erst auf der Höhe des letzten, zu
seiner Rechten parkierten Autos den Richtungsanzeiger stellte und fast
gleichzeitig nach rechts abbog. Dass Pauchard seinerseits verkehrswidrig
fuhr, indem er unmittelbar vor der Kreuzung und trotz der durch den
vorausfahrenden Wagen beeinträchtigten Übersicht rechts zu überholen
versuchte (vgl. BGE 83 IV 168), entlastet den Beschwerdeführer nicht.