Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 45



85 IV 45

13. Urteil des Kassationshofes vom 25. März 1959 i.S. Tschannen gegen
Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 70 Abs. 2 MFV. Diese Bestimmung verpflichtet den
Motorfahrzeugführer nicht, dafür zu sorgen, dass Radfahrer an seinem
Fahrzeug nicht anhängen.

    Art. 117 StGB. Keine Fahrlässigkeit des Traktorführers, der sich damit
begnügte, beim Überholen jugendlicher Radfahrer durch einen Blick nach
rückwärts die Rückseite seines Brückenwagens zu kontrollieren, es aber
unterliess, die Radfahrer zum voraus zu warnen und auf der Weiterfahrt
sich nochmals zu vergewissern, ob sie nicht angehängt hätten.

Sachverhalt

    A.- Am 4. November 1957 gegen 17 Uhr führte Landwirt Tschannen einen
Traktor mit angehängtem BrückenPneuwagen, der mit sieben Säcken Dünger
im Gewicht von ca. 420 kg beladen war, auf der Strasse von Aarberg über
Radelfingen Richtung Detligen. Bei der Käserei Radelfingen überholte er
eine Gruppe von vier Sekundarschülern, die sich auf Fahrrädern auf dem
Heimweg befanden und sich undiszipliniert benahmen. Nachdem ihm die Knaben
beim Dorfausgang auf dem zur Salzbachbrücke abfallenden Strassenstück
vorgefahren waren, überholte er sie ein zweites Mal nach der Brücke,
wo die Strasse stark anzusteigen beginnt. Tschannen schaltete dort vom
4. in den 3. Gang zurück, warf hierauf einen Blick rückwärts, um sich
zu vergewissern, ob der Anhänger nicht einen der Knaben streife, und fuhr
dann, ohne nochmals zurückzuschauen, weiter. Unmittelbar darauf hängten
der 13 Jahre alte Fritz Tiefenbach auf der rechten Seite und zwei weitere
Knaben auf der Rückseite des Anhängers an, um auf den Fahrrädern sitzend
sich die Steigung hinaufziehen zu lassen. Möglicherweise hatten zwei
der Knaben schon vorher angehängt, im Augenblick, als der Traktorführer
zurückblickte, aber wieder losgelassen. Kurz vor der Anhöhe, nach einer
Strecke von ca. 650 m, verlor Tiefenbach, der sich mit der linken Hand am
vordern Teil des Anhängers festhielt, das Gleichgewicht, als er ein Stück
Schokolade aus seiner Tasche nahm, stürzte zwischen das rechte Vorder- und
Hinterrad des Brückenwagens und zog sich dabei so schwere Verletzungen zu,
dass er auf der Unfallstelle starb. Tschannen hatte nicht bemerkt, dass
sich die Knaben nachziehen liessen, und wegen des starken Motorenlärms,
den der Traktor verursachte, auch den Sturz des verunfallten Knaben
nicht wahrgenommen.

    B.- Das Amtsgericht Aarberg sprach Tschannen von der Anklage der
fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Störung des öffentlichen
Verkehrs frei.

    Das Obergericht des Kantons Bern erklärte ihn dagegen auf Appellation
der Staatsanwaltschaft des Seelandes am 7. November 1958 der eingeklagten
Vergehen schuldig und verurteilte ihn zu zehn Tagen Gefängnis, bedingt
vollziehbar, mit einer Probezeit von zwei Jahren. Das fahrlässige
Verhalten erblickte es darin, dass Tschannen sich nicht gehörig nach
beiden Seiten umgedreht habe, um sich zu vergewissern, ob nicht die
Knaben am Fahrzeug angehängt hätten. Zu dieser Vorsichtsmassnahme sei
er verpflichtet gewesen, weil er nach dem undisziplinierten Verhalten
und auf Grund der ihm bekannten Gewohnheit der Knaben, sich auf dieser
Steigung von Fuhrwerken nachziehen zu lassen, damit habe rechnen müssen,
dass sie anzuhängen beabsichtigten. Er hätte deshalb schon zu Beginn der
Steigung die sich in unmittelbarer Nähe befindlichen Knaben wegweisen und
auf der Weiterfahrt wiederholt zurückschauen müssen, bis ihn ein genügender
Vorsprung von den Knaben getrennt hätte. Zur gewissenhaften Beobachtung
habe umso eher Veranlassung bestanden, als der starke Lärm des Motors
seine Wahrnehmungsfähigkeit herabgesetzt habe und der Rückspiegel des
Traktors verstellt und darum unbenützbar gewesen sei. Statt dessen habe
er sich mit einem einmaligen und flüchtigen Blick nach rückwärts begnügt.

    C.- Tschannen führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Der Generalprokurator des Kantons Bern hat unter Hinweis auf die
Erwägungen des angefochtenen Urteils auf Gegenbemerkungen verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Verhalten und damit auch das Mass der Sorgfalt, das der
Motorfahrzeugführer im öffentlichen Verkehr zu beachten hat, wird
im allgemeinen durch die Verkehrsregeln des MFG und der zugehörigen
MFV bestimmt. Eine Verletzung dieser Verkehrsvorschriften durch den
Beschwerdeführer hat die Vorinstanz mit Recht verneint. Tschannen hat die
Radfahrer gemäss Art. 26 Abs. 3 MFG und Art. 46 Abs. 3 MFV vorsichtig
überholt und auf sie Rücksicht genommen, indem er beim Vorfahren nach
rückwärts schaute, um sich zu vergewissern, dass der Anhänger des Traktors
nicht einen der Knaben gefährde. Er war nicht auch noch verpflichtet, dafür
zu sorgen, dass die Knaben die Vorschrift des Art. 70 Abs. 2 MFV befolgten,
d.h. an seinem Fahrzeug nicht anhängten. Das Verbot, an Fuhrwerken und
Motorfahrzeugen anzuhängen, ist nach der Überschrift zu Abschnitt IV
lit. c der MFV eine für Radfahrer bestimmte Verkehrsvorschrift; das Gesetz
schreibt nirgends vor, dass die Motorfahrzeugführer Vorsichtsmassnahmen
zu treffen hätten, damit das Verbot von den Radfahrern eingehalten werde.

Erwägung 2

    2.- Das heisst aber nicht, dass jedes Verhalten im öffentlichen
Verkehr als erlaubt gelte, wenn die Bestimmungen des MFG und der MFV
es nicht ausdrücklich verbieten. Der Motorfahrzeugführer, der mit
seinem Fahrzeug einen Unfall verursacht, kann z.B. der fahrlässigen
Körperverletzung oder der fahrlässigen Tötung auch schuldig sein, wenn
er ein Gebot der allgemeinen Vorsichtspflicht missachtet, vorausgesetzt,
dass sein Verhalten nach den Regeln des MFG und der MFV nicht geradezu
rechtmässig ist (BGE 78 IV 75).

    Der Beschwerdeführer hat die ihm obliegende Sorgfaltspflicht nicht
verletzt. Hätte er aus irgendeinem Grunde festgestellt, dass einer der
Knaben am Brückenwagen anhängte, so wäre er verpflichtet gewesen, die zur
Abwendung der Unfallgefahr erforderlichen Massnahmen zu treffen. Tschannen
hat jedoch nicht gewusst, dass die Knaben sich nachziehen liessen,
und bestimmte Anhaltspunkte, dass sie es tun werden, hatte er nicht. Der
Umstand allein, dass sie sich auf dem Heimweg undiszipliniert benahmen und
erfahrungsgemäss gerne anhängten, rückte die Gefahr des Anhängens nicht
derart in die Nähe, dass er besondere Vorsichtsmassnahmen ergreifen
musste. Der Beschwerdeführer durfte davon ausgehen, dass Knaben im
Sekundarschulalter, die täglich mit dem Fahrrad zur Schule fahren,
wissen, dass Anhängen an Fahrzeugen verboten ist. Tatsächlich war ihnen
das Verbot bekannt, und sie wussten auch, dass Tschannen das Anhängen
nicht duldete. Nachdem der Beschwerdeführer zu Beginn der Steigung nach
rückwärts beobachtet und dabei keinen Knaben gesehen hatte, der sich am
Anhänger festhielt, durfte er sich mit dieser Feststellung begnügen. Er
war nicht verpflichtet, die Knaben zum voraus zu warnen oder wegzuweisen,
denn gefährdet waren sie erst, als sie anhängten, und das taten sie nach
den Feststellungen der Vorinstanz nicht, als Tschannen zurückblickte. Dass
der Beschwerdeführer dabei den Knaben Tiefenbach, der sich rechts neben
dem Anhänger befand, nicht gesehen hat, wahrscheinlich deshalb nicht,
weil er den Kopf nach links drehte und seine Aufmerksamkeit der Rückseite
des Brückenwagens zuwandte, kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Mit
der Möglichkeit, dass sich ein Knabe im vordern Teil der rechten Längsseite
des Brückenwagens, an einer völlig ungewöhnlichen Stelle, anhängen könnte,
brauchte er nicht zu rechnen. Auch konnte von ihm nicht verlangt werden,
dass er während der Fahrt den Brückenwagen nach allen Seiten einer genauen
Kontrolle unterziehe, wie denn auch die Forderung, dass er sich wiederholt
hätte zurückwenden müssen, um sich zu vergewissern, ob die Knaben nicht
doch noch angehängt hätten, die Grenzen des Zumutbaren übersteigt. Der
Beschwerdeführer war in erster Linie verpflichtet, sein Augenmerk auf
die Führung. des Traktors und die Beobachtung des vor ihm liegenden
Strassenstückes zu richten, das eine langgezogene Kurve beschrieb; es
ginge zu weit, dem Führer eines Motorfahrzeuges auch noch die Aufgabe
zu überbürden, überholte Strassenbenützer so lange zu überwachen,
bis feststeht, dass sie sein Fahrzeug nicht mehr einholen können. Dass
schliesslich der Rückspiegel am Traktor des Beschwerdeführers verstellt
und unbenützbar war, ist ohne Belang, weil er nach Art. 38 MFV nicht zur
gesetzlich geforderten Ausrüstung landwirtschaftlicher Traktoren gehört.

Erwägung 3

    3.- Fällt dem Beschwerdeführer keine Fahrlässigkeit zur Last, so
ist er zu Unrecht wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Störung des
öffentlichen Verkehrs bestraft worden. Er ist daher von der Anklage dieser
Vergehen freizusprechen.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen.