Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 37



85 IV 37

11. Urteil des Kassationshofes vom 15. Januar 1959 i.S. Holliger gegen
Polizeirichteramt Zürich. Regeste

    Art. 27 Abs. 1 MFG. Der innerorts auf einer Hauptverkehrsstrasse
Fahrende hat dem aus einer sieben Meter breiten Seitenstrasse einbiegenden
Fahrzeug den Rechtsvortritt zu lassen; er darf dessen Sicherheitshalt
nicht schlechthin als Verzicht auf das Vortrittsrecht auslegen.

Sachverhalt

    A.- Am 15. Juni 1957, kurz vor Mittag, steuerte Holliger seinen
Personenwagen in Zürich 11 durch die 16,4 m breite Wehntalerstrasse
stadtauswärts. Auf der Höhe der von rechts einmündenden Jonas-Furrerstrasse
stiess er mit einem aus dieser in die Wehntalerstrasse fahrenden
Lieferungswagen zusammen. Dessen Führer, De Cia, kam von einem neben
der Wehntalerstrasse gelegenen Parkplatz, der stadteinwärts nur über die
Jonas-Furrerstrasse verlassen werden kann. Er hatte vor der Einfahrt in
diese Strasse und vor der Einmündung in die Wehntalerstrasse je einen
kurzen Halt eingeschaltet. Obschon Holliger den Lieferungswagen auf eine
Entfernung von mindestens 50 m sehen konnte, hatte er seine Geschwindigkeit
von 70 km/Std. erst unmittelbar vor dem Zusammenstoss herabgesetzt.

    B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Zürich
verurteilte am 14. November 1958 Holliger wegen Verletzung von Art. 27
Abs. 1 MFG zu einer Busse von Fr. 30.-, De Cia wegen Widerhandlung
gegen Art. 25 Abs. 1 MFG zu einer solchen von Fr. 20.-.

    C.- Holliger führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei
freizusprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In BGE 84 IV 32 wurde dargelegt, dass nach Art. 27 Abs. 1 MFG der
aus einem bedeutungslosen Strässchen in eine grosse Durchgangsstrasse
Einbiegende das Vortrittsrecht nicht beanspruchen kann. Diese
Rechtsprechung ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Wie im erwähnten
Urteil ausgeführt wurde, sind nur die Einmündungen solcher Strässchen
von der Regel des Art. 27 Abs. 1 MFG auszunehmen, die im Verhältnis
zur Hauptverkehrsader praktisch ohne Verkehrsbedeutung sind und auch
äusserlich, nach ihrer Anlage und Grössenordnung, als unbedeutender
Verkehrsweg in Erscheinung treten. Auf die Jonas-Furrerstrasse treffen
diese Voraussetzungen nur zum Teil zu. Sie ist zwar eine unbedeutende
Quartierstrasse ohne durchgehenden Verkehr, aber sie hat, wie der
Beschwerdeführer anerkennt, eine Fahrbahnbreite von sieben Metern, und ihre
Einmündung in die Wehntalerstrasse ist zudem noch erheblich ausgeweitet.

Erwägung 2

    2.- Ebensowenig kann sich der Beschwerdeführer auf den Grundsatz
berufen, dass derjenige, der ein am Strassenrand oder neben der
Strasse abgestelltes Fahrzeug wieder in den Verkehr einschalten will,
in erster Linie verpflichtet ist, die im Interesse der Verkehrssicherheit
erforderlichen Vorsichtsmassnahmen zu treffen (BGE 83 IV 33). De Cia konnte
vom Parkplatz nicht direkt in die Wehntalerstrasse gelangen, sondern hatte
zunächst das Trottoir der Jonas-Furrerstrasse zu überqueren und daraufhin
in dieser Strasse ca. acht Meter zurückzulegen, bis er die Wehntalerstrasse
erreichte. Schon mit der Einfahrt in die Jonas-Furrerstrasse schaltete
er sich wieder in den Verkehr ein, und infolgedessen befand er sich an
der Einmündung in die Wehntalerstrasse nicht mehr auf der Ausfahrt aus
der Parkfläche.

Erwägung 3

    3.- Die Benützer von Hauptverkehrsstrassen haben innerorts auch den
aus einer Nebenstrasse kommenden Fahrzeugen den Rechtsvortritt zu lassen,
und sie sind daher gemäss Art. 27 Abs. 1 MFG gehalten, dieser Pflicht
bei der Bemessung der Geschwindigkeit Rechnung zu tragen, namentlich vor
unübersichtlichen Einmündungen oder wenn sie wahrnehmen oder wahrnehmen
könnten, dass ein Vortrittsberechtigter einer Einmündung naht. Wenn
nach der Rechtsprechung der Vortrittsberechtigte in einer Nebenstrasse
verpflichtet ist, auf den Verkehr in der Hauptverkehrsader erhöhte
Rücksicht zu nehmen und sein Vortrittsrecht mit besonderer Aufmerksamkeit
auszuüben (BGE 76 IV 257; 81 IV 133, 294), so folgt daraus nicht, dass
er alle auf der Hauptverkehrsader sich bewegenden Fahrzeuge vorbeifahren
lassen müsse oder dass er seine Absicht, vom Vortrittsrecht Gebrauch
zu machen, den Führern dieser Fahrzeuge anzuzeigen brauche. Sein Halt
darf darum nicht als Verzicht auf den Rechtsvortritt ausgelegt werden,
es sei denn, dass dafür zuverlässige Anhaltspunkte vorliegen.

    Der Beschwerdeführer befand sich nicht unmittelbar vor der Einmündung
der Jonas-Furrerstrasse, als der Lieferungswagen dort anhielt, sondern
er war nach seiner eigenen Darstellung in jenem Zeitpunkt noch ca. 50 m
weit davon entfernt. Bei dieser Entfernung durfte er sich nicht darauf
verlassen, dass der Führer des Lieferungswagens um seinetwillen anhalte
und ihm den Vortritt lassen wolle. De Cia konnte, bevor er stadteinwärts
abschwenkte, den Halt wegen des Rechtsverkehrs auf der gegenüberliegenden
Strassenhälfte eingeschaltet und infolge der dorthin gerichteten
Aufmerksamkeit den von links kommenden Wagen des Beschwerdeführers zu wenig
beachtet oder dessen Geschwindigkeit unterschätzt haben. Hatte Holliger
demnach mit der Möglichkeit zu rechnen, dass er dem Lieferungswagen den
Vortritt lassen müsse, so war er verpflichtet, die Geschwindigkeit von 70
km/Std. zu mässigen, bevor De Cia in die Wehntalerstrasse einbog. Indem
er es erst nach dessen Einfahrt tat, verletzte er Art. 27 Abs. 1 MFG. Dass
der Führer des Lieferungswagens die Beobachtung nach links vernachlässigte,
entschuldigt den Beschwerdeführer nicht.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.