Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 250



85 IV 250

64. Entscheid der Anklagekammer vom 4. Dezember 1959 i.S. Verhöramt Zug
gegen Staatsanwaltschaft Graubünden. Regeste

    Art. 351, 372 Abs. 3 StGB; Art. 263 BStP.

    1.  Abgrenzung der Kompetenzen des Justiz- und Polizeidepartements
und der Anklagekammer mit Bezug auf die Beurteilung von
Gerichtsstandskonflikten zwischen den Kantonen. Ist der Beschuldigte teils
vor und teils nach Erreichung des 18. Altersjahrs straffällig geworden,
so bezeichnet die Anklagekammer den zuständigen Kanton (Erw. 1).

    2.  Nach welchen Bestimmungen ist in solchen Fällen der Gerichtsstand
zu ermitteln? (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Der am 13. Juli 1941 geborene, in Baar (Kanton Zug) wohnhafte
Eduard Aldrovandi wurde am 29. Juni 1959 von den Zuger Behörden
verhaftet. Er wurde wegen gegen vierzig strafbaren Handlungen in
Untersuchung gezogen, die er mit Ausnahme einer im Kanton Zürich und
dreier im Kanton Luzern verübter Verfehlungen im Kanton Zug begangen
hatte. Kurz nach Erreichung des achtzehnten Altersjahrs entwich Aldrovandi
aus der Untersuchungshaft. Er beging in der Folge, zur Hauptsache im
Kanton Graubünden, zu einem kleinen Teil aber auch in den Kantonen Zug,
Uri und Bern rund vierzig weitere strafbare Handlungen, für die ihn die
Bündner Behörden in Untersuchung zogen.

    B.- Das Verhöramt des Kantons Zug hat das Eidg. Justiz- und
Polizeidepartement unter Berufung auf Art. 372 Abs. 3 StGB und auf den
Entscheid i.S. Marsetti (BGE 74 IV 184) ersucht, den Kanton Graubünden
berechtigt und verpflichtet zu erklären, alle Aldrovandi zur Last
fallenden Handlungen (jedenfalls aber die nach dem 13. Juli 1959 begangenen
Verfehlungen) zu verfolgen und zu beurteilen.

    C.- Das Justiz- und Polizeidepartement trat mit der Anklagekammer
des Bundesgerichts in Meinungsaustausch; es ist mit ihr übereingekommen,
dass die Anklagekammer das Gesuch zu beurteilen hat.

    D.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden schliesst, es sei das Gesuch
abzuweisen und der Kanton Zug berechtigt und verpflichtet zu erklären, alle
strafbaren Handlungen des Beschuldigten zu verfolgen und zu beurteilen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Ist der Gerichtsstand unter den Behörden mehrerer Kantone streitig,
so kommt es gemäss Art. 351 StGB und Art. 264 BStP der Anklagekammer
des Bundesgerichts zu, den Kanton zu bezeichnen, der zur Verfolgung und
Beurteilung berechtigt und verpflichtet ist. Von dieser Regelung sind
die Streitigkeiten über die Zuständigkeit im Verfahren gegen Kinder und
Jugendliche ausgenommen, welche Anstände nach Art. 372 Abs. 3 StGB vom
Bundesrat zu beurteilen sind. Dieser hat die betreffenden Befugnisse mit
Beschluss vom 16. Juni 1942 dem Eidg. Justiz- und Polizeidepartement
übertragen. Wenn der Beschuldigte nach Erreichung des achtzehnten
Altersjahrs straffällig geworden ist, so bezeichnet demnach die
Anklagekammer den Kanton, der die Tat zu verfolgen und zu beurteilen
hat; macht sich der Beschuldigte dagegen vor dem genannten Zeitpunkt
strafbar, so bestimmt grundsätzlich das Justiz- und Polizeidepartement
den Gerichtsstand. Anderes gilt indes, wenn der Beschuldigte zwar als
Jugendlicher straffällig geworden ist, zur Zeit der Beurteilung aber
das zwanzigste Altersjahr bereits überschritten hat. Gemäss Art. 371
Abs. 2 StGB ist diesfalls, zumindest von Bundesrechts wegen, nicht das
in Art. 369 ff. StGB geregelte Verfahren gegen Jugendliche anzuwenden;
es können sich demzufolge auch keine Anstände über die Zuständigkeit
in diesem Verfahren ergeben, die vom Justiz- und Polizeidepartement
zu beurteilen wären. Ist der Gerichtsstand in solchen Fällen streitig,
so hat daher die Anklagekammer zu entscheiden. Gleich verhält es sich,
wenn sich der inzwischen zwanzig Jahre alt gewordene Beschuldigte teils
vor und teils nach Erreichung des achtzehnten Altersjahrs verfehlt hat
(BGE 85 IV 246 Erw. 1).

    Zu prüfen bleibt, wem der Entscheid in Gerichtsstandsstreitigkeiten
bezüglich eines Beschuldigten zukommt, der wie Aldrovandi teils vor und
teils nach Erreichung des achtzehnten Altersjahrs straffällig geworden
ist, in der Zwischenzeit jedoch das zwanzigste Altersjahr noch nicht
überschritten hat. Die Anklagekammer hatte sich ein erstes Mal im
(nicht veröffentlichten) Entscheid vom 28. Dezember 1943 i.S. Flugi
mit dieser Frage zu befassen; sie erkannte, dass sie (und nicht der
Bundesrat) den zuständigen Kanton zu bezeichnen habe, da ein Teil der dem
Beschuldigten zur Last gelegten Handlungen von den ordentlichen Gerichten
zu beurteilen sei. Mit Entscheid vom 12. November 1948 i.S. Marsetti
(BGE 74 IV 184) kam die Anklagekammer auf diese Stellungnahme zurück.
Sie fand, Art. 372 Abs. 3 StGB übertrage dem Bundesrat die Sorge dafür,
dass die Gerichtsstandsvorschriften der Absätze 1 und 2 richtig ausgelegt
würden, und dass sie dort, wo sie anwendbar seien, auch tatsächlich
angewendet würden; bei Anständen unter den Kantonen habe darum das
Justiz- und Polizeidepartement nicht bloss zu entscheiden, welcher der
streitenden Kantone zuständig sei, sondern auch, ob ein Beschuldigter,
der nach Erreichung des achtzehnten Altersjahrs ein vorher begonnenes
strafbares Verhalten fortgesetzt habe, für das ganze Verhalten oder einen
Teil desselben der Jugendgerichtsbarkeit unterstehe. Die Anklagekammer
liess es dabei offen, ob in den Fällen, da der Bundesrat die allgemeinen
Gerichtsstandsbestimmungen als anwendbar erachtet, die Anklagekammer
oder zweckmässigerweise ebenfalls das Justiz- und Polizeidepartement den
Gerichtsstand festzusetzen habe.

    Die Begründung beider Entscheide hält einer Überprüfung nicht
stand. Wenn in BGE 74 IV 184 erwogen wird, dass es Sache des Bundesrats
sei, die Einhaltung der Vorschriften von Art. 372 Abs. 1 und 2 StGB zu
überwachen, so lässt sich dem entgegenhalten, dass es im selben Masse
Sache der Anklagekammer ist, für die richtige Anwendung der Regeln der
Art. 346 ff. StGB zu sorgen (wie das im Entscheid i.S. Flugi vorausgesetzt
wird). Die Weiterverfolgung dieses Gedankens führt zum Schlusse, in einem
Falle der genannten Art seien sowohl das Justiz- und Polizeidepartement als
auch die Anklagekammer zum Entscheid berufen. Das aber ist offensichtlich
nicht der Wille des Gesetzes.

    Um zu einer Lösung zu gelangen, sind vielmehr die Art. 351 und
372 Abs. 3 StGB einander gegenüberzustellen. Art. 351 StGB erklärt die
Anklagekammer allgemein zur Beurteilung von Gerichtsstandskonflikten
zwischen den Kantonen zuständig; nach Art. 372 Abs. 3 StGB beschränken
sich die Befugnisse des Bundesrats dagegen auf die Beurteilung von
Anständen zwischen den Kantonen über die Gerichtshoheit im Verfahren
gegen Kinder und Jugendliche. Art. 372 Abs. 3 StGB begründet damit
eine Ausnahme von dem in Art. 351 StGB aufgestellten Grundsatz, der
immer dann Platz greift, wenn nicht die Sondervorschrift anzuwenden
ist. Ist ein Beschuldigter, der zur Zeit der Beurteilung das zwanzigste
Altersjahr nicht überschritten hat, teils vor und teils nach Erreichung
des achtzehnten Altersjahrs straffällig geworden, so ist vorfrageweise
zu befinden, ob nach den Gerichtsstandsvorschriften für Jugendliche,
nach den allgemeinen Gerichtsstandsvorschriften oder nach anderweitigen
Gesichtspunkten zu entscheiden sei; je nachdem ist sodann im einen oder
im andern Sinne vorzugehen. Da sich diese Aufgabe nicht im Rahmen der
begrenzten Befugnisse lösen lässt, die Art. 372 Abs. 3 StGB dem Bundesrat
einräumt, kommt diese Vorschrift nicht zum Zuge. Ist dem jedoch so, dann
gilt die allgemeine Regel des Art. 351 StGB. Gerichtsstandsstreitigkeiten,
die sich in Fällen der genannten Art ergeben, hat demnach die Anklagekammer
zu beurteilen.

    Zusammengefasst ergibt sich, dass das Justiz- und Polizeidepartement
in reinen Jugendstrafsachen, d.h. wenn der Beschuldigte ausschliesslich
vor Erreichung des achtzehnten Altersjahrs straffällig geworden ist
und vor Überschreitung des zwanzigsten Altersjahrs beurteilt wird,
den Gerichtsstand zu bezeichnen hat. In allen andern Fällen obliegt das
der Anklagekammer; sie hat insbesondere zu entscheiden, wenn sich der
Beschuldigte vor Erreichung des achtzehnten Altersjahrs vergangen hat,
aber erst nach Überschreitung des zwanzigsten Altersjahrs beurteilt wird,
und wenn er sich teils vor und teils nach Erreichung des achtzehnten
Altersjahrs strafbar gemacht hat.

    Entgegen der in BGE 74 IV 184 geäusserten Ansicht ist dabei in den
letztgenannten Fällen nicht zu erkennen, ob sich der Jugendrichter oder
der ordentliche Richter des als zuständig erklärten Kantons mit der Sache
zu befassen hat. Diese Frage haben die Behörden des betreffenden Kantons
zu beantworten. Soweit sie hier eidgenössisches Recht anzuwenden haben,
kann ihr Entscheid mit der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof
des Bundesgerichts weitergezogen werden (Art. 269 Abs. 1 BStP). Richtig
ist allerdings, dass die Anklagekammer bei Abklärung der örtlichen
Zuständigkeit mitunter vorfrageweise auf die Anwendbarkeit des einen
oder des andern Verfahrens einzugehen hat. Einer solchen Stellungnahme
kommt indes keine andere Bedeutung zu als der rechtlichen Würdigung der
verfolgten Handlungen, welche die Anklagekammer bei der Bestimmung der mit
der schwersten Strafe bedrohten Tat (Art. 350 Ziff. 1 StGB) vorzunehmen
hat (BGE 71 IV 166). Ihre Auffassung vermag demgemäss weder die kantonalen
Behörden noch den Kassationshof zu binden.

Erwägung 2

    2.- Nach dem Gesagten hat sich die Anklagekammer mit der vorliegenden
Streitsache zu befassen. Zu untersuchen ist, nach welchen Bestimmungen
sie den zur Verfolgung und Beurteilung zuständigen Kanton zu ermitteln
hat. Würde sie auf die Verfehlungen, die der Beschuldigte vor Erreichung
des achtzehnten Altersjahrs verübt hat, Art. 372 Abs. 1 und 2 StGB
anwenden, auf die später begangenen Handlungen dagegen die Art. 346
ff. StGB, so würde das in zahlreichen Fällen (und namentlich auch hier)
zur Bezeichung verschiedener Gerichtsstände für jede der beiden Gruppen
von Vergehen führen. Eine solche Zweiteilung widerspräche dem in Art. 336
(lit c, d), 344 und 350 StGB niedergelegten Grundsatz, wonach eine Mehrheit
von strafbaren Handlungen durch ein und denselben Richter zu beurteilen
ist. Wohl schreibt das Gesetz nicht ausdrücklich vor, dass Vergehen,
die der Beschuldigte teils als Jugendlicher und teils im Übergangsalter
(oder als Erwachsener) begangen hat, zusammen zu beurteilen seien; es ist
jedoch klar, dass die einheitliche Beurteilung auch in diesen Fällen die
Regel bilden muss (BGE 85 IV 249). Das gilt besonders unter Umständen, wie
sie hier vorliegen, ist doch die Kette der im wesentlichen gleichartigen
und aus den nämlichen Beweggründen begangenen Verfehlungen Aldroyandis
im Zeitpunkt, da er das achtzehnte Altersjahr erreichte, nicht abgebrochen.

    Wie in derartigen Fällen die durch die Sachlage geforderte Einheit
der Beurteilung und damit des Gerichtsstands zu erreichen sei, sagt
das Gesetz nicht. Es enthält insofern eine Lücke. Die Anklagekammer hat
daher einen Ermessensentscheid zu treffen. Sie hat sich dabei nach den
Grundsätzen zu richten, die sie gestützt auf Art. 263 BStP in freier
Weiterentwicklung der gesetzlichen Gerichtsstandsvorschriften gewonnen
hat. In diesem Sinne ist hier in Betracht zu ziehen, dass Aldorvandi in
Baar Wohnsitz hat und dass er den verhältnismässig grössten Teil der
in sechs Kantonen verübten Verfehlungen im Kanton Zug begangen hat,
sodass sich dort nicht nur der Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen,
sondern auch das Schwergewicht der strafbaren Tätigkeit befindet (BGE
69 IV 37, 43; 72 IV 96; 73 IV 143). Zu berücksichtigen ist ferner, dass
die Behörden dieses Kantons Aldrovandi als erste in Untersuchung gezogen
haben und dass dieses Verfahren schon weit gediehen ist (BGE 69 IV 47,
86; 72 IV 194). Aus diesen Gründen erscheint es gegeben, die Behörden des
Kantons Zug berechtigt und verpflichtet zu erklären, Aldrovandi für alle
ihm zur Last gelegten strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.