Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 221



85 IV 221

58. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 13. November 1959
i.S. W. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 194 Abs. 1 StGB. Begriff des "Verführens" zur widernatürlichen
Unzucht (Bestätigung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das StGB stellt die widernatürliche Unzucht als solche nicht
unter Strafe; es will jedoch mit Art. 194 Abs. 1 die Unmündigen über das
Schutzalter des Kindes hinaus wenigstens vor der Verführung schützen,
sie also davor bewahren, dass sie in den Jahren, die für ihr ganzes Leben
entscheidend sind, in das Treiben der Homosexuellen hineingezogen werden
und dauernd auf Abwege geraten. Wie der Kassationshof in BGE 70 IV 30
ff. und in zahlreichen nicht veröffentlichten Urteilen erkannt hat,
bedarf des Schutzes nicht so sehr der sittlich gefestigte, als vielmehr
der unreife und willensschwache Unmündige, der eher der Gefahr sittlicher
Verirrung ausgesetzt ist. Gerade dieser wird aber der Verlockung zur
widernatürlichen Unzucht keinen oder nur geringen Widerstand entgegensetzen
und dazu umso eher bereit sein, je weniger er die Tragweite seines
Tuns erfasst. Noch schutzbedürftiger ist der Unmündige, der sich schon
homosexuell betätigt hat, zu weiteren Erlebnissen auf diesem Gebiet neigt
und daher Gefahr läuft, ganz zu verderben, wenn er wieder unter schlechten
Einfluss gerät.

    Soll Art. 194 Abs. 1 StGB seinen Zweck erfüllen und die wirklich
Gefährdeten schützen, so darf die Anwendung dieser Bestimmung deshalb
nicht davon abhängig gemacht werden, dass das Opfer dem Täter Widerstand
leiste. Wenn das Gesetz eine Vorschrift zum Schutz der Unmündigen vor
widernatürlicher Unzucht enthält, so geht es davon aus, dass diese auf
geschlechtlichem Gebiet für sich selbst noch nicht voll verantwortlich sind
und darum vor ihrem eigenen schwachen und leicht beeinflussbaren Willen
geschützt werden müssen. Wer auf einen Unmündigen einen bestimmenden
Einfluss ausübt und ihm gegenüber als die treibende Kraft auftritt,
verführt ihn, selbst wenn sich dieser gern einlässt.

Erwägung 2

    2.- Von dieser Rechtsprechung abzugehen, besteht kein Grund.

    a) Der Kassationshof hat den Begriff der Verführung aus dem Schutzzweck
des Art. 194 Abs. 1 abgeleitet. Die Auslegung, zu der er dergestalt gelangt
ist, hat er im Wortlaut der romanischen Gesetzestexte bestätigt gefunden,
die "verführen" nicht mit "séduire" bzw. "sedurre", sondern mit "induire"
bzw. "indurre" wiedergeben. Richtig ist, dass "induire" und "séduire"
bzw. "indurre" und "sedurre" teilweise die selbe Bedeutung haben und
dass sie insofern - aber nur insofern - als Synonyme verwendet werden
können. Der Ausdruck "induire" bzw. "indurre" erfasst daneben jedoch auch
Handlungen, die weniger weit gehen und eine geringere Einflussnahme auf
das Opfer mit sich bringen als eine "séduction" bzw. "seduzione". Das
Wort "induire" bzw. "indurre" ist demnach in BGE 70 IV 31 mit Recht als
der schwächere Ausdruck bezeichnet worden. Zwar trifft es zu, dass in
der parlamentarischen Beratung gelegentlich von "séduire" bzw. "sedurre"
die Rede war, wo im Gesetz "induire" bzw. "indurre" steht. Gerade dieser
Austausch zeigt aber, dass es dem Gesetzgeber nicht um eine engere,
sondern um eine weitere Fassung des Begriffs der Verführung ging. Die
Einwendungen, die LUCK (SJZ 51 S. 81 ff.) und der Beschwerdeführer in
dieser Hinsicht erheben, gehen damit fehl.

    b) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers lässt sich für ihn
auch daraus nichts gewinnen, dass Art. 194 Abs. 1 den Minderjährigen bis
zur Volljährigkeit vor der Verführung zur widernatürlichen Unzucht schützt,
während Art. 196 StGB der Minderjährigen nur bis zu ihrem 18. Altersjahr
vor der Verführung zum Beischlaf Schutz gewährt. Das Gesetz fasst die
widernatürliche Unzucht als etwas grundsätzlich anderes auf als den
Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau; es erachtet die Gefahren,
die für einen jungen Menschen mit der widernatürlichen Unzucht verbunden
sind, in gewissem Sinne als grösser und hat entsprechend das Schutzalter
höher angesetzt. Es geht demzufolge nicht an, die Unterscheidung, die
das Gesetz gewollt hat, auf dem Wege der Auslegung ganz oder teilweise
aufzuheben und dem Unmündigen durch eine engere Fassung des Begriffs
der Verführung zur widernatürlichen Unzucht den strafrechtlichen Schutz
gleich früh zu entzienen wie es Art. 196 der Unmündigen gegenüber mit
Bezug auf den Beischlaf tut. Als abwegig erweist sich auch der Einwand,
der Selbstverantwortlichkeit, die dem Volljährigen auf geschlechtlichem
Gebiet zukommt, sei durch eine zurückhaltende Auslegung des Art. 194 Abs. 1
eine "Vorwirkung" zuzuerkennen. Die feste Begrenzung des Schutzalters,
welche die angeführte Bestimmung trifft, würde auf diese Weise durch einen
fliessenden Übergang ersetzt. Das aber widerspräche dem Willen und dem
System des Gesetzes, das auch in seinen weiteren Jugendschutzvorschriften
(Art. 191, 192, 196, 202 Ziff. 2, 204 Ziff. 2, 208, 212) eine bestimmte
Altersgrenze zieht.