Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 189



85 IV 189

49. Urteil des Kassationshofes vom 27. Oktober 1959 i.S. Bucher gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Nichtanzeigen eines Fundes. Art. 332 StGB. - Irrige Vorstellung über
den Sachverhalt. Art. 19 StGB.

    1.  Die Übertretung nach Art. 332 StGB kommt nur in Frage, wenn nicht
das Vergehen des Art. 141 StGB (Fundunterschlagung) begangen worden ist,
oder wenn der Täter mangels Strafantrages nicht wegen dieses Vergehens
verfolgt werden kann (Erw. 1).

    2.  Der Nichtanzeige eines Fundes (Art. 332 StGB) macht sich nur
schuldig, wer vorsätzlich den Fund einer verlorenen (Art. 720 ZGB) oder das
Vorfinden einer gemäss Art. 725 Abs. 1 ZGB in seinen Gewahrsam gelangten
Sache nicht anzeigt (in Missachtung von Art. 720 Abs. 2/725 Abs. 1 ZGB). -
Nimmt der Finder irrigerweise an, die Sache sei vom Eigentümer aufgegeben
worden und daher herrenlos, so liegt vorsätzliche und damit strafbare
Übertretung nicht vor (Art. 19 StGB) (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Am 8. September 1958 zog Werner Hunziker mit seiner Familie
von der Langensandstrasse 38 in Luzern nach Tegna, Kanton Tessin, um.
Vor dem an der Strasse stehenden Hause Nr. 36 blieb nach Abfahrt des
Möbelwagens ein Jutesack mit zwei Paar Damenskischuhen, je einem Paar
Herren- und Kinderskischuhen und einem Paar Töchter-Schlittschuhstiefeln
mit Schlittschuhen liegen. Als der Hauswart Xaver Bucher abends von der
Arbeit heimkehrte, öffnete er den bei den Kehrichteimern stehenden Sack
und behändigte ihn. Ein Paar Damenskischuhe, die er dem Sack entnahm,
übergab er einer Bewohnerin des anliegenden Hauses, Frau Ronchetti. Von
den andern Schuhpaaren wurden die Schlittschuhstiefel zweimal von seiner
eigenen Tochter benutzt.

    B.- Nach der Ankunft am neuen Wohnort vermisste Hunziker dieses
Schuhwerk, und als er den Hergang vernahm, reichte er gegen Bucher
Strafanzeige wegen Fundunterschlagung ein. Bucher erklärte, er habe
angenommen, diese Sachen seien absichtlich liegen gelassen worden, um
als Kehricht abgeführt zu werden.

    C.- Das Amtsgericht Luzern-Stadt sprach am 30. April 1959 den
Beschuldigten von der Anklage der Fundunterschlagung nach Art. 141 StGB
frei, verurteilte ihn aber wegen Nichtanzeigens eines Fundes nach Art. 332
StGB zu einer Busse von Fr. 10.- mit Kostenfolge. Das Schadenersatzbegehren
des Privatklägers Hunziker verwies es auf den Weg des Zivilprozesses.

    In der Begründung billigt das Amtsgericht dem Beschuldigten den guten
Glauben zu, es handle sich um Sachen, die der bisherige Eigentümer bei
seinem Wegzug von Luzern aufgegeben habe, so dass sie herrenlos und damit
der Aneignung nach Art. 718 ZGB zugänglich geworden seien. Diese Annahme,
die auch der Ansicht zweier Zeuginnen entspreche, habe "einer gewissen
Berechtigung nicht entbehrt" angesichts des Ortes, wo sich der (übrigens
noch andere Gegenstände, namentlich ein Blumentöpfchen, enthaltende)
Sack befunden habe. Bei pflichtgemässer Vorsicht hätte der Beschuldigte
den Irrtum freilich vermeiden können, doch sei bloss fahrlässige
Fundunterschlagung nicht strafbar. Unter dem Gesichtspunkt vorsätzlichen
Handelns müsse ihm die irrige Vorstellung über den Sachverhalt zugute
kommen, womit sich die auf Art. 141 StGB gestützte Beschuldigung als
unbegründet erweise. Dagegen habe er gegen die Pflicht zur Anzeige eines
Fundes nach Art. 720 ZGB verstossen, was nach Art. 332 StGB mit einer
Busse zu ahnden sei. Es habe ihm nicht entgehen können, dass der Wert
der Gegenstände offenbar den Betrag von Fr. 10. - überstieg (Hunziker
bemass ihn auf rund Fr. 485.--, der vom Amtsstatthalteramt beigezogene
Sachverständige freilich nur auf Fr. 85.-).

    D.- Gegen dieses Urteil hat der Beschuldigte, soweit es zu seinen
Ungunsten lautet, Nichtigkeitsbeschwerde erhoben mit dem Antrag,
es sei aufzuheben und die Prozedur zu seiner Freisprechung an das
Amtsgericht zurückzuweisen; die Kosten mit Einschluss einer angemessenen
Parteientschädigung habe der Privatkläger, eventuell der Staat zu tragen.

    Die Staatsanwaltschaft beantragt Zustimmung zu den Anträgen des
Beschwerdeführers.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wie allgemein anerkannt ist, besteht zwischen dem Vergehen der
Fundunterschlagung (Art. 141 StGB) und der Übertretung des Nichtanzeigens
eines Fundes (Art. 332 StGB) Gesetzeskonkurrenz im Sinne der Subsidiarität.
Wird ein Finder wegen jenes Vergehens bestraft, so kommt somit eine
Verurteilung wegen dieser Übertretung nicht in Frage. Ob er sich im
letzteren Sinne schuldig gemacht habe, ist dagegen zu prüfen, wenn er
mangels Strafantrages nicht wegen Fundunterschlagung verfolgt werden kann
oder von der dahingehenden Anklage freizusprechen ist, wie im vorliegenden
Falle (vgl. BGE 71 IV 93 Erw. 4; THORMANN/OVERBECK, N. 6 zu Art. 141
und N. 5 zu Art. 332 StGB).

Erwägung 2

    2.- War somit bei Verneinung einer Fundunterschlagung zunächst offen,
ob immerhin eine Übertretung im Sinne von Art. 332 StGB begangen worden
sei, so hat die Vorinstanz nun aber übersehen, dass nur die vorsätzliche
Unterlassung der Fundanzeige bestraft wird (vgl. THORMANN/OVERBECK, N. 4,
und LOGOZ, N. 2 zu Art. 332 StGB). Dieser Vorsatz muss den Tatbestand
der Nichtanzeige eines Fundes im Sinne von Art. 720 Abs. 2 und Art. 725
Abs. 1 ZGB umfassen. Er ist nicht gegeben, wenn der Beschuldigte
vermeintlich keine "verlorene" Sache vor sich hat (was dem Begriff des
Fundes nach ZGB wesentlich ist, wie aus Art. 720 Abs. 1 hervorgeht; die
den Bestimmungen über den Fund unterstellte "Zuführung" nach Art. 725
Abs. 1 ZGB fällt hier ausser Betracht). Verloren ist aber eine Sache
nur, wenn sich der Eigentümer des Gewahrsams nicht entäussert hat in
der Absicht, sein Eigentum aufzugeben (vgl. die Erläuterungen zum VE des
ZGB, S. 122/23 der 2. Ausgabe: "Als verloren hat jemand eine gefundene
Sache zu betrachten, wenn er vernünftigerweise annehmen muss, dass sie
einen Eigentümer habe und nicht mit Absicht weggeworfen worden sei";
BGE 59 II 143). Nach Feststellung der Vorinstanz, die eine - innere -
Tatsache betrifft und für das Bundesgericht verbindlich ist, hat nun der
Beschwerdeführer gerade das angenommen, was das Vorliegen einer verlorenen
Sache ausschliesst: der Jutesack samt Inhalt sei von Hunziker absichtlich
vor dem Hause stehen gelassen und für die Kehrichtabfuhr bereitgestellt
worden. Da er die behändigten Sachen nicht als verlorene (fremde),
sondern als vom bisherigen Eigentümer aufgegebene (und damit herrenlos
gewordene) betrachtete, unterliess er nicht vorsätzlich die Anzeige
eines Fundes im Rechtssinne. Jene Annahme erwies sich freilich später als
irrtümlich. Dieser Irrtum über den Sachverhalt ist dem Beschwerdeführer
aber zugute zu halten (Art. 19 StGB; BGE 82 IV 202; über den "Willensinhalt
des verbrecherischen Vorsatzes" vgl. auch GERMANN, Das Verbrechen im neuen
Strafrecht, S. 28/29). Mangels subjektiven Tatbestandes ist daher die in
Frage stehende Übertretung ebenso zu verneinen wie die Fundunterschlagung.

    Ungeprüft kann bleiben, ob sich der Beschwerdeführer trotz gutgläubiger
Aneignung der Sachen erst nachträglich in strafbarer Weise gegen die
Anzeigepflicht nach Art. 720 Abs. 2 ZGB vergangen haben könnte, dann
nämlich, wenn er nach Kenntnis des wahren Sachverhaltes absichtlich
keine Anzeige erstattet hätte. Beim tatsächlichen Ablauf der Ereignisse
bestand zu nachträglicher Anzeige keine Veranlassung, da Hunziker auf
anderem Wege vom Schicksal des versehentlich zurückgelassenen Schuhwerks
erfahren und die Polizei benachrichtigt hatte, worauf er die Sachen denn
auch zurückerhielt.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Amtsgerichts Luzern-Stadt vom 30. April 1959, soweit die Verurteilung
wegen Nichtanzeigens eines Fundes betreffend, in Haupt- und Kostenpunkt
aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an das
Amtsgericht Luzern-Stadt zurückgewiesen.