Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 IV 115



85 IV 115

29. Urteil des Kassationshofes vom 12. Juni 1959 i.S. Meier gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen. Regeste

    Art. 272 Abs. 2 BStP. Kann der kantonale Entscheid dem Empfänger durch
die Post nicht zugestellt werden und wird er trotz der hinterlassenen
Einladung auf der Post auch nicht abgeholt, so beginnt die Frist zur
Begründung der Beschwerde am letzten Tag der auf der Einladung angesetzten
viertägigen Frist zu laufen.

Sachverhalt

    Am 20. März 1959 verurteilte das Obergericht des Kantons Schaffhausen
Meier zu einer Gefängnisstrafe. Gegen das Urteil, das mündlich eröffnet
wurde, erklärte der Verurteilte am 26. März die Nichtigkeitsbeschwerde
an den Kassationshof des Bundesgerichts.

    Die Urteilsausfertigung wurde als Gerichtsurkunde eingeschrieben
an die Wohnadresse Meiers gesandt, konnte ihm aber am 23. April 1959,
als der Postbote zwei Zustellungsversuche unternahm, nicht abgegeben
werden. Da die Sendung trotz der hinterlassenen Einladung (Avis) auch
nicht innert vier Tagen auf der Post abgeholt wurde, ging sie am 28. April
an das Obergericht zurück, welches nach unbenütztem Ablauf der Frist zur
Beschwerdebegründung die Akten an das Bundesgericht weiterleitete.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    Nach Art. 272 Abs. 2 BStP ist die angemeldete Nichtigkeitsbeschwerde
innert zwanzig Tagen seit der Zustellung der schriftlichen Ausfertigung
des Entscheides zu begründen. In welcher Form der kantonale Entscheid
zuzustellen ist, bestimmt das kantonale Recht, und wann die Zustellung
als vorgenommen zu gelten hat, das Bundesrecht. Nach der Rechtsprechung
ist sie im Falle des erfolglosen Zustellungsversuches durch die Post
nicht schon mit dem Einwurf der Abholungseinladung in den Briefkasten
vollzogen, sondern erst mit der tatsächlichen Abholung der Sendung auf der
Post (BGE 80 IV 204). Wird sie nicht abgeholt, ist davon auszugehen, die
Zustellung sei am letzten Tag der auf der Abholungseinladung angesetzten
viertägigen Frist erfolgt (vgl. Art. 104 Abs. 2 der Vollziehungsverordnung
I vom 23. Dezember 1955 zum Postverkehrsgesetz). In der Regel erhält der
Empfänger von der Anzeige rechtzeitig Kenntnis, und normalerweise hat
er die Möglichkeit, die Sendung innerhalb der Frist am Postschalter
abzuholen. Macht er von der Einladung keinen Gebrauch, so ist die
Unterlassung regelmässig auf Gründe zurückzuführen, die er selbst zu
vertreten hat, so dass sie einer Verweigerung der Annahme gleichzusetzen
ist. Würde die Rechtsmittelfrist nicht am letzten dieser vier Tage zu
laufen beginnen, müsste die beim Kassationshof mit der Anmeldung der
Beschwerde anhängig gemachte Sache auf unbestimmte Zeit unerledigt bleiben,
jedenfalls solange, als nicht feststünde, dass der Beschwerdeführer doch
noch in den Besitz des kantonalen Entscheides gelangt wäre. Zudem hinge
der Beginn der Frist zur Beschwerdebegründung von unsicheren äusseren und
von persönlichen Umständen des Beschwerdeführers ab, eine Folge, die sich
mit dem Wesen einer gesetzlichen Rechtsmittelfrist schwer vertrüge.

    Nach Art. 35 OG kann die Partei, die durch Abwesenheit oder ein
anderes unverschuldetes Hindernis von der rechtzeitigen Abholung des
Entscheides auf der Post abgehalten worden ist und deshalb die Frist zur
Begründung der Beschwerde versäumt hat, binnen zehn Tagen nach Wegfall
des Hindernisses unter Angabe desselben die Wiederherstellung der Frist
verlangen und die versäumte Rechtshandlung nachholen. Meier hat weder ein
solches Gesuch gestellt noch eine Beschwerdebegründung eingereicht. Dafür,
dass er die Einladung zum Abholen des Entscheides nicht erhalten habe,
liegen keine Anhaltspunkte vor. Es kann daher offen bleiben, ob dann,
wenn dieser Ausnahmefall zuträfe, die Bestimmung des Art. 35 OG über die
Wiederherstellung anwendbar wäre oder ob angenommen werden müsste, die
Frist des Art. 272 Abs. 2 BStP werde erst mit dem Wegfall des Hindernisses,
d.h. dadurch in Gang gesetzt, dass der Beschwerdeführer von der versuchten
Zustellung des Entscheides Kenntnis erhält (vgl. BGE 83 III 97).

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Auf die Nichtigkeitsbeschwerde wird nicht eingetreten.