Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 II 57



85 II 57

12. Urteil der II. Zivilabteilung vom 24. März 1959 i.S. Eheleute L.
Regeste

    Ehescheidung, Einrede der abgeurteilten Sache. Wann ist der im
zweiten Prozess eingeklagte Scheidungsanspruch mit dem im ersten Prozess
abgewiesenen identisch, und wann ist er von ihm verschieden?

Sachverhalt

    A.- Die Parteien heirateten einander am 19. Mai 1931.  Aus ihrer
Ehe gingen drei Söhne hervor, von denen zwei heute volljährig sind. Der
Ehemann ist Obstbauberater und besitzt seit 1936 ein landwirtschaftliches
Gewerbe, wo er Obstbauversuche durchführt.

    B.- Im Oktober 1955 wandte sich der Ehemann an den Eheschutzrichter,
weil die Ehefrau ihn überall "verschimpfe", grundlos eifersüchtig
sei und zuviel Geld brauche. Auf Rat des Eheschutzrichters liess er
die Ehefrau durch Dr. F. psychiatrisch untersuchen. Gestützt auf ein
Einweisungszeugnis dieses Arztes, der bereits am 27. November 1955 dem
Gerichtspräsidenten einen Bericht abgegeben hatte, wurde die Ehefrau am 1.
Juni 1956 zwangsweise in die Anstalt Hohenegg verbracht, weil sie an
paranoider Schizophrenie leide. Seither leben die Parteien getrennt. Als
die Ehefrau Ende November 1956 aus der Anstalt Hohenegg entlassen wurde,
weigerte sich der Ehemann, sie wieder bei sich aufzunehmen. Am 9. Januar
1957 leitete er gegen sie Klage ein mit dem Begehren, die Ehe sei gemäss
Art. 141 und 142 ZGB zu scheiden. Nachdem der Leiter der Anstalt Hohenegg
in seinem Gutachten vom 28. Mai 1957 das Vorliegen einer Geisteskrankheit
verneint und Dr. F. dieser Schlussfolgerung in einem Bericht vom
31. Mai 1957 zugestimmt hatte, berief sich der Ehemann nur noch auf den
Scheidungsgrund der tiefen Zerrüttung. Mit Urteil vom 10. Juli 1957 wies
das Bezirksgericht die Klage gemäss Antrag der Ehefrau ab. Der Ehemann
appellierte am 19. August 1957 an das Obergericht, führte dann aber das
Appellationsverfahren nicht weiter, so dass das Urteil vom 10. Juli 1957
rechtskräftig wurde.

    C.- Am 4. Dezember 1957 klagte der Ehemann neuerdings auf
Scheidung. Die Beklagte erhob die Einrede der abgeurteilten Sache. Nach
Durchführung eines Beweisverfahrens erkannte das Bezirksgericht am
4. Juni 1958, diese Einrede sei begründet und auf die Klage werde nicht
eingetreten. Das Obergericht hat diesen Entscheid am 23. Oktober 1958
bestätigt.

    D.- Mit seiner Berufung an das Bundesgericht beantragt der Kläger,
die Einrede der abgeurteilten Sache sei abzuweisen und der Prozess zu
neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab und bestätigt das angefochtene
Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Kläger ficht den die Einrede der abgeurteilten Sache
gutheissenden Entscheid der Vorinstanz nicht etwa deswegen an, weil das
kantonale Prozessrecht diese Einrede nicht zulasse, sondern deswegen,
weil die Vorinstanz zu Unrecht angenommen habe, der im zweiten Prozess
eingeklagte Scheidungsanspruch sei mit dem im ersten Prozess geltend
gemachten identisch. Damit behauptet er eine Bundesrechtsverletzung,
die mit der Berufung an das Bundesgericht gerügt werden kann (vgl. BGE
78 II 401 ff. und dortige Hinweise; 80 I 261, 81 II 146/47, 83 II 267).

Erwägung 2

    2.- Bei Beurteilung der Frage, ob man es im ersten und im zweiten
Prozess mit dem gleichen Scheidungsanspruch zu tun habe oder nicht, kommt
es darauf an, welche Tatsachen in den beiden Prozessen zur Begründung
der Klage vorgebracht worden sind. Welche gesetzlichen Bestimmungen der
Kläger angerufen hat, ist für die Beurteilung dieser Frage nicht erheblich.
Ebensowenig ist von Bedeutung, wieweit die vom Kläger angerufenen Tatsachen
im ersten Prozess als bewiesen betrachtet worden sind. Beschränkt sich
der Kläger darauf, schon im ersten Prozess vorgebrachte, aber damals
vom Gericht als unbewiesen erachtete Tatsachen wiederum vorzubringen und
dafür neue Beweismittel zu nennen oder eine neue Würdigung der im ersten
Prozess angebotenen Beweise zu verlangen, oder macht er gar nur geltend,
die im ersten Prozess als bewiesen betrachteten Tatsachen seien damals
rechtlich nicht richtig beurteilt worden, so bleibt der im zweiten Prozess
eingeklagte Scheidungsanspruch der gleiche wie der durch das Urteil im
ersten Prozess abgewiesene (vgl. BGE 78 II 404/05).

    Sobald dagegen im zweiten Prozess zur Begründung der Klage erhebliche
Tatsachen vorgebracht werden, die im ersten Prozess noch nicht geltend
gemacht worden sind, hat der zweite Prozess nicht mehr den gleichen
Scheidungsanspruch zum Gegenstand wie der erste. Die neu vorgebrachten
Tatsachen sind erheblich, wenn sie für sich allein oder zusammen mit den
schon früher angerufenen Tatsachen zur Begründung des Scheidungsbegehrens
tauglich sind (vgl. BGE 78 II 403).

    Es kann sich dabei, wie im eben erwähnten Entscheid ausgeführt,
sowohl um erst nach Abschluss des ersten Prozesses eingetretene als auch
um schon früher vorhanden und bekannt gewesene, aber in jenem Prozess aus
irgendwelchen Gründen (zumal zwecks Schonung des Gegners) nicht geltend
gemachte Tatsachen handeln (gleicher Auffassung BÜRKLI, Rechtskraftprobleme
in Eheprozessen, 1952, S. 37, und BÜHLER, ZSR 1955 S. 430a ff.,
mit weitern Hinweisen). Wenn LEUCH findet, die Berücksichtigung von
Tatsachen, die im früheren Prozess dem Richter "vorenthalten" wurden,
sei mit dem Rechtskraftbegriff unvereinbar (Die ZPO für den Kanton Bern,
3. Aufl. 1956, N. 11 d zu Art. 192, S. 215; vgl. auch ZSR 1955 S. 672 a),
so kann ihm nicht zugestimmt werden. Die materielle Rechtskraft eines
Urteils, das eine Scheidungsklage abweist, bedeutet nur, dass der durch
dieses Urteil als unbegründet erklärte Scheidungsanspruch nicht nochmals
gerichtlich geltend gemacht werden kann, und dieser Anspruch wird eben
durch die Tatsachen individualisiert, die zu seiner Begründung wirklich
angeführt wurden, nicht durch die Gesamtheit der Tatsachen, die zu diesem
Zweck geltend gemacht werden konnten. Wenn in Deutschland eine andere
Ordnung gilt, so kraft der positiven Vorschrift von § 616 der deutschen
ZPO, wonach der mit einer Scheidungsklage abgewiesene Kläger das Recht,
die Scheidung zu verlangen, nicht mehr auf Tatsachen gründen kann, welche
er im frühern Rechtsstreit geltend gemacht hat "oder welche er in dem
frühern Rechtsstreit ... geltend machen konnte.". Diese Bestimmung hat
im schweizerischen Recht kein Gegenstück (vgl. BÜRKLI S. 31). Was sie
vorschreibt, lässt sich auch nicht etwa aus allgemeinen Grundsätzen des
schweizerischen Scheidungsverfahrensrechts ableiten. Der durch sie bewirkte
Zwang, zur Begründung einer Scheidungsklage bei Gefahr der Verwirkung alle
bekannten Tatsachen vorzubringen, die sich zu diesem Zwecke eignen, steht
vielmehr, wie in BGE 78 II 404 dargelegt, mit den Bestrebungen des ZGB im
Widerspruch, da er zu einer unnötigen und unerwünschten Verschärfung des
Scheidungsstreites führen kann. An dem in BGE 78 II 403 f. aufgestellten
Grundsatze, dass Identität der Scheidungsansprüche nicht angenommen werden
darf, wenn im zweiten Prozess vor dem frühern Urteil eingetretene Tatsachen
neu vorgebracht werden, ist daher festzuhalten.

    Als neue erhebliche Tatsache kann aber auch der Umstand in Betracht
kommen, dass ein Sachverhalt, der im ersten Prozess als Zerrüttungsursache
geltend gemacht, aber vom Gericht nicht als ehezerstörend angesehen worden
war, nach der Erledigung des ersten Prozesses trotz ehrlichem Bemühen
der Parteien, darüber hinwegzukommen, das eheliche Verhältnis weiterhin
ungünstig beeinflusst hat, und zwar in solchem Masse, dass den Parteien
nunmehr die Fortsetzung der Ehe nicht mehr zugemutet werden kann. Insoweit
ist der von STOCKER (SJZ 1951 S. 18) angeführten Praxis des zürcherischen
Obergerichts bezüglich der Berücksichtigung von Nachwirkungen früherer
Ereignisse (ZR 1949 Nr. 60 S. 103) beizupflichten (vgl. auch BÜHLER S. 434
a), während nicht als Grundsatz anerkannt werden kann, was STOCKER (aaO)
als voraussichtliche praktische Folge dieser Praxis bezeichnet hat:
dass die Einrede der abgeurteilten Sache in Scheidungssachen nur noch
dann Erfolg haben könne, "wenn ein neuer Scheidungsprozess in geradezu
rechtsmissbräuchlicher Weise kurz nach Abschluss eines frühern angehoben
wird."

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Falle hat der Kläger im zweiten Prozess keinerlei
nach Abschluss des ersten eingetretene Tatsachen geltend gemacht,
die für sich allein oder neben früher eingetretenen zur Begründung
seines Scheidungsbegehrens dienen könnten. Er behauptet insbesondere
nicht etwa (und kann offenbar auch nicht behaupten), dass die Beklagte
seit der Abweisung der ersten Scheidungsklage fortgefahren habe, ihn
zu "verschimpfen", oder dass ein ernsthafter Versuch, die eheliche
Gemeinschaft wieder aufzunehmen, infolge der Nachwirkung früherer
Ereignisse, über die er bei bestem Willen nicht habe hinwegkommen können,
oder aus andern Gründen gescheitert sei.

    Die vor Beurteilung des ersten Prozesses eingetretenen Tatsachen, die
der Kläger zur Begründung seiner heutigen zweiten Klage anruft, werden
heute nicht zum ersten Mal geltend gemacht. Schon im frühern Prozess
hat der Kläger die Beklagte beschuldigt, sie habe ihn seit Jahren bei
Dritten schlecht gemacht, indem sie in lügenhafter Weise behauptet habe,
er gehe mit andern Weibern, "hühnere" und saufe herum, komme selten vor
nachts 12 Uhr heim und habe mit andern Frauen übernachtet; in dieser
gemeinen Weise habe ihn die Beklagte nicht nur bei Verwandten, Pfarrer,
Lehrer und Eheberater angeschwärzt, sondern auch bei seinem nächsten
Vorgesetzten, seinen nächsten Mitarbeitern und sogar bei Vertretern
chemischer Fabriken und an den Orten, wo er Kurse und Vorträge zu halten
gehabt habe; sie habe ihn überall verunglimpft und ihm nachgeforscht
(vgl. die zutreffende Wiedergabe seiner einzelnen Vorbringen in der
Berufungsantwort). Die Begründung der zweiten Klage erschöpft sich im
wesentlichen in einer Wiederholung dieser Beschuldigungen. Da sich
der Kläger im ersten Prozess nicht mit dem allgemeinen Vorwurf des
"Verschimpfens" bei Dritten begnügt, sondern damals schon im wesentlichen
die gleichen Angaben wie heute darüber gemacht hatte, in welchem Sinne,
in welchen Kreisen, seit wie lange, wie häufig und wie intensiv die
Beklagte ihn verleumdet habe, kann ihm nicht etwa zugebilligt werden,
er habe damit, dass er im zweiten Prozess zum Nachweis des der Beklagten
vorgeworfenen Verhaltens ausser den bereits früher genannten noch einige
weitere Zeugen anrief, implicite neue erhebliche Tatsachen geltend gemacht,
d.h. die neue Behauptung aufgestellt, das "Verschimpfen" sei wesentlich
weiter gegangen als im ersten Prozesse behauptet.

    Waren die im zweiten Prozess gegen die Beklagte erhobenen
Beschuldigungen nicht neu, so bedurfte es auch keiner Beweiserhebungen
darüber, um abzuklären, ob der im zweiten Prozess eingeklagte
Scheidungsanspruch von dem im ersten Prozess geltend gemachten verschieden
sei oder nicht. Wenn das Beweisverfahren, welches das Bezirksgericht
im zweiten Prozess vor Erhebung der Einrede der abgeurteilten Sache
durchführte, die Behauptungen des Klägers in weiterm Umfang bestätigte,
als die im ersten Prozess erfolgte Beweisaufnahme dies nach den
Feststellungen im ersten Urteil zu tun vermochte, so ist dieser Umstand
für die Beurteilung der erwähnten Einrede unerheblich, weil es hiebei
entgegen der Ansicht des Klägers eben nur darauf ankommt, welche Tatsachen
im einen und andern Prozess behauptet worden sind. Aus dem gleichen Grunde
käme auch nichts darauf an, wenn die Beklagte im zweiten Prozess Tatsachen
zugegeben haben sollte, die sie im ersten Prozess bestritten und die das
Gericht damals als unbewiesen erachtet hatte.

    An der Identität der beiden Scheidungsansprüche ändert nichts, dass
der Kläger im zweiten Prozess neben Art. 142 ZGB auch noch Art. 138 ZGB
angerufen hat. Ebenso wäre unerheblich, wenn der Kläger, wie er heute
dartun will, das der Beklagten vorgeworfene Verhalten im ersten Prozess
lediglich als Äusserung einer Geisteskrankheit im Sinne von Art. 141 ZGB
oder eventuell als objektive Ursache der tiefen Zerrüttung im Sinne von
Art. 142 ZGB geltend gemacht und es erst im zweiten Prozess als schuldhaft
qualifiziert hätte (was übrigens nicht stimmt).

    Dem Kläger kann auch nicht helfen, dass er im zweiten Prozess geltend
gemacht hat, der Ortsvorsteher S. und weitere Personen hätten den von
der Beklagten im ersten Prozess vorgelegten Unterschriftenbogen nur auf
Drängen einiger Frauen hin bezw. aus Gefälligkeit unterschrieben und die
Zeugin B., die im ersten Prozess zu seinen Ungunsten ausgesagt hatte,
sei unzuverlässig. Damit hat der Kläger keine für die Anwendung des
Scheidungsrechts erheblichen neuen Tatsachen vorgebracht. Vielmehr handelt
es sich hier nur um Einwendungen gegen die Beweiskraft von Beweismitteln,
welche die Beklagte im ersten Prozess verwendet hatte.

    Von Geltendmachung neuer erheblicher Tatsachen durch den Kläger
könnte schliesslich auch dann nicht die Rede sein, wenn sich aus den im
zweiten Prozess durchgeführten Zeugenvernehmungen ergeben hätte, dass der
Charakter des Klägers einwandfrei sei und dieser sich vor Dritten nicht
ungünstig über die Beklagte geäussert habe, und wenn es aus diesem Grunde
ungerechtfertigt wäre, dass das Bezirksgericht ihn im ersten Urteil als
herrisch bezeichnete und annahm, er habe sich in einen krankhaften Hass
gegen die Beklagte hineingesteigert und nach Gründen gesucht, um die Ehe
unter allen Umständen zu lösen (welche Feststellungen übrigens durch den
Nachweis korrekten Verhaltens im Beruf und in der Öffentlichkeit nicht
widerlegt werden könnten).

    Was der Kläger im zweiten Prozess vorgebracht hat, hätte demnach
höchstens zur Begründung einer Appellation gegen das frühere Urteil
oder allenfalls eines Revisionsgesuchs getaugt, lässt dagegen den heute
streitigen Scheidungsanspruch nicht als vom früher eingeklagten verschieden
erscheinen.