Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 II 305



85 II 305

50. Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. Oktober 1959 i.S. V. gegen
L. und V. Regeste

    Anfechtung der Ehelichkeit, Art. 253 ff. ZGB.

    Notgerichtsstand für Ausländer in der Schweiz (über Art.  8 NAG hinaus)
beim Fehlen eines Heimatgerichtsstandes ist jedenfalls dann nicht gegeben,
wenn in der Heimat wegen Klagefristversäumnis nicht (mehr) geklagt werden
kann und die Versäumnis in der Schweiz nicht als wichtiger Grund gemäss
Art. 257 Abs. 3 ZGB berücksichtigt werden könnte.

Sachverhalt

    A.- Der in Zürich wohnhafte italienische Staatsangehörige Luigi
V. wurde am 12. Februar 1957 durch das Bezirksgericht Zürich von seiner
Ehefrau Rosa geb. L., die vor Klageanhebung das Schweizerbürgerrecht
wieder erworben hatte, geschieden. Im Scheidungsprozess gab die Frau
zu, seit August 1956 (d.h. nach Einleitung des Prozesses) die Ehe
gebrochen zu haben. Von einer damals bestehenden Schwangerschaft der
Frau war jedoch nicht die Rede, so dass sich das Scheidungsurteil nur
mit dem 1953 geborenen Knaben Luigi befasste - im Sinne der Zuteilung
an den Vater. Am 7. Juni 1957 kam dann das Kind Anita zur Welt, was -
da das Kind gemäss Art. 252 Abs. 1 ZGB als eheliches galt - zu einem
Ergänzungsurteil betr. Kinderzuteilung führte.

    Der gesetzliche Vater V. war überzeugt, dass das Kind nicht von ihm
stamme, und die Mutter bestätigte ihm dies. Er entschloss sich daher kurz
nach der Geburt, im Juni/Juli 1957, die Ehelichkeit des Kindes anzufechten,
und zwar - offenbar auf den Rat seines zürcherischen Anwaltes - gemäss
Art. 8 NAG in Italien und nach dortigem Recht (Art. 244 C.c.it.). Er
liess sich durch das italienische Generalkonsulat in Zürich einen Anwalt
in Varese, avv. Lino Oldrini, vermitteln, der das Mandat zu übernehmen
bereit war. V. schickte ihm das Scheidungsurteil und Instruktionen
und suchte ihn auch, als er lange nichts mehr hörte, im Februar 1958 in
Varese auf. Avv. Oldrini bestätigte ihm am 14. Februar 1958 schriftlich,
dass er das Mandat führe und die Sache unverzüglich in Varese anhängig
mache. Als dann wieder monatelang kein Bericht kam, erkundigte sich der
Zürcher Anwalt des V. am 12. August 1958 bei dem Kollegen in Varese, ob die
Klage fristgerecht eingereicht worden sei und ob der Kläger in Italien im
Armenrecht prozessieren könne. Oldrini antwortete am 16. September 1958
u.a., es habe lange gedauert, bis er genügende Instruktionen erhalten
habe, und es sei auch jetzt noch, entgegen der mit dem Kläger getroffenen
Abmachung, weder Vollmacht noch Vorschuss eingegangen. Die Erwirkung des
Armenrechts sei möglich, brauche aber viel Zeit, und einstweilen müsse der
Kläger die Kosten selber vorschiessen; das Armenrechtsgesuch unterbreche
die Frist für die Anfechtungsklage (drei Monate seit Kenntnis von der
Geburt) nicht. Er, Oldrini, stehe weiterhin für die Einreichung der
"eventuale domanda" zur Verfügung.

    In der Annahme, das Klagerecht in Italien sei wegen Ablaufs der
dreimonatigen Klagefrist (Art. 244 C.c.it.) verwirkt, liess sich V. (bzw.
sein Zürcher Anwalt) zunächst den Brief Oldrinis vom 16. September 1958
übersetzen und erhielt nach seiner Darstellung den deutschen Text am 26.
September 1958.

    Am 15. November 1958 reichte er beim Bezirksgericht Zürich die
Anfechtungsklage nach Art. 253 ff. ZGB ein, mit der Begründung,
nach zürcherischer Praxis (BlZR 47 Nr. 67) könne ein in der Schweiz
niedergelassener Italiener diese Klage beim schweizerischen Richter am
Wohnsitz der Mutter z.Zt. der Niederkunft (in casu Zürich) anbringen. Für
die Verspätung der Klageeinleitung könne er wichtige Gründe im Sinne
von Art. 257 Abs. 3 ZGB anführen, die er in der mündlichen Verhandlung
nennen werde; er verweise einstweilen auf EGGER N. 2 zu Art. 257 (wo als
wichtiger Grund u.a. die Fristversäumnis durch den Anwalt genannt ist).

    B.- Das Bezirksgericht Zürich wies die Klage - ohne Durchführung einer
mündlichen Parteiverhandlung - mangels örtlicher Zuständigkeit von der
Hand, mit der Begründung, das Zürcher Obergericht sei von seiner früheren
Praxis, für Anfechtungsklagen von Ausländern über Art. 8 NAG hinaus
die Zuständigkeit des schweizerischen Richters schon dann zu bejahen,
wenn der Heimatstaat nicht die ausschliessliche Gerichtsbarkeit für sich
beanspruche, wieder ab- und zur strengen, vom Bundesgericht vertretenen
Auslegung des Art. 8 NAG zurückgekommen (BlZR 1956 Nr. 100; 1958 Nr. 62;
SCHNITZER, Handbuch IPR 4. Aufl. 1957 Bd. I S. 452). Von diesem Grundsatz
der Unzuständigkeit schweizerischer Gerichte für Statusklagen von
Ausländern werde nur beim gänzlichen Fehlen eines Heimatgerichtsstandes
eine Ausnahme gemacht und ein sog. schweizerischer Notgerichtsstand
zugelassen. Dieser könne hier aber nicht bejaht werden, da Italien einen
eigenen Gerichtsstand für Anfechtungsklagen anerkenne. Wollte man dennoch
die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts bejahen, so müsste dieses das
materielle italienische Recht anwenden, dessen Art. 244 C.c.it. eine
verspätete Klage aus wichtigen Gründen (analog Art. 257 Abs. 3 ZGB)
nicht kenne, sodass die Klage verwirkt wäre, weshalb auch aus diesem
Grunde nicht darauf eingetreten werden könnte.

    C.- In seinem Rekurs an das Obergericht machte der Kläger geltend,
nach seiner Auffassung habe einzig der Anwalt in Varese die Verwirkung des
Klagerechts in Italien verschuldet. Das bilde nach schweiz. Praxis (EGGER
1.c.) einen wichtigen Grund im Sinne von Art. 257 Abs. 3 ZGB. Da das
italienische Recht eine Fristverlängerung aus solchen Gründen nicht kenne,
wäre der Kläger einer Rechtsverweigerung ausgesetzt, wenn ihm nicht ein
schweizerischer Notgerichtsstand zur Verfügung gestellt würde.

    Mit Urteil vom 1. Mai 1959 hat das Obergericht den Rekurs
abgewiesen. Was den Stand der Lehre und Rechtsprechung hinsichtlich der
Zuständigkeit schweizerischer Gerichte für Statusklagen von Ausländern
betrifft, bestätigt es die Ausführungen des Bezirksgerichts. Was
sodann der Kläger in der Rekursschrift vorbringe, sei nicht geeignet,
im vorliegenden Falle zur Annahme eines Notgerichtsstandes über Art. 8
NAG hinaus zu führen. Diese Ausnahme von Art. 8 NAG rechtfertige sich
nur dann, wenn ein anderer Gerichtsstand, auch in der Heimat, überhaupt
nicht bestehe. Nun aber habe Italien einen eigenen Gerichtsstand für
solche Klagen seiner Staatsangehörigen. Dass die Klage in Italien
versäumt worden sei, das italienische Recht eine mit wichtigen Gründen
entschuldigte verspätete Anfechtung (analog Art. 257 Abs. 3 ZGB) nicht
zulasse, und deshalb in Italien keine Klage mehr möglich sei, vermöge ein
Abweichen von der gesetzlichen Regelung nicht zu begründen. Wollte man
die Versäumung der Klagefrist im Heimatstaat als zureichenden Grund zur
Herstellung des schweizerischen Gerichtsstandes zulassen, so läge es im
freien Belieben der klagenden Partei, statt der heimatlichen die Gerichte
des Wohnsitzstaates anzurufen. Dass die Frist ohne Verschulden verpasst
worden sei, könne u.U. als Restitutionsgrund von Bedeutung sein, nicht aber
auf dem Gebiete der Abgrenzung in- und ausländischer Gerichtsbarkeit. Ohne
Belang wäre das Einverständnis der Vertretung des beklagten Kindes, sich
in Zürich und auf schweizerisches Recht einzulassen; denn die Bestimmung
des Art. 8 NAG könne nicht durch Parteivereinbarung ausgeschaltet werden.

    D.- Mit der vorliegenden Berufung hält der Kläger daran fest, das
Bezirksgericht Zürich sei zum Eintreten auf die Klage zu verhalten.

    Die beklagte Mutter hat die Berufungsschrift nicht in Empfang genommen.
Namens des beklagten Kindes beantragt der Amtsvormund Abweisung der
Berufung.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Berufungskläger geht davon aus, dass nach italienischem Recht
der Klageanspruch endgültig verwirkt ist, und begründet sein Begehren
um Bejahung eines Notgerichtsstandes in der Schweiz einzig damit, dass
hier beim Vorliegen wichtiger Gründe gemäss Art. 257 Abs. 3 ZGB das
Klagerecht noch gegeben sei. Nur wenn dies zuträfe, wäre somit zu prüfen,
ob sich aus diesem besonderen, in Italien nicht bestehenden Klagerecht
ein schweizerischer Notgerichtsstand ableiten liesse.

    An dieser Voraussetzung fehlt es indessen hier offensichtlich. Der
Kläger scheint aus der zit. Kommentarstelle (EGGER zu Art. 257 N. 2) zu
schliessen, dass "Fristversäumnis durch den Rechtsanwalt" schlechthin
einen wichtigen Grund im Sinne von Abs. 3 dieses Artikels bilde. Dies
trifft jedoch keineswegs zu. Wohl hat das Bundesgericht immer angenommen,
dass in der Zulassung der Entschuldigung gemäss Art. 257 Abs. 3 ZGB
Weitherzigkeit am Platze sei, soweit sich aus den die Ausübung des
Anfechtungsrechts komplizierenden Momenten, namentlich der Schwierigkeit
der Gerichtsstandsbestimmung im internationalen Verhältnis, ein Zeitverlust
ergibt (Urteil vom 12. Oktober 1951 i.S. Imoberdorf, nicht publ.). Es kann
aber nicht der Sinn des Gesetzes ein, dass die reguläre Klageverwirkung
auch dann nicht eintrete, wenn ein Anwalt die Frist grobfahrrlässig
oder gar wissentlich verpasst hat. Das wäre ein unhaltbarer Einbruch in
die materiellen und prozessualen Normen über die Stellvertretung. Das
Bundesgericht hat in einem die gleiche Frist des Art. 253 ZGB betreffenden
Urteil entschieden, grundsätzlich müssten Fehler eines Dritten, den der
Kläger mit der Ausübung des Anfechtungsrechtes in seinem Namen betraut
habe, ebenso beachtet werden, wie wenn der Kläger die Rechtsausübung
selber an die Hand genommen und dabei den gleichen Fehler begangen
hätte. In jenem Falle sei die Versäumung der zufolge Art. 253 ZGB
verkürzten Klagebewilligungsfrist gemäss (dem unlängst eingeführten)
Art. 153 Abs. 4 der bern. ZPO aber ein Fehler, der, wenn vom Kläger
selbst begangen, zweifellos entschuldbar wäre. Es wäre, unter dem
Gesichtspunkt des Art. 257 Abs. 3 ZGB betrachtet, eine stossende Härte,
das Anfechtungsrecht an einem Fehler (des Vertreters) scheitern zu lassen,
der dem Kläger bei eigenem Vorgehen nicht als Verschulden zuzurechnen wäre
(Urteil vom 10. Oktober 1958 i.S. Rüfenacht, nicht publ.).

    Vorliegend kann nun offenbar von einem solchen verzeihlichen Fehler,
etwa von einem verständlichen Rechtsirrtum wie im zit. Falle, nicht
die Rede sein. Nach der Darstellung des Klägers hätte der Advokat in
Varese die Klageeinleitung einfach aus Nachlässigkeit versäumt. Nach des
letztern Briefe vom 16. September 1958 dagegen hätte er nicht gehandelt,
weil der Kläger vereinbarungswidrig die Kosten (auch den notwendigen
Gerichtskostenvorschuss) nicht deckte, und nicht handeln können, weil
die verlangte Vollmacht ausblieb. Wieimmer essichdamitverhalten mag,
so bleiben nur die drei Möglichkeiten, dass entweder der Vareser Anwalt
oder der Kläger selbst oder beide zusammen aus blosser Nachlässigkeit
die Klagefrist in Italien versäumt und damit die Verwirkung des dortigen
Klagerechts, falls sie endgültig eingetreten ist, herbeigeführt haben.

    Der Kläger beruft sich allerdings darauf, er habe Beweis dafür
offeriert, dass die Frist ohne sein Verschulden verpasst worden sei. Es
stellt sich somit die Frage, ob die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen
sei, damit zuerst sie diese Beweise - und gestützt darauf das Bestehen
eines "wichtigen Grundes" gemäss Art. 257 Abs. 3 ZGB - prüfe. Allein der
Kläger nennt als solchen Beweis nur "die Gerichtsakten". Diese liegen vor,
und aus ihnen ergibt sich der vorstehende Sachverhalt. Dass der Kläger etwa
beweisen wollte und könnte, es liege sowohl bei ihm als auch bei Advokat
Oldrini ein verzeihlicher Fehler vor, der die nachträgliche Zulassung
der Klage rechtfertigen würde, erscheint nach seiner eigenen Darstellung
ausgeschlossen. Eine Rückweisung an die Vorinstanz erübrigt sich daher.

Erwägung 2

    2.- Dazu kommt nun, dass, selbst wenn noch wichtige Gründe ein
nachträgliches Klagerecht gemäss Art. 257 Abs. 3 ZGB begründet hätten,
dieses mangels rechtzeitiger Ausübung wiederum verwirkt wäre. Diese
Ausnahmebestimmung setzt, anders als Abs. 2 im Falle der Arglist, nicht
eine neue dreimonatige Frist in Gang, sondern es muss nach Erkenntnis
und Wegfall der wichtigen Gründe die Klage mit aller nach den Umständen
möglichen Beschleunigung erhoben werden (BGE 55 II 13, 71 II 262, 83 II
176 je oben).

    Vorliegend wird die Kenntnis der wichtigen Gründe (nämlich der
Fristverwirkung in Italien) aus dem Brief Oldrinis vom 16. September 1958
abgeleitet, der dem Zürcher Anwalt des Klägers am 18. September 1958
zuging. Dieser brauchte zuerst noch 8 Tage, um sich eine Übersetzung
machen zu lassen, und wartete darauf noch fast 50 Tage zu, bis er am
12. November 1958 einen Friedensrichtervorstand verlangte und dann am
15. November die Klage beim Bezirksgericht einreichte. Wenn auch die
im zit. Falle (BGE 83 II 176) nach der nachträglichen Entdeckung der
Anfechtungsgrundlagen bis zur Klageeinleitung verflossenen fünf Tage
keineswegs als ein Maximum betrachtet werden können, so müsste ein
Zuwarten von sieben Wochen zum mindesten durch ganz besondere Umstände
gerechtfertigt sein. Solche Umstände sind aber nicht ersichtlich und werden
auch nicht behauptet. Ein aus dem Bestehen des Klagerechts nach Art. 257
Abs. 3 ZGB, im Gegensatz zum Heimatrecht, abgeleiteter schweizerischer
Notgerichtsstand könnte somit, auch wenn grundsätzlich möglich, in casu
nicht begründet sein. Die Zürcher Gerichte haben daher mit Recht die
örtliche Zuständigkeit zur Klage verneint.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des
Kantons Zürich - II. Zivilkammer - vom 1. Mai 1959 bestätigt.