Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 85 II 111



85 II 111

20. Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. Mai 1959 i.S. Muri gegen
Lebedkin. Regeste

    Art. 120 Abs. 1 OR, Art. 2 ZGB. Gebieten Treu und Glauben, dass der
Rechtsnachfolger (Zessionar) einer Aktiengesellschaft seine Forderung
gegen einen Dritten mit dessen Forderung gegen den einzigen Aktionär
verrechnen lasse?

Sachverhalt

    A.- Rechtsanwalt Dr. Max Lebedkin wurde von der Büterra-Immobilien
AG, handelnd durch ihren einzigen Aktionär und Verwalter Adolf Bürgisser,
beauftragt, den Erlös aus dem Verkaufe einer dieser Gesellschaft gehörenden
Liegenschaft einzuziehen. Nach Abzug gewisser Zahlungen, die er daraus für
die Auftraggeberin machte, verblieben ihm Fr. 68'527.50. Die Forderung
auf Ablieferung dieses Betrages wurde auf Begehren der Handelsbank
Luzern AG, einer Gläubigerin der Büterra-Immobilien AG, mit Arrest
belegt. Am 25. Oktober 1957 schloss die Handelsbank Luzern AG mit der
Büterra-Immobilien AG einen Vergleich ab, durch den sie unter anderem
auf die Rechte aus dem Arrest verzichtete, wogegen die Büterra-Immobilien
AG die Forderung gegen Dr. Lebedkin fiduziarisch an den mit dem Vollzug
des Vergleiches beauftragten Dr. Max Muri abtrat. Dieser forderte den
Schuldner am 29. Oktober 1957 zur Zahlung auf. Am 31. Oktober 1957
stellte Dr. Lebedkin dem Dr. Muri eine Abrechnung zu. Aus dieser ergab
sich, dass er sich bis zum Betrage von Fr. 30'000.-- von seiner Schuld
befreit erachtete, weil er am 19. Juni 1957 in einem Strafverfahren gegen
Bürgisser Fr. 10'000.-- als Sicherheit gegen Flucht des Beschuldigten
hinterlegt hatte und ferner für dessen Verteidigung Fr. 20'000.-- an
Honorar forderte. Dr. Muri wendete ein, Dr. Lebedkin dürfe seine Forderung
auf Ersatz dieser Beträge nicht verrechnen, weil sie ihm nicht gegen die
Büterra-Immobilien AG, sondern gegen Bürgisser persönlich zustehe.

    B.- Dr. Muri klagte in der Folge gegen Dr. Lebedkin auf Zahlung der
Fr. 30'000.-- nebst Zins zu 5% seit 1. November 1957. Im Verfahren vor
Bezirksgericht Zürich setzte er das Rechtsbegehren auf Zahlung von Fr.
20'000.-- nebst Zins herab, mit der Begründung, er habe Bürgisser
veranlasst, den Anspruch auf Rückerstattung der "Fluchtkaution" an die
Büterra-Immobilien AG abzutreten. Streitig blieb nur noch das Recht des
Beklagten auf Verrechnung mit seiner Honorarforderung gegen Bürgisser.

    Das Bezirksgericht und auf Appellation hin am 14. November 1958 auch
das Obergericht des Kantons Zürich wiesen die Klage ab. Sie erachteten
die Verrechnung als zulässig.

    C.- Der Kläger hat die Berufung erklärt. Er beantragt dem
Bundesgericht, das zweitinstanzliche Urteil aufzuheben und den Beklagten
zu verpflichten, ihm Fr. 20'000.-- nebst Zins zu 5% seit 1. November 1957
zu bezahlen, eventuell die Sache zu neuer Beurteilung an das Obergericht
zurückzuweisen.

    D.- Der Beklagte beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung
des angefochtenen Urteils.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Einreden, die der Forderung des Abtretenden entgegenstanden,
kann der Schuldner auch gegen den Erwerber geltend machen, wenn sie schon
zu der Zeit vorhanden waren, als er von der Abtretung Kenntnis erhielt
(Art. 169 Abs. 1 OR). Das gilt insbesondere auch für die Einrede der
Verrechnung (vgl. Art. 169 Abs. 2 OR). Wenn der Beklagte gegenüber der
Büterra-Immobilien AG Verrechnung geltend machen konnte, steht sie ihm
daher auch gegenüber dem Kläger zu, der die eingeklagte Forderung von der
Gesellschaft erworben hat; denn es ist unbestritten, dass im Zeitpunkt
des Erwerbes die Forderung, mit welcher der Beklagte verrechnen will,
schon bestand.

Erwägung 2

    2.- Eine Forderung kann nur dann gegen den Willen des Gläubigers
verrechnet werden, wenn er Schuldner der Gegenforderung ist. Das ergibt
sich aus Art. 120 Abs. 1 OR, wonach die Verrechnung unter anderem
voraussetzt, dass zwei Personen "einander" etwas schulden.

    Der Beklagte will mit einer Forderung verrechnen, die ihm nicht
gegen die Büterra-Immobilien AG, der Rechtsvorgängerin des Klägers,
sondern gegen Bürgisser zusteht, in dessen Auftrag er im Strafverfahren
als Verteidiger aufgetreten ist. Bürgisser und die Büterra-Immobilien
AG sind zwei verschiedene Personen. Die Tatsache, dass jener einziger
Aktionär und Verwalter der Gesellschaft ist, ändert daran nichts. Art. 625
Abs. 1 OR bestimmt zwar, dass die Aktiengesellschaft bei der Gründung
mindestens drei Aktionäre zählen muss. Dennoch geht sie nicht von selbst
unter, wenn sie in der Folge nur noch einen einzigen aufweist. Das
ergibt sich aus Art. 625 Abs. 2 OR, wonach der Richter auf Begehren
eines Aktionärs oder eines Gläubigers ihre Auflösung verfügen kann,
wenn die Zahl der Aktionäre unter die gesetzliche Mindestzahl sinkt
und die Gesellschaft nicht binnen angemessener Frist den gesetzmässigen
Zustand wieder herstellt. Solange die Auflösung nicht angeordnet ist,
besteht die Gesellschaft weiter. Nicht einmal die richterliche Verfügung
nimmt ihr die juristische Persönlichkeit, denn gemäss Art. 739 Abs. 1 OR
behält sie diese auch noch während der Liquidation, in die sie durch den
Entscheid versetzt wird. Juristische Persönlichkeit aber bedeutet, dass die
Gesellschaft eigener Rechte und Pflichten fähig ist (Art. 53 ZGB). Ihr
Vermögen und ihre Schulden verschmelzen nicht mit denen ihres einzigen
Aktionärs. Sie ist insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 120
Abs. 1 OR als eine vom Aktionär verschiedene Person zu behandeln.

Erwägung 3

    3.- Der Beklagte und die kantonalen Gerichte werfen dem Kläger vor,
er verstosse gegen Art. 2 ZGB, indem er sich der Verrechnung widersetze.

    Rechtsmissbrauch im Sinne dieser Bestimmung liegt nicht stets
vor, wenn jemand nicht gelten lassen will, dass die sogenannte
Einmanngesellschaft und ihr Aktionär identisch seien. Da das Gesetz
die Aktiengesellschaft auch dann, wenn alle Aktien in der gleichen Hand
liegen, als juristische Person anerkennt, kann nicht die Tatsache allein,
dass sie eine Einmanngesellschaft ist, die Berufung auf ihre rechtliche
Selbständigkeit missbräuchlich machen. Das liefe darauf hinaus, die
Einmanngesellschaft schlechthin abzulehnen. Art. 2 ZGB will jedoch die
Bestimmungen des Zivilrechts nicht allgemein für bestimmte Arten von
Fällen ausser Kraft setzen, sondern den Richter lediglich anweisen,
besonderen Tatsachen Rechnung zu tragen, die nur dem einzelnen Falle
eigen sind. Dafür bedarf es einer besondern Rechtfertigung hinsichtlich
der in Frage kommenden Einzelbestimmungen. Es müssen Umstände vorliegen,
unter denen ausnahmsweise die Anwendung bestimmter Normen gegen Treu und
Glauben verstiesse.

    Das Bundesgericht hat im Hinblick auf die Gebote von Treu und Glauben
über die rechtliche Selbständigkeit der Aktiengesellschaft z.B. in
einem Falle hinweggesehen, wo der einzige Aktionär die Bankschuld der
Gesellschaft verbürgt hatte und durch eine von ihm beherrschte andere
Aktiengesellschaft später die Forderung gegen die Hauptschuldnerin
hatte erwerben lassen, um sie gegen einen Mitbürgen geltend machen und
diesen allenfalls wirtschaftlich vernichten zu können. Das Bundesgericht
aberkannte die Forderung aus der Überlegung, ein Vorgehen, mit dem
ausschliesslich ein solcher Zweck verfolgt werde, verdiene keinen
Rechtsschutz (BGE 81 II 455 ff.). Es wollte damit einer Machenschaft,
zu der sich die Gläubigerin für ihren Hauptaktionär hingegeben hatte, den
Riegel schieben. In einem anderen Falle hatten zwei Aktiengesellschaften,
die von ein und demselben Aktionär beherrscht waren und die Rechte aus
einem von ihm abgeschlossenen Kaufvertrag über ein Patent ausübten,
nach Treu und Glauben auch für die Verpflichtungen aus diesem Vertrage
einzustehen, damit sie nicht umgangen werden könnten (BGE 71 II 272).

    Der vorliegende Fall lässt sich diesen oder anderen Tatbeständen, in
denen Rechtsprechung und Schrifttum über die rechtliche Selbständigkeit
der Einmanngesellschaft hinweggesehen haben, nicht gleichsetzen. Die
Büterra-Immobilien AG ist nicht durch ein Umgehungsgeschäft oder ein
anderes unlauteres Vorgehen zur Gläubigerin des Beklagten geworden, und
sie ist auch in keiner Weise dafür verantwortlich, dass ihr einziger
Aktionär aus einem ihn persönlich betreffenden Auftrage dem Beklagten
etwas schuldig blieb. Die Verrechnung ihrer Forderung mit der Schuld ihres
Aktionärs liefe darauf hinaus, sie für dessen persönliche Schuld einstehen
zu lassen, obschon diese sie nichts angeht. Das Gesellschaftsvermögen
ist aber zunächst den Gläubigern der Gesellschaft als Haftungsgegenstand
verfangen. Daher bedürfte die ausnahmsweise Nichtbeachtung der rechtlichen
Verschiedenheit zwischen Einmanngesellschaft und Herrschaftsperson
in Fällen wie dem vorliegenden ganz besonderer Begründung; denn es
ist nicht das gleiche, ob der Einmann besonderer Umstände wegen für
Verbindlichkeiten der Gesellschaft mithaften soll oder umgekehrt die
Mithaftung der Gesellschaft für Verbindlichkeiten des Einmannes in Frage
steht (vgl. SCHILLING im Komm. Hachenburg zum GmbH, 6. Aufl., Anhang
zu § 13 Anm. 5). Indem der Kläger sich der Verrechnung widersetzt,
missbraucht er das Recht nicht, geschweige denn offenbar, wie Art. 2
Abs. 2 ZGB voraussetzt.

    Vom Standpunkt des Aktienrechtes aus war die Büterra-Immobilien AG
übrigens nicht nur berechtigt, sondern im Prinzip sogar verpflichtet,
sich der Verrechnung zu widersetzen. Gemäss Art. 718 Abs. 1 OR sind die
zur Vertretung einer Aktiengesellschaft befugten Personen nur ermächtigt,
diejenigen Rechtshandlungen vorzunehmen, die der Zweck der Gesellschaft
mit sich bringen kann. Setzen sie sich als Verwalter darüber hinweg,
so können sie unter Umständen gemäss Art. 754 ff. OR zum Ersatz des
den Gesellschaftsgläubigern daraus entstehenden Schadens verhalten
werden. Der Beklagte behauptet nicht, dass der Gesellschaftszweck der
Büterra-Immobilien AG es mit sich bringe, die Verteidigungskosten zu
bezahlen, die ihrem einzigen Aktionär in einer sie nicht betreffenden
Strafsache entstanden sind. Indem der Kläger als Treuhänder der
Büterra-Immobilien AG und der Handelsbank Luzern AG sich widersetzt,
auf dem Wege der Verrechnung für diese Kosten aufzukommen, verstösst
er nicht nur nicht gegen Treu und Glauben, sondern handelt er so,
wie die Büterra-Immobilien AG im Interesse ihrer Gläubiger selber
handeln müsste. Diese brauchen sich nicht gefallen zu lassen, dass das
Gesellschaftsvermögen zur Tilgung privater Schulden des einzigen Aktionärs
verwendet werde.

    Die Feststellungen des Obergerichts, Bürgisser habe über die
Büterra-Immobilien AG "nach Belieben für seine privaten Geschäfte verfügt,
als ob diese Gesellschaft und er selber eine wirtschaftliche Einheit
bildeten", und er habe "die in seinem rein persönlichen Interesse zu
leistende Fluchtkaution aus Mitteln der Büterra zahlen lassen", ändern
am Obigen nichts. Solche Übergriffe, wie sie übrigens nur vereinzelt
dargetan sind, verpflichten die Gesellschaft nicht, ihr Vermögen in
weiteren Fällen zur Deckung persönlicher Schulden ihres einzigen Aktionärs
und Verwalters in Anspruch nehmen zu lassen. Auch dem Beklagten gegenüber
verlangen Treu und Glauben das nicht. Als Rechtsanwalt musste er wissen,
dass die Tilgung privater Schulden des Aktionärs mit Gesellschaftsvermögen
die Interessen der Gesellschaftsgläubiger verletzen könnte und dass ein
pflichtgetreuer Verwalter nicht für persönliche Zwecke nach Belieben
in die Gesellschaftskasse greifen darf. Der Beklagte konnte nicht mit
Fug erwarten, dass ihm die Verrechnung gestattet und damit das den
Gesellschaftsgläubigern haftende Vermögen vermindert werde.

Erwägung 4

    4.- Der Beklagte hat im kantonalen Verfahren geltend gemacht,
die Klage könne jedenfalls höchstens bis zum Betrage von Fr. 5'779.55
gutgeheissen werden. Er trete nämlich nur noch für diesen Betrag als
Treuhänder der Handelsbank Luzern AG auf, da er auf Grund des Vergleiches
nur Fr. 33'000.-- an sie habe weiterleiten müssen, vom Beklagten aber
schon Fr. 27'220.45 erhalten habe.

    Auf diesen Einwand kommt nichts an, und er wird im Berufungsverfahren
denn auch nicht mehr erneuert. Welche Ansprüche der Handelsbank Luzern
AG auch immer gegenüber dem Kläger zustehen mögen, ist unbestritten,
dass diesem die ganze Forderung der Büterra-Immobilien AG gegen den
Beklagten abgetreten worden ist. Da die Verrechnung ausgeschlossen ist,
muss die Forderung im vollen noch streitigen Betrage von Fr. 20'000.--
nebst Zins zugesprochen werden.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil der II. Zivilkammer des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 14. November 1958 aufgehoben und der
Beklagte pflichtig erklärt, dem Kläger Fr. 20'000.-- nebst 5% Zins ab 1.
November 1957 zu bezahlen.