Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 I 1



83 I 1

1. Auszug aus dem Urteil vom 6. März 1957 i.S. Erben Hirschi gegen
Meliorationsgenossenschaft Schwerzenbach-Volketswil und Regierungsrat
des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 4 BV: Voraussetzungen der Nichtigkeit von Verwaltungsakten. Wie
verhält es sich mit den Massnahmen, die das Organ einer
öffentlich-rechtlichen Körperschaft (Meliorationsgenossenschaft) nach
Ablauf seiner Amtsdauer getroffen hat?

Sachverhalt

                     Aus dem Tatbestand:

    A.- Die Erben Hirschi gehören zu den am Meliorationsunternehmen in
den Gemeinden Schwerzenbach und Volketswil beteiligten Grundeigentümern
und sind als solche Mitglied der am 6. Februar 1943 gegründeten
Meliorationsgenossenschaft Schwerzenbach-Volketswil, die gemäss § 139
des zürch. Gesetzes betreffend die Förderung der Landwirtschaft vom
24. September 1911 (LG) eine Körperschaft des öffentlichen Rechts ist.
Nach den Statuten dieser Genossenschaft hat die Mitgliederversammlung
u.a. eine aus 13 Mitgliedern bestehende Ausführungskommission sowie
eine Bonitierungskommission zu wählen. Die Ausführungskommission, deren
Amtsdauer nach § 5 der Statuten 4 Jahre beträgt, wurde bei der Gründung
der Genossenschaft am 6. Februar 1943 bestellt und am 28. September 1947
neu gewählt. Weitere Erneuerungswahlen wurden nicht durchgeführt. Erst
nach Einleitung des vorliegenden Beschwerdeverfahrens vor den kantonalen
Instanzen wurde die Ausführungskommission am 14. Juli 1956 für eine neue
Amtsdauer von 4 Jahren wiedergewählt. Die Bonitierungskommission wurde
seit ihrer Bestellung im Frühjahr 1943 nie neu gewählt.

    B.- Am 4. Mai 1956 erhoben die Erben Hirschi eine Aufsichtsbeschwerde,
mit der sie u.a. verlangten, es seien sämtliche Beschlüsse,
Verfügungen und anderen Massnahmen der Ausführungskommission sowie der
Bonitierungskommission, die sie nach Ablauf ihrer Amtszeit erlassen haben,
als nichtig zu erklären.

    Dieses Begehren wurde sowohl vom Bezirksrat Uster als auch vom
Regierungsrat des Kantons Zürich abgewiesen, von letzterem mit Entscheid
vom 29. November 1956 aus folgenden Gründen:

    Dem Begehren um Nichtigerklärung der Massnahmen der
Bonitierungskommission könne schon deshalb nicht entsprochen werden,
weil weder das LG noch die Statuten für diese Kommission eine
befristete Amtsdauer bzw. Erneuerungswahlen vorschreiben und eine
derartige Bestimmung sachlich auch nicht begründet wäre, weil die
Bonitierungskommission ihre Aufgabe im allgemeinen in verhältnismässig
kurzer Zeit erfüllen könne und sich ihre Tätigkeit nur ausnahmsweise auf
mehrere Jahre erstrecke. Was die von der Ausführungskommission nach Ablauf
ihrer Amtsdauer getroffenen Massnahmen betreffe, sei davon auszugehen,
dass die Nichtigerklärung von Verwaltungsakten grundsätzlich nur bei den
gröbsten Verstössen gegen das Gesetz in Betracht komme. Die Begrenzung
der Amtsdauer könne aber als blosse Ordnungsvorschrift bezeichnet werden
(ZR 1950 S. 13). Das zürcherische Recht kenne zwar keine stillschweigende
Wiederwahl. Gewichtige Interessen würden aber dagegen sprechen, im
vorliegenden Fall eine Nichtigkeit der nach Ablauf der befristeten
Amtsdauer ergangenen Massnahmen anzunehmen. Sonst müssten zahlreiche
Verfahren wiederholt werden, was die Durchführung des Meliorationswerkes
untragbar erschweren würde und mit der Rechtssicherheit nicht vereinbar
wäre. Das Interesse am Bestehenlassen der Akte der Kommissionen sei
daher grösser als dasjenige an ihrer Aufhebung. Schliesslich sei eine
Nichtigerklärung auch deswegen abzulehnen, weil die Beschwerdeführer
oder ihr Rechtsvorgänger die Neuwahl schon früher hätten verlangen können
und ihnen bei Entscheiden der Kommission, die sie betrafen, die üblichen
Rechtsmittel zur Verfügung standen.

    C.- Die Erben Hirschi haben diesen Entscheid rechtzeitig mit
staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV angefochten.

    D.- Der Regierungsrat sowie die Ausführungs- und Bonitierungskommission
der Meliorationsgenossenschaft Schwerzenbach-Volketswil beantragen die
Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales).

Erwägung 2

    2.- (Ausführungen darüber, dass die Beschwerde insoweit, als sie
Beschlüsse der Bonitierungskommission zum Gegenstand hat, unbegründet
ist, weil sich ohne Willkür annehmen lasse, dass diese Kommission für
eine unbegrenzte Zeitdauer bestellt worden sei).

Erwägung 3

    3.- Auch der Regierungsrat geht davon aus, dass nach § 5 der Statuten
die Ausführungskommission jeweils nach Ablauf der vierjährigen Amtsdauer
wieder neu hätte gewählt werden müssen. Es ist unbestritten, dass die
letzte Erneuerungswahl am 28. September 1947 stattgefunden hat, dass
aber in den Jahren 1951 und 1955 keine Erneuerungswahlen durchgeführt
wurden, sondern erst am 14. Juli 1956. Die Beschwerdeführer fechten
es als willkürlich an, dass der Regierungsrat trotzdem ihr Begehren um
Nichtigerklärung der zwischen dem Ablauf der Amtsperiode 1947-1951 und der
Neuwahl vom 14. Juli 1956 ergangenen Massnahmen der Ausführungskommission
ablehnte.

    In einem früheren Verfahren machte der Rechtsvorgänger (Erblasser) der
heutigen Beschwerdeführer geltend, dass die vor der Ausführungskommission
durchgeführte Einigungsverhandlung vom 23. Juni 1947 und die Überweisung
der Sache an das Schiedsgericht (vgl. §§ 113 und 142 LG) ungültig
seien, weil der Kommission in der Zeit zwischen dem Ablauf ihrer
Amtsdauer am 6. Februar 1947 und der Neuwahl vom 28. September 1947 keine
Amtsbefugnis zugestanden habe. Das zürcherische Obergericht lehnte diesen
Standpunkt unter Berufung auf eigene frühere Entscheide und solche des
Kassationsgerichts mit ausführlicher Begründung ab (ZR 1950 S. 20 f.). Es
führte namentlich aus, dass die statutarische Begrenzung der Amtsdauer
der Kommission eine blosse Ordnungsvorschrift, eine Anweisung an die
zuständigen Genossenschaftsorgane zur rechtzeitigen Anordnung der Neuwahl
sei und dass, sofern diese Vorschrift aus irgend einem Grunde unbeachtet
bleibe, die Befugnisse der Kommission nicht dahinfallen, diese vielmehr
gleich wie ein Organ einer privatrechtlichen Verbandsperson weiterhin die
Geschäfte zu führen und die Interessen der Genossenschaft wahrzunehmen
habe. Das gelte jedenfalls, soweit die Kommission Aufgaben erfülle, die
ihr durch das LG selber zugewiesen werden (vgl. §§ 108 ff. und 142 LG), sie
also nicht bloss als Genossenschaftsorgan handle, denn in allen Fällen der
Güterzusammenlegung beruhe die Bildung der Ausführungskommission auf dem
Gesetz (§ 107 LG) und der Zusammenschluss der beteiligten Grundeigentümer
zu einer Genossenschaft sei in § 139 LG nicht zwingend vorgeschrieben. Das
LG kenne aber keine Beschränkung der Amtsdauer dieser Kommission. Obschon
der Regierungsrat in seinen Erwägungen auf diesen publizierten Entscheid
hinweist, halten ihm die Beschwerdeführer lediglich entgegen, dass ihm
ein anderer Tatbestand zugrunde liege, sie bemühen sich aber nicht, sich
mit der darin vertretenen grundsätzlichen Auffassung über die Amtsdauer
der Ausführungskommission auseinanderzusetzen, geschweige denn sie als
willkürlich darzutun.

    Dazu kommt, dass in der neueren Verwaltungsrechtslehre die Auffassung
vertreten wird, dass nicht jeder mangelhafte Verwaltungsakt nichtig sei,
sondern dass eine wertende Lösung der Frage Platz greifen müsse durch
Abwägen der für und der gegen die praktische Folge der Unwirksamkeit
sprechenden Interessen (IMBODEN, Der nichtige Staatsakt, S. 68 ff.; BGE 71
I 198 Erw. 1). Nach dieser Lehrmeinung hat die Nichtigkeitssanktion erst
dann einzutreten, wenn die Verletzung der in Frage stehenden Vorschrift
schwerer wiegt als die sich aus der Unwirksamkeit der Anordnung ergebende
Beeinträchtigung der Rechtssicherheit und des handlungsökonomischen
staatlichen Interesses (IMBODEN, S. 81). Es besteht also eine Ähnlichkeit
mit der beim Problem der materiellen Rechtskraft von Verwaltungsakten
vorzunehmenden Interessenabwägung (vgl. BGE 78 I 406, 79 I 6; IMBODEN,
S. 92). Deshalb bedingt nach dieser Auffassung nicht jede, sondern nur
eine qualifizierte Unzuständigkeit die Nichtigkeit eines Verwaltungsaktes,
so namentlich dann, wenn ein positiver Kompetenzkonflikt vorliegt und
daher die Möglichkeit zweier gegensätzlicher Entscheide besteht oder
wenn die Möglichkeit einer sachlich richtigen Entscheidung und eines
gesetzmässigen Verfahrens zufolge des Handelns einer fremden Instanz in
Frage gestellt ist (IMBODEN, S. 104 f.). Diese Betrachtungsweise lässt
sich mit vernünftigen Gründen vertreten und kann zumindest nicht als
willkürlich bezeichnet werden.

    Die danach erforderlichen Voraussetzungen für die Nichtigerklärung
der Massnahmen der Ausführungskommission liegen aber offensichtlich nicht
vor. Kein anderes Organ, sondern nur die Ausführungskommission ist zum
Erlass der beanstandeten Massnahmen zuständig; sie hat daher nicht in den
Kompetenzbereich einer andern Instanz eingegriffen. Dass ihre Mitglieder
die in den Statuten festgesetzte Amtsdauer überschritten haben, stellt
weder deren Sachkenntnis noch die Möglichkeit der Durchführung eines
gesetzmässigen Verfahrens in Frage. Die Beschwerdeführer behaupten auch
nicht, dass die Beschlüsse und Anordnungen der Ausführungskommission, deren
Nichtigerklärung sie verlangen, inhaltlich gesetzwidrig seien. In dem hier
zu beurteilenden Fall hat die an sich zuständige Instanz gehandelt, sie war
aber mit Mitgliedern besetzt, deren Amtszeit nach den Statuten abgelaufen
war. Es besteht somit eine gewisse Ähnlichkeit mit den Verrichtungen von
Amtspersonen, deren Wahl mangelhaft ist oder die entlassen worden sind,
was im allgemeinen nicht als Nichtigkeitsgrund betrachtet wird (IMBODEN,
S. 122 ff.). In diesem Zusammenhang darf auch berücksichtigt werden,
dass die Beschwerdeführer und ihr Rechtsvorgänger gegen Entscheide der
Ausführungskommission, die sie betrafen, die zur Verfügung stehenden
Rechtsmittel hätten ergreifen können (Aufsichtsbeschwerde, § 83 Abs. 4 und
§ 107 Abs. 2 LG; Rekurs gemäss § 43 Abs. 1 der Vollziehungsverordnung zum
LG vom 29. Juli 1915) oder der Generalversammlung der Genossenschaft die
Neuwahl der Ausführungskommission hätten beantragen können, wenn sie der
Meinung waren, die Amtsdauer sei abgelaufen. Umso stossender wäre es, wenn
sie jetzt nach Jahr und Tag die Beschlüsse der Ausführungskommission noch
umstossen könnten mit der Begründung, die Amtsdauer der Mitglieder sei im
Jahre 1951 abgelaufen. Anderseits bemerkt der Regierungsrat mit Recht und
die Beschwerdeführer bestreiten es nicht, dass im Falle der Annahme der
Nichtigkeit zahlreiche längst erledigte Verfahren wieder neu aufgenommen
werden müssten, was die Durchführung des Meliorationswerkes untragbar
erschweren würde und mit der Rechtssicherheit nicht vereinbar wäre, würden
doch dadurch auch die übrigen Beteiligten am Meliorationsunternehmen
betroffen.

    Die Auffassung des Regierungsrates lässt sich somit mit vernünftigen,
dem Bedürfnis der Rechtssicherheit, aber auch der Billigkeit Rechnung
tragenden Gründen vertreten und hält daher der Rüge der Willkür stand.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.