Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 92



83 IV 92

26. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 10. April 1957
i.S. Schoch gegen Polizeirichteramt der Stadt Zürich. Regeste

    Art.26Abs. 3 MFG, Art. 46 Abs. 1 und 2 MFV. Darf an einer
Rechtseinmündung überholt werden, wenn die beiden zusammentreffenden
Strassen jeweils nicht gleichzeitig dem Verkehr offen stehen, sondern
durch Lichtsignale abwechslungsweise geöffnet bzw. geschlossen werden?

Sachverhalt

    A.- Am 7. Januar 1956, um 18.20 Uhr, führte Albert Schoch in Zürich
einen Taxameter durch den mit einer Leitlinie versehenen Seilergraben
Richtung Pfauen. Als er sich der rechtsseitigen Einmündung der Mühlegasse
näherte, leuchtete im Seilergraben das grüne Licht der automatischen
Signalanlage auf. Schoch setzte seine Fahrt ohne Halt fort und überholte
in der Einmündungszone Seilergraben/Mühlegasse einen Trolleybus.

    B.- Am 4. Dezember 1956 büsste der Einzelrichter in Strafsachen des
Bezirksgerichtes Zürich Schoch wegen Übertretung von Art. 26 MFG und
46 MFV mit Fr. 10.-. Er legte ihm zur Last, an einer Strassenkreuzung
überholt zu haben.

    C.- Schoch führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Einzelrichters sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an
die Vorinstanz zurückzuweisen. Als er sich der Einmündung genähert habe,
habe das grüne Licht aufgeleuchtet, während der Verkehr in der Mühlegasse
durch rotes Licht gesperrt worden sei. Unter diesen Umständen sei er
berechtigt gewesen, auch in der Einmündungszone vorzufahren. Übrigens
werde das Überholen an Strasseneinmündungen weder durch Art. 26 MFG noch
durch Art. 46 MFV untersagt.

    D.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich beantragt Abweisung der
Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 26 Abs. 3 MFG und Art. 46 Abs. 2 MFV darf an
Strassenkreuzungen, Bahnübergängen und an unübersichtlichen Stellen nicht
überholt werden. Der gesetzgeberische Grund des Verbotes liegt darin,
dass die besonderen Gefahren, die das Zusammentreffen zweier oder mehrerer
Strassen für den Verkehr an sich schon schafft, nicht durch Überholmanöver
noch erhöht werden sollen (BGE 75 IV 129). Das gilt nach feststehender
Rechtsprechung auch für Stellen, an denen eine Strasse in eine andere
einmündet (BGE 82 IV 24 und dort zitierte Urteile).

    Die Verkehrslage an der Rechtseinmündung der Mühlegasse in den
Seilergraben unterscheidet sich jedoch insofern wesentlich von den der
bisherigen Rechtsprechung zugrunde liegenden Fällen, als die beiden
genannten Strassen jeweils nicht gleichzeitig dem Verkehr offen stehen,
sondern durch Lichtsignale abwechslungsweise geöffnet bzw. geschlossen
werden. Leuchtet im Seilergraben das grüne Licht auf, was der Fall war, als
sich der Beschwerdeführer der Einmündung näherte, wird der Verkehr in der
Mühlegasse durch rotes Licht gesperrt. Ein solches Signal schafft für den
davor stehenden Strassenbenützer ein absolutes Verbot, auf dessen Beachtung
sich der bei grünem Licht durchfahrende Führer verlassen darf. Wurde
demnach die durch das rote Licht gesperrte Rechtseinmündung der Mühlegasse
für den Richtung Pfauen durch den Seilergraben fahrenden Fahrzeugführer
verkehrsrechtlich ausgeschaltet, wurden damit auch die Gefahren behoben,
denen Art. 26 Abs. 3 MFG und Art. 46 Abs. 2 MFV begegnen wollen. Unter
solchen Verhältnissen das Überholen an einer Strasseneinmündung zu
verbieten, ginge über den Sinn des Gesetzes hinaus und würde zu einer
zweckwidrigen Hemmung des Verkehrs führen. So dürfte beispielsweise von
zwei nebeneinander vor einem roten Signal anstehenden Fahrzeugkolonnen
nach Aufleuchten des grünen Lichtes die linke Kolonne nicht schneller
durch die Einmündungszone fahren als die rechte, sondern müsste sich
stets auf gleicher Höhe mit den rechts befindlichen Fahrzeugen halten,
und zwar selbst dann, wenn das erste dieser Kolonne aus irgendwelchen
Gründen sehr langsam führe oder Schwierigkeiten hätte voranzukommen. Eine
solche Ordnung wäre sinnlos und liesse sich auch durch den Umstand
nicht rechtfertigen, dass die Signalanlage einmal versagen könnte. Diese
Möglichkeit ist angesichts der technischen Vollkommenheit der zur Regelung
des Verkehrs verwendeten Einrichtungen verschwindend klein und fällt
daher gegenüber dem Bedürfnis, die Flüssigkeit des Verkehrs zu fördern,
nicht ins Gewicht. Ebensowenig kommt entscheidend in Betracht, dass die
Beachtung des roten Lichtes nicht unter allen Umständen gesichert ist;
das Verbot, bei rotem Licht durchzufahren, ist so zwingender Natur, dass
Übertretungen nur selten vorkommen und jedenfalls in vollem Umfang von den
fehlbaren Führern zu verantworten sind. Der Beschwerdeführer konnte daher
in der Einmündungszone Seilergraben/Mühlegasse andere Fahrzeuge überholen,
ohne damit gegen Art. 26 Abs. 3 MFG und Art. 46 Abs. 2 MFV zu verstossen.

Erwägung 3

    3.- Art. 46 Abs. 1 MFV gestattet das Überholen nur, wenn die dazu
erforderliche Strecke frei und übersichtlich ist.

    Unübersichtlich war die Stelle, an welcher der Beschwerdeführer
den Trolleybus überholte, nicht schon deswegen, weil ihm wegen des zu
überholenden Fahrzeugs die Sicht in die Mühlegasse genommen war. Wie
ausgeführt, durfte er sich bei Durchfahren der Einmündungszone auf
das grüne Licht verlassen. Dass sonst irgendwelche besonderen Umstände
seine Sicht beeinträchtigt hätten, nimmt die Vorinstanz selber nicht
an. Auch liegt nichts dafür vor, dass die Überholstrecke durch andere
Strassenbenützer belegt gewesen wäre und er infolgedessen nur unter
Gefährdung des Verkehrs sein Manöver hätte durchführen können. War aber
das zum Vorfahren erforderliche Strassenstück übersichtlich und frei,
fällt dem Beschwerdeführer auch unter dem Gesichtspunkt des Art. 46 Abs. 1
MFV kein verkehrswidriges Verhalten zur Last.