Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 51



83 IV 51

13. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 25. Januar 1957
i.S. Forster gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 62 MFG, Art. 137 Ziff. 3 StGB. Wer einem Familiengenossen ein
Motorfahrzeug zum Gebrauch entwendet, ist von Amtes wegen zu verfolgen;
keine analoge Anwendung von Art. 137 Ziff. 3 StGB.

Sachverhalt

    A.- Kurt Forster, der seit 17. Januar 1955 bei Metzgermeister
Willi Strassmann in Stellung war und von diesem nebst einem Barlohn
freie Kost und Logis erhielt, wurde am 29. März 1955 verhaftet, weil er
sich gegenüber seinem Arbeitgeber verschiedene Delikte hatte zuschulden
kommen lassen. Unter anderem wurde ihm zur Last gelegt, Mitte Februar
1955 heimlich den Personenwagen Strassmanns weggenommen und damit ohne
Führerausweis nach St. Gallen gefahren zu sein.

    Nachdem die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau die Akten dem
Bezirksgericht Baden zur Bestrafung Forsters wegen wiederholten Diebstahls,
wiederholter, eventuell fortgesetzter Veruntreuung und Widerhandlung
gegen Art. 5 Abs. 2 und 62 MFG überwiesen hatte, zog Strassmann den am
29. März 1955 wegen der Vermögensdelikte gestellten Strafantrag zurück.

    B.- Am 11. Mai 1956 büsste das Bezirksgericht Baden Forster wegen
Übertretung des Art. 5 Abs. 2 MFG mit Fr. 50.-. Auf die Anklage nach
Art. 62 MFG trat es nicht ein, weil der Rückzug des Strafantrages auch die
Entwendung des Motorfahrzeuges erfasse. Der Entwender, der Familiengenosse
sei, dürfe nicht schlechter gestellt werden als der Dieb.

    Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft sprach das Obergericht des
Kantons Aargau Forster am 24. August 1956 ausser der Übertretung des Art. 5
Abs. 2 MFG der Entwendung eines Motorfahrzeuges zum Gebrauch schuldig
und bestrafte ihn mit vierzehn Tagen Gefängnis und Fr. 50.- Busse. In
der Begründung ging es davon aus, dass das MFG keine Antragsdelikte
kenne. Art. 62 MFG bezwecke den Schutz des Strassenverkehrs. Ob der
Halter des Fahrzeuges die Bestrafung des Täters wünsche oder nicht,
sei unerheblich.

    C.- Forster führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichtes sei insoweit aufzuheben, als es ihn wegen Widerhandlung
gegen Art. 62 MFG bestrafe, und es sei die Sache zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz zurückweisen. Art. 62 Abs. 1 MFG verweise hinsichtlich des
Diebstahls auf das gemeine Strafrecht. Danach sei der Familiengenosse, der
ein Motorfahrzeug stehle, nur auf Antrag zu verfolgen (Art. 137 Ziff. 3
StGB), während nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtes
zu Art. 62 MFG der Entwender in jedem Fall von Amtes wegen zu bestrafen
sei. Das sei unbillig und vom Gesetzgeber nicht gewollt. Es liege eine
ethische Unstimmigkeit, eine unechte Gesetzeslücke vor, die gemäss Art. 1
ZGB durch Analogieschluss zugunsten des hausgenössischen Entwenders
auszufüllen sei. Das habe zur Folge, dass der Beschwerdeführer nur auf
Antrag bestraft werden dürfe. An dieser Prozessvoraussetzung fehle es hier,
weswegen das Urteil aufzuheben sei.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    Nach Art. 62 Abs. 1 MFG wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder
mit Busse bis zu dreitausend Franken bestraft, wer sich ein Motorfahrzeug
rechtswidrig zum Gebrauch aneignet, ohne dass der Tatbestand des Diebstahls
erfüllt ist. Dass Angehörige oder Familiengenossen nur auf Antrag zu
verfolgen seien, sagt das Gesetz nicht und ist ihm auch bei sinngemässer
Auslegung nicht zu entnehmen. Daraus folgt, dass der Täter, der einem
Hausgenossen ein Motorfahrzeug entwendet und damit ein Vergehen verübt,
ohne weiteres der Strafe verfällt, während der Familiengenosse, der einen
nach Art. 137 StGB als Verbrechen unter Strafe gestellten Fahrzeugdiebstahl
begeht, mangels Antrages des Verletzten straflos bleibt. Darin liegt
zwar ein Widerspruch. Indessen steht es dem Richter nicht zu, über die
gesetzliche Ordnung hinwegzugehen. Wie das Bundesgericht schon wiederholt
entschieden hat, darf eine Gesetzeslücke nicht leichthin angenommen werden
(vgl. BGE 74 II 109, 76 II 62). Zurückhaltung ist vorliegend umso mehr am
Platz, als der bundesrätliche Entwurf zum MFG, dessen Art. 59 gleich dem
heutigen Art. 62 MFG ausdrücklich den Tatbestand des Diebstahls vorbehielt,
im selben Jahr (1931) in parlamentarischer Beratung stand wie derjenige zum
StGB, in welchem der Familiengenossendiebstahl bereits als Antragsdelikt
ausgestaltet war (Art. 120 Ziff. 2 des Entwurfes). Angesichts dessen
anzunehmen, die in der gesetzlichen Ordnung liegende Unstimmigkeit beruhe
auf einem Versehen des Gesetzgebers und müsse vom Richter im Weg der
Lückenausfüllung behoben werden, wäre jedenfalls nicht unbedenklich.

    Der Beschwerdeführer lässt zudem ausser acht, dass Art. 62 MFG nicht
nur zum Schutz des Fahrzeugeigentümers, sondern auch zur Sicherung
des öffentlichen Verkehrs erlassen wurde (BGE 73 IV 40, 78 IV 65;
MKGE 5 Nr. 109). Die Öffentlichkeit hat ein Interesse daran, dass
die Strasse von Strolchenfahrern frei sei, die - selbst wenn sie nicht
betrunken sind - im allgemeinen besonders rücksichtslos und gewissenlos
fahren. Solche Erwägungen, wie sie auch in der parlamentarischen Beratung
zum Ausdruck kamen (Sten. Bull. NatR 1931, S. 249), sind Art. 137 StGB, der
ausschliesslich das Vermögen schützt, fremd. Steht aber die Sicherheit des
öffentlichen Verkehrs in Frage, geht es nicht an, die Verfolgung des Täters
von der mehr oder weniger nahen persönlichen Beziehung zwischen diesem und
dem Fahrzeugeigentümer und dessen Willenserklärung abhängig zu machen. Ob
der Strolchenfahrer mit dem letzteren verwandt ist oder in Hausgemeinschaft
lebt, oder ob es sich bei diesem um einen fremden Dritten handelt, ändert
an der durch die Entwendung des Motorfahrzeuges geschaffenen Gefahr und
der Notwendigkeit ihrer Bekämpfung nicht das Geringste.

    Ist dem so, liegt das Widersprüchliche der gesetzlichen Ordnung
nicht darin, dass der Familiengenosse, der durch Widerhandlung gegen
Art. 62 MFG die Sicherheit des öffentlichen Verkehrs gefährdet, von
Amtes wegen verfolgt wird, sondern im Umstand, dass der Dieb, der sich
das Motorfahrzeug eines Hausgenossen unrechtmässig aneignet und damit im
allgemeinen für die Öffentlichkeit keine geringere Gefahr schafft als der
Strolchenfahrer, bloss auf Antrag zu bestrafen ist. Diese Unstimmigkeit
aber kann der Richter nicht in der Weise beheben, dass er Art. 137 Ziff. 3
StGB durch Analogieschluss vorbehaltlos dem Tatbestand der Entwendung eines
Motorfahrzeuges zum Gebrauch einfügt. Das hätte eine erhebliche Schwächung
der durch Art. 62 MFG geschützten Sicherheit des öffentlichen Verkehrs zur
Folge und widerspräche damit der ratio legis. Zwar nimmt der Entwurf des
Bundesrates zu einem Bundesgesetz über den Strassenverkehr vom 24. Juni
1955 (BBl. 1955, Bd. II, S. 69) diesen Nachteil insoweit in Kauf, als er
in Art. 87 Ziff. 1 Abs. 2 die Bestrafung des Familiengenossen dann vom
Antrag des Verletzten abhängig macht, wenn "der Führer den erforderlichen
Führerausweis" hatte. Das kann jedoch im vorliegenden Fall zu keinem
andern Ergebnis führen. Denn abgesehen davon, dass es sich hiebei um
eine Frage der Gesetzgebung und nicht der richterlichen Auslegung oder
Rechtsfindung handelt, müsste Forster selbst bei Zugrundelegung einer
solchen Ordnung nach Art. 62 MFG bestraft werden.