Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 35



83 IV 35

8. Urteil des Kassationshofes vom 14. Februar 1957 i.S. Niederhauser gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art.25Abs. 1 Satz 3 MFG. Angemessener Abstand beim Kreuzen eines
Fussgängers.

Sachverhalt

    A.- Am Abend des 15. Dezember 1955, als es regnete und bereits dunkel
war, führte Hans Niederhauser seinen Personenwagen von Fischbach gegen
Luzern. Vor Zell, als er mit mindestens 65 km/Std und 1,5 m vom rechten
Rand der 5,5 m breiten Strasse entfernt fuhr, kam ihm der Fussgänger Franz
Roos entgegen. Dieser schritt (in der Fahrrichtung des Personenwagens
gesehen) gleichfalls am rechten Strassenrand einher und hielt den
geöffneten Regenschirm schräg vor sich hin. Als Niederhauser, ohne die
Geschwindigkeit herabzusetzen, nach links auszuweichen oder Signal zu
geben, sich anschickte, den Fussgänger zu kreuzen, schwenkte dieser
nach rechts, gegen die Strassenmitte zu, ab. Dabei wurde er vom rechten
Kotflügel des Personenwagens erfasst, weggeschleudert und sofort getötet.

    B.- Das Obergericht des Kantons Luzern verurteilte am 22. Dezember 1956
Niederhauser wegen fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) und fahrlässiger
Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 Ziff. 2 StGB) zu zwei Monaten
Gefängnis. Es warf ihm vor, er hätte vor dem Kreuzen rechtzeitig warnen,
vor allem aber mehr nach links halten und die Geschwindigkeit stark
herabsetzen sollen.

    C.- Niederhauser führt Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, das
Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an das Obergericht
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    Gemäss Art. 25 Abs. 1 MFG hat der Führer eines Motorfahrzeuges
u.a. beim Kreuzen einen angemessenen Abstand einzuhalten. Diese Regel
gilt auch für das Kreuzen von Fussgängern (BGE 72 II 133 Erw. 2); denn
auch ihnen gegenüber, nicht nur gegenüber andern Motorfahrzeugführern,
ist der Führer zur Vermeidung von Unfällen, ja sogar zur Unterlassung
blosser Belästigung, verpflichtet (Art. 25 Abs. 1 MFG), und auch sie sind
durch die Bestimmung des Art. 237 StGB geschützt (BGE 75 IV 124 Erw. 4).

    Ob ein Abstand angemessen ist, hängt u.a. von der Art des zu kreuzenden
Strassenbenützers und seinem erkennbaren oder voraussehbaren Verhalten ab,
namentlich aber auch von der Geschwindigkeit, die der Motorfahrzeugführer
selber einhält. Je grösser diese ist, desto schwieriger wird es, den
Abstand auf den Dezimeter genau abzuschätzen und einer im Verlaufe des
Kreuzens eintretenden Gefahr durch Verzögerung der Fahrt, Anhalten,
Ausweichen, Warnen wirksam zu begegnen, und desto näher liegt auch
die Möglichkeit, dass solche Gefahren durch Fehlreaktionen des andern
Strassenbenützers überhaupt entstehen. Mit solchen Reaktionen aber hat
auch der geschickteste Motorfahrzeugführer innerhalb gewisser Grenzen
zu rechnen. Sie können gerade durch seine draufgängerische Fahrweise,
die geeignet ist, den andern zu erschrecken oder zu verwirren, ausgelöst
werden. Der Motorfahrzeugführer darf daher nie, auf seine Geschicklichkeit
vertrauend, knapp rechnen (vgl. BGE 78 IV 122).

    Der Beschwerdeführer fuhr mit mindestens 65 km/Std. Da die Strasse
an der Unfallstelle, die ausserorts liegt, 5,5 m breit und übersichtlich
ist, war diese Geschwindigkeit nicht unbedingt übersetzt. Immerhin lag
sie im Hinblick darauf, dass es dunkel war und regnete, bestenfalls
knapp innerhalb des Rahmens, der durch Art. 25 Abs. 1 MFG gezogen
wird. Infolgedessen hätte der Beschwerdeführer den Fussgänger nur dann
mit dieser Geschwindigkeit kreuzen dürfen, wenn er einen verhältnismässig
grossen Abstand eingehalten hätte, weil nur dann jede Gefährdung des
Fussgängers ausgeschlossen gewesen wäre. Statt dessen beabsichtigte der
Beschwerdeführer, Roos in einem Abstand von nur ca. 50-60 cm zu überholen,
denn er vergrösserte seinen Abstand von 1, 5 m vom rechten Strassenrand
nicht, obwohl Roos, selbst wenn er hart am Strassenrand einhergesc hritten
wäre, mit dem geöffneten Regenschirm fast einen Meter dieses Zwischenraums
beanspruchte. Dieser Abstand war ungenügend. Er war es umso mehr, als
Roos den geöffneten Regenschirm schräg vor sich hielt, das vor ihm liegende
Strassenstück also nicht überblickte und durch kein Signal gewarnt worden
war, weshalb sich der Beschwerdeführer unter keinen Umständen darauf
verlassen durfte, dass der Fussgänger das herannahende Fahrzeug bemerkt
hatte. Darüberhinaus hätte der Beschwerdeführer sich sagen sollen, dass bei
einem Fussgänger, dem die Sicht nach vorne durch den geöffneten Regenschirm
verdeckt ist, in besonderem Masse Abweichungen von der Gehrichtung zu
gewärtigen sind. Schliesslich war es auch darum grob fahrlässig, sich
mit einem geringen Abstand begnügen zu wollen, weil es bei Dunkelheit
und Regen ohnehin sehr schwer, wenn nicht geradezu unmöglich ist, den
Abstand einigermassen genau abzuschätzen. Dem Beschwerdeführer hilft auch
der Einwand nicht, die Vorschrift des Art. 26 Abs. 1 MFG habe ihm nicht
erlaubt, weiter nach links auszuweichen. Wenn die vor dem Beschwerdeführer
liegende Strecke frei war und er sie genügend weit übersehen konnte,
durfte er zum Kreuzen des Fussgängers die linke Hälfte der Fahrbahn
mitbeanspruchen. Waren dagegen diese Voraussetzungen nicht erfüllt,
so hätte er mit dem Kreuzen zuwarten müssen, bis sie erfüllt waren.

    Der Beschwerdeführer hat demnach die ihm nach Art. 25 Abs. 1 Satz 3
MFG obliegende Pflicht verletzt, beim Kreuzen einen angemessenen Abstand
einzuhalten. Damit hat er eine Ursache des Zusammenstosses, die den Tod des
Fussgängers zur Folge hatte, gesetzt und den öffentlichen Verkehr gestört.
Wäre er angemessen nach links ausgewichen, so wäre er mit Roos nicht
zusammengestossen. Er selber bestreitet den Kausalzusammenhang an sich
nicht, sondern nur seine Rechtserheblichkeit, indem er geltend macht,
es sei nicht vorauszusehen gewesen, dass der Fussgänger plötzlich nach
rechts abschwenken werde. Allein, der rechtserhebliche Kausalzusammenhang
wird dadurch, dass auch noch ein anderer schuldhaft zum Erfolg beiträgt,
nicht unterbrochen (BGE 68 IV 19; 77 IV 188). Anders ist es nur, wenn
infolge des Verschuldens des Opfers (oder eines Dritten) die Ereignisse
eine Wendung nehmen, die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht hat
vorausgesehen werden können. Das trifft hier nicht zu; mit dem Abweichen
des Roos von der geraden Spur hat der Beschwerdeführer, wie schon gesagt,
rechnen müssen.

    Da die Störung des öffentlichen Verkehrs durch die Strafe wegen
fahrlässiger Tötung nicht abgegolten wird (BGE 76 IV 125 Erw. 3), ist
der Beschwerdeführer mit Recht sowohl nach Art. 117 StGB als auch nach
Art. 237 Ziff. 2 StGB bestraft worden.