Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 167



83 IV 167

46. Urteil des Kassationshofes vom 20. September 1957 i.S. Rietmann gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art.26Abs. 1 MFG. Wann darf "rechts" überholt werden?

Sachverhalt

    A.- Am Vormittag des 2. Oktober 1956 führte Gygax einen schweren
Lastwagen auf der geraden, über 9 m breiten Hauptstrasse von Dietikon in
westlicher Richtung, um vor Spreitenbach nach rechts in die spitzwinklig
abzweigende Zufahrtsstrasse der Betonwarenfabrik einzubiegen. Zu
diesem Zweck hielt er 50-60 m vor der Abzweigung mit nach links
gestelltem Richtungsanzeiger gegen die Strassenmitte und verlangsamte
die Geschwindigkeit. In der Annahme, der Lastwagen werde nach links
abschwenken, begann ihn Edith Rietmann mit einem "Renault- Heck", dessen
Geschwindigkeit 80 km/Std betrug, rechts zu überholen. Sie konnte den
Zusammenstoss mit dem nach rechts abbiegenden Lastwagen, dessen Führer
erst auf der Höhe der Fabrikeinfahrt den rechten Richtungsanzeiger stellte,
nicht mehr verhindern. Beide Fahrzeuge wurden leicht beschädigt.

    B.- Das Obergericht des Kantons Aargau erklärte am 24.  Mai 1957
Gygax der Widerhandlung gegen die Vorschriften über die Zeichengebung
(Art. 75 lit. b MFV), Edith Rietmann der Übertretung des Art. 26 Abs. 1
MFG schuldig und verurteilte beide zu einer vorzeitig löschbaren Busse von
je Fr. 40.-. Es warf Edith Rietmann vor, sie sei auf der falschen Seite
vorgefahren. Es gebe nur eine einzige Ausnahme, wo rechts überholt werden
dürfe, nämlich dann, wenn die Polizeibehörde durch Pfeilsignale auf dem
Boden eine sog. Vorsortierung des Innerortsverkehrs ausdrücklich anordne.

    C.- Edith Rietmann beantragt mit Nichtigkeitsbeschwerde, sie
sei freizusprechen. Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie sei zum
Rechtsüberholen berechtigt gewesen und habe nicht damit rechnen müssen,
dass der Lastwagen im letzten Augenblick nach rechts abbiege.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 26 Abs. 1 MFG verpflichtet den Motorfahrzeugführer, andere
Strassenbenützer links zu überholen. Das Gesetz stellt damit einen
allgemeinen Grundsatz auf, aber keine starre Regel, die ausnahmslos
befolgt werden muss. Es bestimmt in Art. 61 Abs. 3 MFV selber, dass
Strassenbahnen unter gewissen Voraussetzungen rechts zu überholen sind,
und desgleichen ist Rechtsüberholen nicht bloss erlaubt, sondern eine
Pflicht, wenn durch Fahrbahnmarkierung das Einspuren zum Zwecke der
Verkehrsteilung behördlich angeordnet wird. Entgegen der Ansicht des
Obergerichts hat sich das Prinzip des Vorsortierens auch auf Strassen, die
mit entsprechender Markierung nicht versehen sind, allgemein, jedenfalls
bei den Automobilisten, durchgesetzt (vgl. Botschaft des Bundesrates zum
Entwurf eines Bundesgesetzes über den Strassenverkehr vom 24. Juni 1955,
BBl 1955 II S. 33/34). Denn die Vorzüge, die frühzeitiges Einspuren vor
dem Linksabbiegen auf breiten Strassen hat, sind offenkundig; einerseits
vermindert es die Gefahr, dass das Vorhaben des Abschwenkens von den
Führern nachfolgender Fahrzeuge zu spät wahrgenommen wird oder dass es
im Falle von Gegenverkehr zu Stockungen führt, und anderseits wird der
Linksabbiegende weniger versucht, das Vortrittsrecht entgegenkommender
Fahrzeuge zu missachten, wenn er weiss, dass die in der gleichen Richtung
Fahrenden ungestört passieren können. Soll aber das Einspuren seinen
Zweck, die Sicherheit und Flüssigkeit des modernen Verkehrs zu fördern,
erfüllen, so muss in solchen Fällen das Rechtsüberholen gestattet sein,
vorausgesetzt, dass es mit der nach den Umständen geforderten Vorsicht
durchgeführt wird. Dass es auch abgesehen von Notfällen Situationen geben
kann, in denen von der gesetzlichen Regel des Linksüberholens abgewichen
werden darf, nämlich dann, wenn ihre Befolgung unmöglich ist und der zu
Überholende unmissverständlich sein Einverständnis zum Rechtsüberholen
gibt, hat schon die bisherige Rechtsprechung anerkannt (BGE 47 II 405, 79
II 217, unveröffentlichte Urteile des Kassationshofes vom 2. Dezember 1950
i.S. Frey, 11. Januar 1951 i.S. Baumann, 20. Januar 1956 i.S. Buscher).

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall war es unvorsichtig, aus dem Einspuren
des Lastwagens in die Strassenmitte und aus dem nach links gestellten
Richtungsanzeiger zu schliessen, dass Gygax nach links abbiegen
werde. Gewiss hätte Gygax den rechten Richtungsanzeiger sofort nach
dem Verlassen der rechten Fahrbahn und nicht erst vor dem Abschwenken
nach rechts stellen sollen. Seine Fahrweise war jedoch nicht derartig
eindeutig, dass der von der Beschwerdeführerin gezogene Schluss sich
als der einzig mögliche aufdrängte. Da der Lastwagen auf eine Strecke
von 50-60 m auf der Strassenmitte blieb, obschon kein Gegenverkehr das
Linksabbiegen behinderte, und seine Geschwindigkeit vor der Abzweigung
zur Betonwarenfabrik sich zusehends verminderte, war die Möglichkeit,
dass er nach rechts abschwenken könnte, keineswegs ausgeschlossen; dies
um so weniger, als nach dem Situationsplan, den die Beschwerdeführerin
als richtig anerkannt hat, in unmittelbarer Nähe keine Strasse von links
einmündet. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, dass vor ihr fahrende
Fahrzeuge den Lastwagen rechts überholt hätten, findet in den Akten
keine Stütze. Unter diesen Umständen hätte die Beschwerdeführerin die
Fahrt verlangsamen und die Abklärung der unsichern Lage abwarten müssen,
bevor sie überholte. Jedenfalls war das Rechtsüberholen unzulässig und
hat die Beschwerdeführerin damit Art. 26 Abs. 1 MFG verletzt.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.