Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 IV 152



83 IV 152

41. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 20. September 1957
i.S. Vogel gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn. Regeste

    Art. 185 StGB. Wann ist ein Kind "entführt"?

Sachverhalt

    Vogel traf am 13. Januar 1957 zwischen 15 und 16 Uhr einige
Kinder, die am Schmelzirain im nördlichen Aussenquartier von Grenchen
schlittelten. Nachdem ein 13-jähriges Mädchen es abgelehnt hatte, ihn
zum abgelegenen Restaurant Kappeli zu begleiten, erklärte sich die acht
Jahre alte Elisabeth Emch dazu bereit. Vogel nahm das Mädchen bei der Hand
und führte es in nördlicher Richtung in den verschneiten Bergwald. Er gab
sich als Doktor aus, versprach dem Kind eine Tasse Tee und später, als er
dessen Wünsche erfahren hatte, ein Pony. Nach ungefähr 700 m setzte sich
Vogel an den Rand eines durch dichtes Unterholz führenden Seitenpfades,
nahm das Mädchen auf seine Knie und gab ihm in geschlechtlicher Erregung
einen Kuss. Kurz darauf erschien der Vater des Kindes, der vom Weggang
seiner Tochter Kenntnis erhalten hatte.

    Das Obergericht des Kantons Solothurn verurteilte Vogel unter
anderem wegen Entführung eines Kindes gemäss Art. 185 Abs. 2 StGB. Der
Kassationshof hebt das Urteil in diesem Punkt auf und weist die Sache
zur Freisprechung zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

    Nach Art. 185 StGB macht sich strafbar, wer ein Kind unter 16 Jahren
entführt, um aus dem Kind Gewinn zu ziehen oder um ein Lösegeld zu erlangen
(Abs. 1) oder um es zur Unzucht zu missbrauchen oder missbrauchen zu lassen
(Abs. 2).

    Entgegen der Auffassung des Obergerichts setzt diese Bestimmung
nicht wie Art. 183 StGB voraus, dass der Täter das Opfer mit Gewalt,
List oder Drohung wegführt. Auf den Willen des Kindes kommt nichts an;
das Gesetz schützt es unabhängig davon, ob es Widerstand leistet oder ob
es in die Entführung einwilligt. Schon blosse Überredung genügt.

    Die Entführungshandlung besteht darin, dass das Kind an einen Ort
geführt wird, wo es sich in der Gewalt des Täters befindet. Nicht notwendig
ist, dass der neue Aufenthaltsort vom alten weit entfernt sei; sie können
innerhalb der gleichen Ortschaft liegen. Dagegen erfordert der Begriff der
Entführung, dass die Ortsveränderung für eine gewisse Dauer vorgesehen und
dass das Kind in seiner persönlichen Freiheit tatsächlich beschränkt ist,
es insbesondere nicht die Möglichkeit hat, unabhängig vom Willen des Täters
an seinen gewohnten Aufenthaltsort zurückzukehren. Dass eine Entziehung
von nur kurzer Dauer oder eine unbedeutende Freiheitsbeschränkung der
Bestimmung des Art. 185 StGB nicht untersteht, ergibt sich auch aus
deren Strafandrohung, die auf Gefängnis nicht unter sechs Monaten bzw. auf
Zuchthaus nicht unter drei Jahren lautet.

    Der Beschwerdeführer hat Elisabeth Emch bloss zu einem kurzen
Spaziergang veranlasst, aber keine Anstalten getroffen, damit das Mädchen
den bisherigen Aufenthaltsort bei ihren Eltern aufgebe und sich an einem
andern Ort aufhalte. Dass der Wille des Beschwerdeführers auf dieses Ziel
gerichtet gewesen sei, ist nicht nachgewiesen. Es ist nicht festgestellt
und auch nicht aus den Umständen zu schliessen, dass der Beschwerdeführer,
wenn er nicht gestört worden wäre, den Spaziergang über den Nachmittag
hinaus fortgesetzt und das Mädchen festgehalten hätte, um es an der
Rückkehr nach Hause zu hindern. Es liegt weder eine vollendete noch
versuchte Entführungshandlung im Sinne des Art. 185 StGB vor.